Über den Mut aufzubrechen
Wir müssen unser Dasein so weit, als es irgend geht, annehmen;
alles, auch das Unerhörte, muß darin möglich sein.
Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns verlangt: mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten
und Unaufklärbarsten, das uns begegnen kann.
RainerMaria Rilke
In der Hitze der tropischen Nacht weckt mich ohrenbetäubender Lärm. Ein schrilles Kreischen durchbricht die Stille, lange bevor in dem thailändischen Grenzort die Morgendämmerung einsetzt. Unzählige Hähne krähen, als ginge es ihnen an die Kehle, als wäre es ihr letzter Schrei. Und das wäre mir nicht einmal unrecht. Im Lande Buddhas muss die Reinkarnationsrate von Hähnen wohl noch höher sein als jedes Thai-Chicken-Curry-Menüintervall, geht es mir durch den Kopf, während ich versuche, noch einmal einzuschlafen.
Im entlegenen Sangklaburi, zwischen dem weiten Vajiralongkorn-See und dem dichten Urwald Myanmars, erinnert wenig an meine Wohnung im Ruhrgebiet: Die karge Zimmereinrichtung beschränkt sich mit Matratze und Moskitonetz, Kleiderschrank und Ventilator auf das Notwendigste. Exotisch sind vor allem meine Mitbewohner, zahl- und namenlose Frösche, Salamander und Spinnen nebst einer ziemlich anstrengenden Katze. Minu hat zwar einen Namen, ansonsten aber lässt sie immer wieder die Frage aufkommen, ob die fernzuhaltenden Mäuse, denen sie ihre Wohnberechtigung verdankt, nicht angenehmere Gäste sind.
Mein Leben in Deutschland ließ eigentlich nichts missen, mein Zuhause war behaglich und zweifellos frei von verdächtigem Kleingetier. Ich schrieb an meiner Doktorarbeit und war als Notarzt und Intensivmediziner mit spannenden Fragen der Akutmedizin konfrontiert. Daneben genoss ich die Nähe meiner Freunde sowie das kulturelle Angebot des Ruhrgebiets. Wieso sollte ich etwas verändern? Mein Routinealltag erfüllte mich nicht mehr, und ich versuchte zu ergründen, inwieweit Ideale verschüttet waren, die meinem Medizinstudium zugrunde gelegen hatten. Schon immer hatte ich mich mit der Frage beschäftigt, was an der Schnittstelle zwischen Leben und Tod passiert, und ich konnte auf eine Reihe existentieller Begegnungen und Entscheidungen zurückblicken. Auch wenn ich nicht genau benennen konnte, wonach genau ich suchte, so war doch der Wunsch nach Veränderungen entstanden, nach größeren Herausforderungen, nach neuen Horizonten und unbekannten Fernen.
Ein guter Freund gab mir schließlich den entscheidenden Rat: »Bewirb dich doch bei Ärzte ohne Grenzen.«
Und das war’s! Während Famulaturen in Kenia und Lesotho war mir klargeworden, dass ich nur als ausgebildeter Arzt in strukturschwache Länder zurückkommen möchte. Nun schien es so weit zu sein.
Aber wann ist der richtige Zeitpunkt für einen Auslandseinsatz? Natürlich ist es dafür fast immer zu früh. Die Zweifel an meinen ärztlichen Fähigkeiten waren noch ebenso spürbar wie das Gefühl fehlender medizinischer Erfahrung. Gut, ein Tropenmedizinkurs könnte absolviert und der Facharzt abgeschlossen sein. Natürlich. Aber dann wäre es vielleicht auch schon zu spät. Familiäre oder berufliche Bindungen können die eigene Freiheit ebenso einschränken, wie ein zunehmend bequemer werdendes Leben die ursprünglichen Wünsche begräbt. Der Zeitpunkt war also genau richtig, und ich bewarb mich bei Ärzte ohne Grenzen.
Und wurde genommen. Ich kündigte meine unbefristete Arbeitsstelle und die Wohnung, meldete mein Auto ab und zog nach Berlin, wo ich meine Sachen in diversen Kellern verstaute, um dann auf einer kurzen Deutschlandreise Abschied zu nehmen von Familie und Freunden. Einen Tag nachdem ich meine Promotionsschrift eingereicht hatte, bestieg ich aufgeregt und vorfreudig im Oktober 2002 für meinen ersten Auslandseinsatz den Flieger nach Asien.
Meine Aufgabe: Als Projektarzt von Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières, im Folgenden MSF) sollte ich in den nächsten zehn Monaten die medizinische Grundversorgung der Mon im burmesischen Grenzgebiet mit gewährleisten.
Die Mon sind eine von vielen ethnischen Minderheiten in Myanmar, die im Dschungel in einfachsten Bambushütten ohne Strom- und Wasserversorgung leben. Mit ihnen hat die Militärregierung nach langen Unabhängigkeitskämpfen einen Waffenstillstandsvertrag ausgehandelt, unter Zubilligung relativer Autonomie. Das mag zunächst positiv klingen, es handelt sich aber um zweischneidige Vereinbarungen, weil die Mon dadurch weder nationale Unterstützung erfahren noch internationale Hilfeleistungen empfangen dürfen. Deshalb liegt unsere MSF-Basis im thailändischen Sangklaburi. Die zehn Vertriebenendörfer, in denen wir kleine Buschkliniken unterhalten, liegen hinter der Grenze im Urwald. Jetzt, am Ende der Regenzeit, sind lediglich drei von ihnen mit unserem extrem tauglichen Geländewagen zu erreichen, da die Berge und Schlammpisten auf dem Weg dorthin kaum passierbar sind.
Am frühen Morgen fahren wir in einem der hier üblichen schmalen Holzboote hinaus auf den noch nebligen, romantisch verzauberten See. Angetrieben von einem umfunktionierten Automotor, donnern sie mit uns durch die Morgenstille, als gelte es, uns und die Natur heute besonders nachdrücklich zu wecken.
Es ist der 26. Dezember und unser erster Besuch in Jao Deng, das von unserer Basis am weitesten entfernte Mon-Dorf. Die Sicherheitslage ist bedenklich, und wir haben nur einen Tag Zeit, um die Menschen dort medizinisch zu versorgen und den Wiederaufbau des Buschkrankenhauses vorzubereiten.
Mit dabei sind der Projektkoordinator Dorian, die medizinische Koordinatorin Miriam und drei unserer lokalen Mitarbeiter, geflüchtete Mon. Dorian kommt aus Australien und hat Politikwissenschaften studiert, was hilfreich ist, um die komplexen politisch-militärischen Verflechtungen im Grenzgebiet zu verstehen. Besonders wertvoll finde ich seinen klugen Verstand und trockenen Humor, auch für ihn ist es der erste Auslandseinsatz. Miriam ist eine ausgebildete Kinderärztin und hat bereits langjährige MSF-Erfahrung. Ihre Entscheidungssicherheit, nicht nur in medizinischen Fragen, schätze ich sehr. Unsere drei Mon-Kollegen sind aufgrund ihrer Natur- und Ortskenntnis, aber mehr noch wegen ihrer stoischen Ausdauer und freundlichen Hilfsbereitschaft überlebenswichtig für dieses Abenteuer.
Nach etwa anderthalb Stunden lassen wir die letzten Behausungen und Fischerboote hinter uns, und die Wasserwege werden immer schmaler. Schließlich münden sie in einen Flusslauf, und als auch dieser flacher wird, schlagen wir plötzlich auf einem Felsen auf. Damit ist die Fahrt zu Ende, mit anderen Transportmitteln ist kein Weiterkommen und wir müssen zu Fuß gehen. Mit einer Machete bahnen wir uns den Weg in die unberührte Einsamkeit. Viele Jahre hat sich keiner unserer Mitarbeiter mehr auf diese Route gewagt. Es ist heiß; den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht auf Schlangen zu treten, marschieren wir konzentriert durchs dichte Grün.
Als wir einen versteckten Militärstützpunkt erreichen, bin ich angespannt, lasse mir das aber nicht anmerken. Obwohl jeder weiß, wer wir sind und was wir machen, weist nichts auf MSF hin, bleiben alle unsere Hilfsleistungen anonym. Das ist notwendig, weil wir nicht offiziell in Myanmar arbeiten dürfen. Aber offensichtlich profitieren beide Seiten davon: die Thai, weil so keine kranken Mon über die Grenzen kommen, und Myanmars Militärs, weil sie eingesehen haben, dass die Mon sich eine Gesundheitsversorgung schlicht nicht leisten können. Damit sind wir das am schlechtesten gehütete Geheimnis dieser Gegend. Wir haben Glück und dürfen passieren – und wandern weiter. Um unbemerkt zu bleiben, meiden wir feste Wege und müssen viele Hindernisse überwinden: Sümpfe und Schilfwälder sind zu durchqueren, auf dem Pfad liegende Baumstämme zu übersteigen oder zu unterkriechen, Flussläufe müssen durchwatet und Schluchten umgangen werden. Die Vegetation ist in Fluss- und Seenähe prächtig, Orchideen wachsen hier, und im dichten, grünen Urwald erfreuen uns exotische Vögel und Schmetterlinge mit ihrer Farbenpracht.
Wann genau wir die Grenze übertreten, ist nicht auszumachen, aber unsere kundigen Mitarbeiter werden vorsichtiger. Denn in Myanmar sind die Felder und Berge vermint, hier kann nichts angebaut werden, und ein unbedachter Schritt kann furchtbare Konsequenzen haben.
Erschöpfung macht sich breit, immer wieder fragen wir unsere Kollegen, wie weit es noch ist. In gleichbleibender Freundlichkeit versichern sie uns, gleich sei es geschafft. Aber die Sonne brennt weiter vom Himmel.
Als sie sich nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich neigt, lassen wir uns an einer geschützten Uferstelle nieder. Der Fluss bildet hier einen kleinen See, und wir können im Schutz des dichten Urwaldes unser Nachtlager aufschlagen. Dafür befestigen wir unsere Hängematten an Baumstämmen, und ich würde nach zwölf Stunden Fußmarsch viel dafür geben, hier länger zu rasten.
Erst einmal nehme ich ein erfrischendes Bad im kristallklaren Wasser – wie gut das tut! Dabei beobachte ich die bunten Fische, die hier in der unberührten Natur arglos mit mir schwimmen.
Dann bereiten wir das Abendessen. Unser Proviant tagsüber bestand aus Hühnchenschenkeln und Sticky Rice mit Mango, weil beides gut zu transportieren ist. Jetzt beschränkt sich mein Beitrag auf das staunende Beobachten unserer jagdkundigen Mitarbeiter und dessen, was sie herbeischaffen und zubereiten: Aus gerade erst geschnitzten...