Einleitung
Selbst Literaturkennern ist heutzutage kaum mehr bewusst, dass es bereits lange vor der Goethezeit eine erste große Epoche der deutschen Literatur gab: die der mittelalterlichen Dichtung um 1200. Damals wurde im Nibelungenlied ein jahrhundertelang mündlich überlieferter Epenstoff dauerhaft verschriftlicht, schufen Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg und andere aufsehenerregende Romane von teilweise weltliterarischem Rang, wurde durch den Kürenberger, Friedrich von Hausen, Reinmar den Alten, Heinrich von Morungen, Walther von der Vogelweide, Neidhart und weitere Autoren Lyrik unterschiedlicher Art auf höchstem Niveau gedichtet. Lebensweltlich standen dahinter, in der Zeit der Könige und Kaiser aus dem Haus Hohenstaufen, der ökonomische und kulturelle Aufbruch seit dem 12. Jahrhundert und das Interesse der damaligen weltlichen Oberschicht, des Adels und der Fürsten. Diese gesellschaftliche Elite allein war in der Lage, die Existenz der Dichter und die aufwendige handschriftliche Weitergabe ihrer Werke auf teurem Pergament zu sichern – der Buchdruck, in dessen Folge sich allmählich auch so etwas wie ein literarischer Markt entwickeln konnte, wurde bekanntlich erst um 1450 erfunden. Den adligen und fürstlichen Interessenten bot die heute meist unter dem Begriff ›Höfische Literatur‹ zusammengefasste Dichtung Unterhaltung mit künstlerisch hohem Anspruch in der von ihnen gesprochenen Sprache, zugleich wurden ihnen Idealbilder, Muster höfisch-adligen Daseins, aber auch die mit dieser Existenz verbundenen vielfältigen Probleme, bisweilen auch Abgründe, vor Augen gestellt. Bezüge der Texte unterschiedlicher Autoren untereinander, kritische oder lobende Auseinandersetzungen mit Kollegen, schöpferische Rezeption der Texte durch spätere Dichter lassen auf ein intensives literarisches Leben schließen. Überliefert und gelesen wurden die Werke dieser Epoche bis zum Ende des Mittelalters um 1500.
Außerhalb der mit ihnen befassten Sparte des akademischen Betriebs, der germanistischen Mediävistik oder Altgermanistik, sind die Texte heute so gut wie unbekannt. Gymnasialer Schulstoff ist die mittelalterliche Literatur höchstens noch in Nacherzählungen des Nibelungenliedes und des Parzival, allenfalls lernen Schüler noch ein paar winzige Häppchen aus dem Bereich der Lyrik kennen. Auch Studierende der Germanistik sind auf diesem Gebiet nur sehr selten in größerem Umfang belesen, meist beschränkt ihre Kenntnis sich auch am Ende des Studiums auf die nur wenigen Texte, die in Seminaren oder Vorlesungen gründlicher behandelt wurden bzw. auf solche, die Examensstoff waren. Das sonstige gebildete Publikum kennt meist nicht mehr als ein paar Namen und Titel, das Nibelungenlied, Walther von der Vogelweide, vielleicht Wolfram von Eschenbach. An außerdeutscher Literatur des Mittelalters sind höchstens (ebenfalls meist nur dem Namen nach) Dantes Commedia divina und vielleicht Boccaccios Decamerone bekannt, so gut wie gar nicht die im Mittelalter lange Zeit maßstabsetzende altfranzösische Literatur. Eher noch geläufig sind Namen antiker Autoren wie Homer, Sophokles, Vergil, Ovid.
Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Leserinnen und Leser, nicht zuletzt auch an Studierende, die interessiert daran sind, ihren literarischen Horizont zu erweitern. Ich möchte sie durch einführende Essays in die wichtigsten Texte davon überzeugen, dass es möglich ist und sich lohnt, auf Forschungsreise in den (außer von wenigen Experten) kaum begangenen, daher weitgehend unbekannten Kontinent der deutschen Literatur des Mittelalters zu gehen. Und ich verspreche ihnen, dass es bei dieser Expedition viel Interessantes, Aufregendes, Überraschendes zu entdecken gibt, auch viele Texte, in denen Fragen verhandelt werden, die das eigene, heutige Leben noch immer betreffen. Die offene Titelformulierung Mittelalterliche Literatur lesen verzichtet bewusst auf ein die Satzart festlegendes Satzzeichen. Man kann sie als Fragesatz auffassen: Lohnt es sich, mittelalterliche Literatur zu lesen? Die Frage ist meiner Ansicht nach unbedingt zu bejahen. Oder als Aufforderungssatz: Lesen Sie mittelalterliche Literatur! Tun Sie es, es winkt reicher Ertrag!
Vorgestellt werden in den Kapiteln I–X in ungefährer chronologischer Reihenfolge erzählende Texte, das Nibelungenlied als bedeutendster heldenepischer Text, ferner Romane, sogenannte ›Höfische Romane‹, unterschiedlicher Art, in einem Kapitel auch kürzere Erzählungen; dazu kommen unterschiedliche lyrische Texte. In den Kapiteln XI–XIII würdige ich, gewissermaßen als Zugabe, drei herausragende Autoren der Zeit um 1400. Die Essays möchten zu eigener Lektüre anregen, sozusagen Appetit machen. Dabei gehe ich unterschiedlich vor. In den Essays über lyrische Dichtungen erläutere ich exemplarisch vollständig übersetzte Texte: Sie sollen dazu inspirieren, weitere Dichtungen aus diesem Bereich kennenzulernen. Die Essays über die erzählenden Texte und den Ackermann versuchen, die teilweise umfangreichen Werke überschaubar zu machen, sie behandeln die wichtigsten Fragen, die einen bei der Lektüre vermutlich (neben anderen) beschäftigen können. Sämtliche Textzitate habe ich übersetzt. Gelesen werden können die Essays im Übrigen durchaus auch abweichend von der im Buch vorgegebenen Reihenfolge. Dabei bietet sich Gruppenbildung an, etwa Kapitel VI und VIII: die Romane Wolframs von Eschenbach; Kapitel I und VI: Artusromane; Kapitel IV, V, X, XII: Lyrik; Kapitel II, III und XI: Dichtungen mit ausgesprochen negativer Weltsicht; Kapitel XI–XIII: spätmittelalterliche Texte. Zum ersten Einstieg empfehlen kann man vielleicht besonders die Kapitel II und IX.
Heutigen Lesern kommen die vor weit mehr als einem halben Jahrtausend entstandenen Texte nicht nur durch ihre Sprache fremdartig vor. Die damalige Liebeslyrik basiert großenteils auf Vorstellungen und Konzepten, die uns merkwürdig erscheinen: im vorherrschenden Typ des Liebesliedes wirbt der Mann mit allem Aufwand um die Gunst einer Dame, die dennoch für ihn unerreichbar bleibt, die nach den Regeln des Spiels, das da gespielt wird, unerreichbar bleiben muss. Eher noch befremdlicher ist die in den epischen Werken dargestellte Welt. Sie handeln von Menschen und von kulturellen, politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnissen, die sich fundamental von den heutigen unterscheiden. Die Protagonisten gehören ausnahmslos dem Adel an, es sind Könige, Fürsten, Ritter und deren Damen. Nichtadlige begegnen dort, wo sie überhaupt vorkommen, als Randfiguren, sie erscheinen fast immer als Schurken oder werden lächerlich gemacht. Es gibt kaum Städte, größere schon gar nicht. Das Geschehen spielt sich vielfach im Wald, auf freien Flächen in der Landschaft und vor allem auf Burgen ab. Die männlichen Figuren und ihre Damen – die meist als viel schöner beschrieben werden als die Realität erlaubt – bewegen sich über größere Strecken fast ausnahmslos zu Pferd, selten zu Fuß, auf schlechten oder gar nicht vorhandenen Straßen und Wegen. Essgewohnheiten, Getränkearten, Bekleidung und Bewaffnung weichen fundamental vom heute Üblichen ab und bedürfen der Erläuterung. Fast alle auftretenden männlichen Figuren sind Kriegsleute, Ritter, die schwergepanzert und bewaffnet mit Lanze, Schwert und Schild meist zu Pferd kämpfen. Häufig spielen Turniere und höfische Feste eine Rolle, gelegentlich auch die Jagd, fast nie aber das, was man heute als Arbeitswelt bezeichnet. Wenn einmal ein Arzt gebraucht wird, hilft einer der Ritter aus, der ein bisschen was von der Heilkunst versteht, oder es treten Damen auf, die über Wundermittel verfügen. Berufe, mit denen ein heutiger Leser sich identifizieren könnte, begegnen so gut wie gar nicht.
Auch in Texten späterer, uns zeitlich näher stehender Epochen findet man freilich in der Regel eine fremde Welt vor, die der Erklärung bedarf. Die Gegebenheiten, in die uns Romandichter wie etwa Goethe, Dickens, Balzac, Tolstoi, Fontane, selbst Thomas Mann führen, sind längst nicht mehr die unseren, auch hier braucht man unbedingt Erläuterungen und Kommentare. Der Grund, weshalb wir Werke aus vergangenen Epochen – auch solche aus dem Mittelalter – noch immer lesen, ist schlicht der, dass große Texte künstlerisch stets so geformt sind, dass man bei der Lektüre auch heute noch Freude empfinden kann. Dazu kommt, dass es in ihnen um Probleme geht, die Menschen zu allen Zeiten, auch heute, betreffen, und darum, diese so weit wie möglich gedanklich zu bewältigen. Solche Probleme sind das Bemühen um ein sinnvolles Leben, sind Geburt, Sterben und Tod, Krieg und Frieden, sind die Beziehungen zwischen Mann und Frau, ist das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und seiner politischen und sozialen Umwelt, ist die mittlerweile weit über tausendjährige Auseinandersetzung zwischen Ost und West im Zeichen von Islam und Christentum, sind Vorstellungen von persönlicher Entwicklung oder Karriere mit allen Möglichkeiten des Aufstiegs, aber auch des Scheiterns, sind religiöse und ethische Fragen und manch anderes.
Die nur durch ein Germanistikstudium zu erwerbende Kenntnis des Mittelhochdeutschen, der Sprachstufe des Deutschen vom 11. bis zum 14. Jahrhundert, ist für die Lektüre mittelalterlicher Texte keineswegs zwingend notwendig. Man muss die Texte nicht im Original lesen, sowenig die meisten von uns altgriechische, lateinische, englische, französische oder russische Literatur im Original lesen. Es gibt zu allen Werken, die ich in diesem Buch vorstelle und zu deren Lektüre ich...