Kapitel 2
Auswirkungen des Messie-Syndroms
Im vorigen Kapitel haben Sie von den verschiedenen Ausprägungen des Messie-Syndroms erfahren. In diesem Kapitel stellen wir uns nun die Frage: »Welche Auswirkungen hat das Messie-Syndrom auf den Menschen?« Denn die Symptome des Messie-Syndroms beziehen sich ja auf weit mehr als die reine Anhäufung von Gegenständen innerhalb einer Wohnung.
Vielfach müssen Messies die Erfahrung machen, dass sie von ihrer Umgebung in einer einseitigen und voreingenommenen Art und Weise wahrgenommen werden: Der Fokus liegt auf den Gegenständen, mit denen sie sich umgeben. Nur wenige Außenstehende nehmen hinter der zugestellten Wohnung, der Vermüllung bzw. der Verwahrlosung den Menschen an sich wahr. Nicht das Leid dieser Menschen wird gesehen, sondern die Unannehmlichkeiten, die ihre Symptome für andere bedeuten.
Oft steht nicht der Messie als Mensch im Vordergrund, sondern seine Symptomatik, die umgehend kritisiert und negativ bewertet wird.
Ich möchte in diesem Kapitel aber auch auf andere Personengruppen die Aufmerksamkeit lenken, deren Leidensweg oft übersehen wird. Ich spreche von jenen Menschen, die zwar nicht selbst vom Messie-Syndrom betroffen sind, aber mit Messies zu tun haben:
Verwandte, Freunde und Bekannte, die mit ansehen müssen, wie sich der Messie immer weiter von einem gesellschaftlich herkömmlichen Leben entfernt.
Menschen, die von Berufs wegen regelmäßig mit Messies in Kontakt kommen: Sozialarbeiter, Ärzte, Mitarbeiter von Pflegediensten, Entrümplungsdienstleister usw.
Und dann sind da noch jene, die ganz unerwartet in eine Situation geraten, in der sie sich mit desorganisierten Menschen auseinandersetzen müssen: Handwerker, Berufskollegen eines Messies, die einen Besuch machen, usw.
Alle miteinander sind meiner Erfahrung nach den Situationen, auf die sie im Umgang mit einem Messie stoßen, mehr oder weniger hilflos ausgesetzt.
Zwei Geschwister, die einander sehr zugetan sind, wohnen eine Autostunde auseinander. Alle paar Wochen treffen sie sich und genießen einen gemeinsamen Abend. Der Bruder kam zu mir in die Beratung: »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.« Jahrelang war er nicht in der Wohnung seiner jüngeren Schwester gewesen, weil sie sich entweder gleich im Kino oder Theater trafen oder die Schwester schon unten auf dem Bürgersteig wartete. Doch nun hatte er die Wohnung betreten und war fassungslos: überall Wäschestapel, teilweise bis unter die Decke! In seinem ersten Schreck sagte er: »Ach du lieber Gott! Hier müssen wir aufräumen!« Doch die Schwester wehrte sich vehement: »Nein, das will ich nicht. Du bist nicht mein Aufräumdienst. Lass uns wie geplant ins Theater gehen.«
In der folgenden Zeit fragte der junge Mann immer wieder am Telefon: »Wie sieht es in der Wohnung aus? Hast du schon was geschafft?« Doch die Schwester blockte ab, fühlte sich bevormundet und unter Druck gesetzt. Beide Seiten waren völlig verzweifelt.
Beide, Bruder und Schwester, haben Schwierigkeiten, Grenzen zu setzen und Grenzen zu akzeptieren. Sie sind in ihren Verhaltensmustern gefangen:
Die Messies selbst können aus ihrer Haut nicht heraus. Sie können nicht anders, als weiter Dinge zu horten. Vor allem die Messies mit Wertbeimessungsstörung erbringen in dem Bemühen, den Schein zu wahren, Höchstleistungen. Meine Klienten schaffen es zum Beispiel, trotz ihrer problematischen Wohnsituation im äußeren Erscheinungsbild wie aus dem Ei gepellt zu mir in die Therapiestunde zu kommen – ich habe die größte Hochachtung vor dieser Leistung.
Trotz ihrer Lebensleistung sehen sie sich, sobald die Wohnsituation bekannt wird, missverstanden und von gut gemeinter Hilfe überwältigt. Manchmal werden vom Umfeld sogar Beziehungen gekappt, zum Beispiel, wenn Enkelkinder nicht mehr zum Großvater mit Messie-Symptomatik mitgenommen werden.
Die Familienangehörigen und Fachkräfte wissen sich oft nicht anders zu helfen, als zu kritisieren und evtl. sogar heimlich Dinge wegzuwerfen. Da es bislang kaum Anlaufstellen gibt, die sich dem Messie-Problem professionell und erfolgreich widmen und ihnen guten Rat geben können, fühlen sie sich der Situation ausgeliefert. Durch ihren fehlgeleiteten guten Willen (»Komm, ich habe große Säcke mitgebracht, die machen wir jetzt mal voll!«), durch ausgeübten Druck (»Wann räumst du endlich auf?«) oder gar durch Nacht-und-Nebel-Aktionen verstärken sie nur das Misstrauen der Messies und erzielen so kontraproduktive Ergebnisse.
Nicht nur die Messies brauchen Verständnis und Unterstützung, sondern auch Menschen, die mit Messies in Kontakt sind.
Beide Seiten reagieren mit Ablehnung: der Außenstehende, weil er nicht nachvollziehen kann, was den Messie zu seinem Handeln treibt, aber auch der Messie, der Hilfsangeboten in der Regel sehr abweisend gegenübersteht. Um Verständnis füreinander zu wecken und den Weg frei zu machen für einen wertschätzenden Dialog, will ich im Folgenden auf die Konsequenzen des Messie-Syndroms für beide Personengruppen eingehen: für die Betroffenen selbst und auch für die Menschen, die mit Messies zu tun haben.
2.1 Auswirkungen des Messie-Syndroms auf den Betroffenen selbst
Die Lebensqualität eines Messies ist zweifellos eingeschränkt. Die Symptome im häuslichen Bereich sind bekannt:
Papierberge und andere Gegenstände stapeln sich, sodass die Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt ist und die Haushaltsführung eine permanente Überforderung darstellt.
Was dringend gebraucht wird, wird nicht gefunden.
Manche Räume können überhaupt nicht mehr bewohnt werden, weil sie als »Lager« dienen.
Die Wohnung von Grund auf zu putzen ist unmöglich, da überall Dinge herumliegen.
Im Fall der Vermüllung und Verwahrlosung kommen auch noch Feuchtigkeit, Geruchsbildung und Schädlingsbefall hinzu, sodass die Gesundheit in Gefahr ist und es zu Selbst- und Fremdgefährdung kommen kann.
Doch die Einschränkungen, die Messies jeden Tag erfahren, gehen weit über diese Störungen des häuslichen Lebens hinaus. Auch ihr soziales Leben leidet (→ Kap. 2.1.1), darüber hinaus wirkt das Messie-Syndrom bis in den emotionalen (→ Kap. 2.1.2) und den psychosomatischen Bereich (→ Kap. 2.1.3) der Betroffenen hinein.
2.1.1 Auswirkungen auf der Beziehungsebene
Am stärksten wirkt sich die Problematik der Messies in ihrem sozialen Bereich aus. Ihre auffällige Wohnsituation stößt alte Freunde und Bekannte ab, aber auch das Kennenlernen neuer Freunde wird erschwert.
Die Klienten, die aufgrund ihres Messie-Syndroms meine Praxis aufsuchen, haben meist das tiefe Bedürfnis, andere Menschen – wieder – zu sich einzuladen, doch es ist für sie kaum möglich, den Besuch, zum Beispiel eines Freundes oder Kollegen, bei sich daheim in entspannter Atmosphäre zu genießen. Denn sobald Außenstehende Einblick in seine Wohnsituation bekommen, wird fast immer Kritik laut. Messies müssen die Erfahrung machen, dass Besucher sich
Durch diese Übergriffigkeit werden die Messies mit jedem Besuch aufs Neue mit ihrer Problematik konfrontiert. Ihre Reaktion sind Scham, Abwehr und die Vermeidung solcher Situationen. Unliebsamer Besuch wird nicht mehr eingeladen. So verhindern sie zwar weitere Auseinandersetzungen, doch ihr soziales Netz wird immer brüchiger.
Eine Klientin berichtete mir, dass sie nur noch ausgewählte Leute in ihre Wohnung hineinlässt. Sie hatte lange Zeit die Augen davor verschlossen, dass die Massen an Gegenständen, die...