Neurowissenschaftliche Aspekte der Musiktherapie bei affektiven Störungen und bei Demenz
Jörg Fachner & Thomas Wosch
Zusammenfassung
Für die Musiktherapie affektiver Störungen und Demenz steht die Regulation bzw. Kontrolle von Emotionen im Mittelpunkt. Zu den Ergebnissen und Prozessen dieser Bearbeitung in der Musiktherapie liegen Wirkungsstudien, Untersuchungen zur Emotionswahrnehmung, neurowissenschaftliche und Biomarkerstudien vor. Im Fokus stehen dabei die Veränderung von Messwerten, von physiologischer Reaktion und Emotionswahrnehmung bei affektiven Störungen sowie die Arousal-Regulierung und Lernprozesse bei Demenz. Es werden anhand ausgewählter Studien insbesondere frontotemporale Aktivitäten bei affektiven Störungen und die kompensatorische Funktion intakter Regionen des Gehirns bei Demenz für die Regulation bzw. Kontrolle von Emotionen in der Musiktherapie diskutiert. Dabei scheint die Bearbeitung negativer Valenzproblematik diskreter Emotionen eine zentrale Rolle einzunehmen.
Abstract
Music Therapy in affective disorders and dementia reduces symptoms and modulates emotion and physiological processes. This is demonstrated in recent studies focusing on outcomes measures, physiological responses and emotion perception in depression and in arousal-regulation and learning abilities in dementia. Together with other neuroscientific perspectives arising from these studies the importance of frontotemporal activities in depression and comorbid anxiety, as well as functional compensation of non-degenerated brain regions in dementia are discussed. A central role in music therapy of affective disorders and dementia is treating negative valence of discrete emotions.
|8|1 Einleitung
In den letzten fünf Jahren hat die musiktherapeutische Forschung zur Musiktherapie bei affektiven Störungen und zur Musiktherapie bei Demenz wichtige neue Studien hervorgebracht. Diese werden im Folgenden in zwei Abschnitten vorgestellt und diskutiert. Im ersten Abschnitt sind dies Untersuchungen der Wirkung von Musiktherapie und Gehirnprozessen bei Depression zur depressiven Emotionswahrnehmung von Musik. Im zweiten Abschnitt sind es Untersuchungen zu Lernprozessen in der Musiktherapie bei Demenz sowie deren Wirkung auf Übererregung (Agitation). Hierbei geht es den Autoren nicht um eine weitere hinreichende Übersichtsarbeit, die beispielsweise zur Musiktherapie bei Depressionen bereits vorliegt (hier sei auf die im deutschsprachigen Raum erschienenen Arbeiten von Metzner (2014) sowie Metzner und Busch (2015) verwiesen) und auch keine Darstellung neuer empirischer Untersuchungen, sondern um eine fokussierte Darstellung von ausgewählten, richtungsweisenden Studien. Im ersten Abschnitt fokussieren wir uns dabei auf die Ergebnisse einer Depressionsstudie, die in Finnland durchgeführt wurde.
Den ausgewählten Studien ist eine evidenzbasierte Herangehensweise und ein zusätzlicher Einsatz von Biomarkern gemeinsam. Des Weiteren sind evidenzorientierte Studien im Fokus, in welchen quantitative Prozessanalysen von Musikwahrnehmung und Improvisation angestrebt werden. Evidenzorientiert meint hier, dass quantitative Untersuchungen zu Prozessfaktoren der Musiktherapie entwickelt und erprobt werden. Viele Musiktherapiestudien basieren auf primär qualitativen Einzelfallprozessanalysen, in welchen eine Patientengeschichte dargestellt und kontextualisiert wird (Aldridge, 2004; Geist & Hitchcock, 2014). Dies ermöglicht eine sukzessive Darstellung eines individuellen Veränderungsprozesses in der Therapie, in welcher u. a. Symbolik und individuelle Bedeutung, Emotion und Expressivität im Kontext einer musikpsychotherapeutischen Beziehung analysierbar und nachvollziehbar wird. Im ersten Abschnitt des vorliegenden Artikels interessieren nun Herangehensweisen, die solche klinischen Analyseprozesse mit quantitativen akustischen (Music Information Retrieval), psychometrischen und Biomarker-Daten korrelierbar machen. Anhand einer breit angelegten finnischen Depressionsstudie (Erkkilä et al., 2008, 2011, 2012; Fachner et al., 2010, 2013; Gold et al., 2013; Punkanen et al., 2011) wird deutlich, dass in einem primär quantitativ ausgerichteten Forschungsdesign einer randomisiert kontrollierten Studie individualisierte Behandlung und auch quantitative Analyse von Musik- und Psychotherapieprozessen möglich ist. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist im vorliegenden Fall, dass die beteiligten Therapeuten gemeinsam erarbeitete Standards einhalten.
Seit Mitte der 1990er-Jahre ist bekannt, dass Musiktherapie einen einzigartigen Zugang zu Demenzpatienten ermöglicht. Gegenwärtige neurowissenschaftliche Forschung zum musikalischen Gedächtnis bei Alzheimer- und Frontotemporaler Demenz (FTD)-Patienten (Baird & Samson, 2009; Jacobsen et al., 2015; Hsieh et al., 2011) zeigt, dass musikalische Erinnerungen in Regionen verarbeitet werden, die am wenigsten den Degenerationsprozessen unterliegen. Die von uns ausgewählten Musiktherapiestudien fokussieren auf Biomarker wie Herz|9|rate und frontale Symmetrie, um die biologischen Reaktionen zu analysieren. Die Auswahl der Musiktherapie bei Depression und der Musiktherapie bei Demenz für den vorliegenden Artikel geht auf drei Gemeinsamkeiten zurück. Die erste ist die Epidemiologie beider psychischer Störungen. Laut Bundesministerium für Gesundheit wird die Depression 2020 die weltweit zweithäufigste Volkskrankheit sein (BMG, 2015a). An Demenz sind ebenfalls nach diesem Bundesministerium aktuell 1,6 Millionen Menschen in Deutschland erkrankt (BMG, 2015b). Diese Zahl wird sich bis 2050 rasant auf das Doppelte steigern (BMG, 2015b). Die zweite Gemeinsamkeit ist die besondere Bedeutung von Emotion und der Emotionsregulation bei beiden Störungen, was im Folgenden weiter ausgeführt wird. Die dritte Gemeinsamkeit sind die zuvor genannten neurowissenschaftlichen Untersuchungen zur Musiktherapie bei Depression und zur Musiktherapie bei Demenz.
2 Wirkungsstudie zur Musiktherapie bei affektiven Störungen
Verschiedene randomisiert kontrollierte Studien haben Musiktherapie bei Depressionen untersucht. In einem Cochrane-Review wurden fünf Studien mit vergleichbarer Methodik ausgewählt (Maratos et al., 2008). Die Studien belegten, dass Musiktherapie von Menschen mit Depressionen angenommen wurde und Verbesserungen der Stimmung gemessen wurden. Drei der fünf Studien wurden mit älteren Menschen (Chen, 1992; Hanser & Thompson, 1994; Zerhusen et al., 1995), eine mit Jugendlichen und eine mit Erwachsenen von 18 bis 50 Jahren durchgeführt (Radulovic, 1996).
Eine Herausforderung der standardisierten Untersuchung von Musiktherapie im Rahmen einer randomisiert kontrollierten Studie (wie der von Erkkilä et al., 2011) ist, den Grad zwischen standardisierter und individualisierter Praxis zu balancieren. Das heißt, die individualisierte Behandlung im Sinne der klinischen Praxis und Anwendung einer Therapie zu wahren und zugleich ein kohärentes Behandlungsprofil seitens der behandelnden Therapeutengruppe zu verwirklichen (Erkkilä, 2007a; Metzner, 2014). Die sogenannte „treatment fidelity“ (i. S. v. gemeinsamer Genauigkeit, Vertrautheit und Akzentuierung der Behandlungsverfahren; Bellg et al., 2004) wurde in einem längeren Training der eingesetzten Therapeuten zur klinischen Methode, ihrer projektspezifischen Umsetzung und theoretischen Basis (therapeutische Beziehung, Gegen-/Übertragung, Interventionsauswahl, verbales Training, Therapievideoanalysen) sowie mit Supervision zur Umsetzung der klinischen Methode die notwendige Standardisierung geschaffen. Die Wahl der Therapieinstrumente wurde limitiert, nämlich auf zwei elektrische Vibrafone, zwei Drumpads und zwei Djemben. Alle Audio- und MIDI-Daten dieser Instrumente konnten zur Musikanalyse auf dem Computer gespeichert werden. Fünfzehn Monate vor Behandlungsbeginn startete die gemeinsame Vorbereitung und Entwicklung der genannten standardisierten Vorgehensweisen der involvierten zehn Musiktherapeuten. Das bedeutete, dass sie ihren Arbeits- und Denkstil an den Standard anpassten und sich u. U. in ein neues Setting eingewöhn|10|ten oder mit den Beschränkungen der Instrumentierung innerhalb der Musiktherapiesitzungen kreativ umgehen konnten. Als ein Ergebnis dieses Ansatzes wurde in einem Aufsatz der theoretische Rahmen dieses Stufenmodelles praktischer Kreativität in Therapieprozessen reflektiert (Erkkilä et al., 2012).
Die Wirkung dieses Musiktherapiemodells wurde in einer zweiarmigen Studie (1. Musiktherapie und Standardversorgung, 2. „nur“ Standardversorgung) mit psychometrischen Messinstrumenten und Biomarkern geprüft. Es...