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Streifzüge durch die Computerkultur

AutorStefan Betschon
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783038103103
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,50 EUR
Zwischen 2007 und 2017 wandelte sich das Internet grundlegend vom allseits beklatschten Web 2.0 zum gefürchteten Web 3.0. Stefan Betschon analysiert mit sprachlicher Brillanz diese entscheidende Phase der neueren Technikgeschichte. In kurzen, prägnanten Kolumnen gelingt es ihm, schlaglichtartig die Knotenpunkte der technischen Entwicklung hervortreten zu lassen. Dabei hält er Ausschau nach den grösseren Zusammenhängen und nach längerfristig wirksamen Trends. Das Buch ist ein Plädoyer für eine digitale Aufklärung und für den Austritt der User aus ihrer
Unmündigkeit.

Stefan Betschon (* 1959) studierte Geschichte, Computerlinguistik und Publizistik an der Universität Zürich. Beruflich war er als freier Journalist sowie als Software-Instruktor und -Entwickler tätig. Seit 1992 ist er Redaktor bei «Computerworld Schweiz» und bei der NZZ seit 1998 für den Bereich «Medien und Informatik» mitverantwortlich. 2008 erhielt er den Medienpreis «Eugen» der Universität Freiburg.

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Leseprobe

Was die Zukunft bringt


Es wird alles immer besser: Das mooresche Gesetz, das die Entwicklungsperspektiven der Halbleitertechnik beschreibt, verbreitet Zukunftsoptimismus.


Die Zukunft ist nicht mehr, was sie auch schon war. Einst zeigte sie sich als junge Braut, schön geschmückt, hoffnungsfroh ins Helle, Weite voranschreitend. Jetzt ist der Ausblick neblig, trüb.

Das Bild mit der Braut stammt aus dem Buch Eine kurze Geschichte der Zukunft (2007) von Oona Strathern. Es gibt rund ein Dutzend neuere Bücher, die im Titel «Geschichte» und «Zukunft» zusammenbringen, um durch ein Paradox anzudeuten, dass mit dem Lauf der Zeit etwas nicht mehr stimmt, dass – wie die Ägyptologin Aleida Assmann im Titel eines einschlägigen Buchs (2013) postuliert – die «Zeit aus den Fugen» geraten ist. Es verbreitet sich das Gefühl, aus der Zeit gefallen zu sein. Auf das «Ende der Geschichte» folgt das «Ende der Zukunft».

Als schöne Braut, so schreibt Strathern, zeigte sich die Zukunft den Menschen der 1950er- und 1960er-Jahre. Das war die grosse Zeit der Futurologie. Die Naturwissenschaft hatte mit lauten Explosionen den Krieg beendet und versprach nun in Friedenszeiten einen raschen Aufschwung, tief greifende Veränderungen im Leben der Menschen, die sich, so glaubte man, wissenschaftlich – futurologisch – antizipieren liessen. Unter den Begründern der Futurologie finden sich viele jüdische Intellektuelle – Ossip Flechtheim, Peter Drucker –, die in den 1930er-Jahren aus Deutschland oder Österreich in die USA geflohen waren. Der Engel der Geschichte, den Walter Benjamin kurz vor seinem Tod auf der Flucht vor den Nazis beschrieb als eine Gestalt, die mit grossen Augen die Vergangenheit betrachtend rückwärts in die Zukunft stolpert, dieser Engel konnte wohl zu Beginn der 1940er-Jahre nicht mehr aushalten, was er sah. Er wandte sich um, richtete seinen Blick in die Zukunft.

Die Zukunft hat schon begonnen – unter diesem Titel berichtete der deutsche Journalist Robert Jungk kurz nach dem Zweiten Weltkrieg über die neuesten technischen Innovationen in den USA. Das überaus erfolgreiche Buch hat europäische Leser auf die aufkommende Informatik aufmerksam gemacht und auch auf die Futurologie, auf die Möglichkeit, die Zukunft systematisch zu erforschen. Jungk äusserte sich bewundernd über die Arbeit der Prognostiker, er zeigte sich beeindruckt von ihren «Beschleunigungskurven» und «Zukunftsparabeln».

Diese «Beschleunigungskurven» sind eine zentrale Denkfigur der Futurologie. Alvin Toffler entdeckt in seinem Bestseller Future Shock (1970) eine Beschleunigungskurve, als er Fortschritte im Transportwesen anschaut. Dann schreibt er: «Ob wir Reisedistanzen betrachten oder die erreichte Höhe, die Gewinnung von Mineralien oder den Einsatz von Sprengstoff – stets zeigt sich derselbe Trend zur Beschleunigung. Dieses Muster, hier und in tausend anderen statistischen Datenreihen, ist vollständig klar und unmissverständlich. Jahrtausende oder Jahrhunderte gehen vorbei und dann, in unserer Zeit, eine plötzliche Grenzüberschreitung, ein phantastischer Sprung nach vorne.»

Eine wilde Wette

Beschleunigungskurven überall. Es erregte deshalb kein Aufsehen, als zu Beginn der 1960er-Jahre ein junger Chemiker in Aufsätzen über die Zukunft der Halbleitertechnik ebenfalls auf die Beschleunigungskurve zurückgriff. Der Chemiker hiess Gordon Moore, er arbeitete für die kalifornische Firma Fairchild Semiconductor Corp. Später wurde Moore als Mitbegründer und CEO von Intel reich und berühmt.

Diese Beschleunigungskurve – das mooresche Gesetz – beherrscht seit Jahrzehnten das Nachdenken über Technik. Brian Krzanich, heute CEO von Intel, pflegt das mooresche Gesetz als «driving force», als Triebkraft der Computerbranche, zu bezeichnen. In einer Medienmitteilung schreibt Intel, dass das mooresche Gesetz als «eine der wichtigsten ökonomischen Theorien des 20. Jahrhunderts» anerkannt worden sei. Dieses Gesetz, so die weitverbreitete Meinung, ist der Taktgeber für technischen Fortschritt auf allen Gebieten.

Es hat sich herumgesprochen, dass das mooresche Gesetz kein Gesetz ist im naturwissenschaftlichen Sinn. Es sei, so heisst es auf Wikipedia, eine «Faustregel», die sich auf «empirische Beobachtung» stütze. Doch das mooresche Gesetz war anfänglich reine Spekulation, eine wilde Wette. Der erste integrierte Schaltkreis wurde 1959 zum Patent angemeldet. Als Moore sich zu Beginn der 1960er-Jahre daranmachte, über die Zukunftschancen der integrierten Halbleiter-Elektronik auf Silizium-Basis nachzudenken, gab es kaum Erfahrungswerte.

Ein Grossteil aller in den USA produzierten integrierten Schaltungen (IC) wurde zu Beginn der 1960er-Jahre an die NASA geliefert. Bei der Entwicklung eines Raumschiffs, das einen Menschen auf den Mond bringen könnte, schien den verantwortlichen Ingenieuren bei der amerikanischen Raumfahrtbehörde kein Preis zu teuer, kein Risiko zu gross. Deshalb setzten NASA-Ingenieure auf IC, obwohl fast alle Fachleute davon abrieten. Einer dieser Ingenieure – Eldon Hall – berichtet in einem Buch über den Apollo-Bordcomputer, wie er seine Vorgesetzten 1962 überzeugen konnte, IC einzusetzen. Er rühmte die Zuverlässigkeit dieser Halbleiterprodukte und behauptete, dass die hohen Kosten bald kein Gegenargument mehr darstellen würden. Er präsentierte eine Grafik zur Preisentwicklung der IC, die einen raschen Zerfall der Preise erwarten liess, eine Entwicklung, die man heute mit dem mooreschen Gesetz in Verbindung bringt.

Gordon Moore hat in mehreren Aufsätzen seine Vorstellungen vom Fortschritt der Halbleitertechnik publiziert. Es gibt nicht ein mooresches Gesetz, sondern mehrere.

Es wird jetzt so oft auf das mooresche Gesetz verwiesen, dass man sich wundert, wie wenig über dieses Gesetz bekannt ist. Das beginnt schon beim Namen: Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wer wann die von Moore in den 1960er- und 1970er-Jahren publizierten Beschleunigungskurven erstmals als «mooresches Gesetz» bezeichnet hat. Moore hat ab 1963 in mehreren Aufsätzen oder Buchbeiträgen seine Vorstellungen vom Fortschritt der Halbleitertechnik publiziert. Es gibt nicht ein mooresches Gesetz, sondern mehrere.

Nachdem er bereits 1963 bei den Halbleiterchips eine rasche Steigerung der Komplexität prognostizierte, unternahm er es 1965, diese Steigerung zu quantifizieren. Unter dem Titel «The Future of Integrated Electronics» überliess er seine Überlegungen der Fachzeitschrift Electronics, die den Beitrag unter dem Titel «Cramming More Components onto Integrated Circuits» publizierte. Moore interessierte sich nicht für die maximal mögliche, sondern für die betriebswirtschaftlich sinnvolle Komplexitätssteigerung. Diese Komplexität habe sich «ungefähr» um den Faktor zwei pro Jahr erhöht. Zehn Jahre später, im Aufsatz «Progress in Digital Integrated Electronics», geht es ihm um die maximale Anzahl der Komponenten auf einem Chip. Diese soll sich alle zwei Jahre verdoppeln. In vielen Zeitungsartikeln, Aufsätzen und Büchern wird für die Verdoppelung eine Zeitspanne von 18 Monaten angegeben. Diese Version des mooreschen Gesetzes findet sich auch in Texten von prominenten Autoren – Eric Schmidt im Buch Die Vernetzung der Welt: Ein Blick in unsere Zukunft – oder in Studien von seriösen Organisationen: Europäische Kommission, Weltbank.

Wenn vom mooreschen Gesetz die Rede ist, kann alles Mögliche gemeint sein: Bald geht es um Mikroprozessoren, bald um Speicherchips, dann um Elektronik im Allgemeinen: Batterien, 3-D-Drucker. Manchmal ist die Verdoppelung der Leistung gemeint, ein anderes Mal die Halbierung der Kosten. Einmal werden Dollars gezählt, dann Gigahertz, Recheninstruktionen pro Sekunde, Transistoren, Nanometer.

Weil nicht klar ist, welcher Parameter sich verändert, kann es nicht verwundern, dass sich kaum jemand die Mühe gemacht hat, nachzuprüfen, ob das mooresche Gesetz tatsächlich hält, was es verspricht. 2002 trug der finnische Technikhistoriker Ilkka Tuomi Daten zusammen, die die Entwicklung der Rechenleistung, der PC-Preise und der Anzahl der Transistoren von Intel-Prozessoren dokumentieren. Er fand wenig Regelmässigkeiten, anstelle von Beschleunigungskurven zeigen sich Zickzacklinien. Fazit: «Es gibt für das mooresche Gesetz wenig empirische Evidenz. Die Halbleitertechnik hat sich nicht gemäss den Voraussagen des mooreschen Gesetzes entwickelt.» Die Zunahme der Geschwindigkeit sei langsamer als erwartet, Voraussagen über die zukünftige Leistungsfähigkeit von Computern auf der Basis des mooreschen Gesetzes seien «ungültig». Das mooresche Gesetz, so Tuomi, sei ein moderner Mythos.

Es ist unklar, was das mooresche Gesetz genau besagt. Meist ist gemeint: Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten, die Computer werden schnel-ler, die Welt wird besser.

Vor einer Zeitenwende

Die Futurologie der 1950er-Jahre ist verschwunden, sie ist aus der Mode gekommen wie Schlaghosen auf Plateausohlen. Die Futurologie ist zerbrochen an inneren Flügelkämpfen zwischen einer szientistischen und einer emanzipatorischen Richtung, die – angeführt von Jungk – die Zukunft nicht nur voraussagen, sondern auch gestalten wollte. Die Futurologie ist zerbrochen auch an der Wirklichkeit, die sich – Stichwort: Wende 1989 – ganz anders entwickelt hat als prognostiziert. Die Futurologie ist Vergangenheit, aber in Form des mooreschen Gesetzes hat sich die zentrale Denkfigur, die Beschleunigungskurve, in den Köpfen der Menschen erhalten.

Das mooresche Gesetz sei ein Mythos, sagt Tuomi. Dieser Mythos ist aber überaus wirkungsmächtig, er hat im Umgang mit Technik einem «rationalen Optimismus» zur...

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