VORWORT
Es war eine kalte, schwarze Nacht, als meine Mutter und ich am 31. März 2007 das steile Felsufer des Jalu hinunterkletterten, der Nordkorea von China trennt. Über und unter uns waren Patrouillen, und alle hundert Meter standen auf beiden Seiten des Flusses Soldaten, die auf jeden schossen, der die Grenze zu überqueren versuchte. Wir wussten nicht, was uns bevorstand, aber wir wollten um jeden Preis ans andere Flussufer, denn drüben in China hatten wir zumindest eine Chance zu überleben.
Ich war dreizehn und wog siebenundzwanzig Kilo. Eine Woche zuvor hatte ich noch im Krankenhaus meiner Heimatstadt Hyesan gelegen mit einer heftigen Darminfektion, die die Ärzte irrtümlicherweise für eine Blinddarmentzündung gehalten hatten. Ich hatte immer noch starke Wundschmerzen und war von dem Eingriff so schwach, dass ich kaum gehen konnte.
Der junge nordkoreanische Schleuser, der uns über die Grenze brachte, hatte darauf bestanden, dass wir in der Nacht aufbrachen. Er hatte einigen Wachposten ein paar Scheine in die Hand gedrückt, damit sie wegschauten, doch alle Grenzsoldaten in der Gegend konnte er nicht bestechen. Wir mussten also sehr vorsichtig sein. Ich folgte ihm in der Dunkelheit, war aber so wacklig auf den Beinen, dass ich die Böschung auf dem Po hinunterrutschen musste und kleine Steinlawinen auslöste, die den Hang herabstürzten. Er drehte sich um und zischte mir wütend zu, ich solle nicht so viel Lärm machen. Doch es war zu spät. Schon sahen wir die Silhouette eines nordkoreanischen Soldaten, der vom Flussbett aus zu uns hinaufkletterte. Es schien keiner der bestochenen Grenzwächter zu sein.
»Zurück!«, rief der Mann. »Verschwindet!«
Unser Fluchthelfer kletterte zu ihm hinunter, und wir hörten, wie sie sich leise unterhielten. Anschließend kehrte er allein zurück.
»Los, weiter«, befahl er uns. »Beeilt euch!«
Es war Anfang Frühling, es wurde allmählich wärmer, sodass der zugefrorene Fluss an manchen Stellen bereits aufgetaut war. Dort, wo wir ihn überqueren wollten, war er schmal und das Wasser nicht allzu tief. Tagsüber war die Stelle vor der Sonne geschützt, das Eis war also noch fest genug, um unser Gewicht zu tragen – zumindest hofften wir es. Unser Helfer rief mit seinem Handy jemanden auf dem chinesischen Flussufer an, und dann zischte er leise: »Los!«
Er ging voraus, doch meine Füße rührten sich nicht vom Fleck. Wie gelähmt vor Angst klammerte ich mich an meine Mutter. Der Schleuser kehrte zu uns zurück, packte meine Hände und zerrte mich über das Eis. Als wir festen Boden unter den Füßen hatten, liefen wir schnell los und blieben erst wieder stehen, als wir außer Sichtweite der Grenzposten waren.
Das Flussufer war dunkel, doch die Lichter von Changbai auf der chinesischen Seite leuchteten hell vor uns. Ich drehte mich um und warf einen letzten Blick auf das Land, in dem ich geboren worden war. Die Stromversorgung war wie üblich unterbrochen, sodass ich nur den schwarzen leeren Horizont sah. Kurze Zeit später erreichten wir eine kleine Hütte am Rand einiger flacher unbestellter Felder, und erst da spürte ich, wie mir das Herz in der Brust pochte.
Als ich aus Nordkorea flüchtete, träumte ich nicht von der Freiheit. Ich wusste nicht einmal, was es bedeutete, frei zu sein. Ich wusste nur, dass wir sterben würden – an Hunger, an einer Krankheit oder den unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern –, wenn meine Familie in Nordkorea blieb. Der Hunger war unerträglich geworden: Für eine Schale Reis war ich bereit, mein Leben zu riskieren.
Doch unsere Reise bedeutete mehr als nur Überleben. Meine Mutter und ich waren auch auf der Suche nach meiner älteren Schwester Eunmi, die wenige Tage zuvor nach China geflohen war und von der wir seitdem nichts mehr gehört hatten. Wir hofften, dass sie auf der anderen Flussseite auf uns warten würde. Stattdessen empfing uns ein glatzköpfiger Chinese mittleren Alters. Der Mann war Koreaner, so wie viele Leute in dieser Gegend. Er sagte etwas zu meiner Mutter, dann führte er sie um das Gebäude herum. Von dort, wo ich wartete, hörte ich, wie sie ihn anflehte: »Aniyo! Aniyo!« Nein! Nein!
Da wusste ich, dass etwas Schreckliches im Gange war. Wir waren an einem schlimmen Ort angekommen, vielleicht noch schlimmer als der, den wir verlassen hatten.
Für zwei Dinge bin ich zutiefst dankbar: dass ich in Nordkorea geboren wurde und dass ich aus Nordkorea geflüchtet bin. Beides hat mich geprägt, und ich würde es niemals gegen ein gewöhnliches, beschauliches Leben eintauschen wollen. Doch zu dem Menschen, der ich heute bin, hat mich noch viel mehr gemacht.
Wie Zehntausende anderer Nordkoreaner kam ich nach meiner Flucht nach Südkorea, wo wir als Staatsbürger anerkannt werden, so als hätten eine unüberwindbare Grenze und ein fast siebzig Jahre alter Konflikt mit all seinen Spannungen uns niemals getrennt. Die Menschen im Norden und Süden haben dieselben ethnischen Wurzeln, und wir sprechen dieselbe Sprache – nur dass es im Norden keine Worte wie »Einkaufszentrum«, »Freiheit« oder gar »Liebe« gibt, jedenfalls nicht so, wie der Rest der Welt sie kennt. Die einzig wahre »Liebe«, die wir empfinden dürfen, ist die Vergötterung der Kims, einer Dynastie von Diktatoren, die seit drei Generationen über Nordkorea herrscht. Das Regime blockiert jegliche Informationen von außen, verbietet Videos oder Kinofilme und stört Radiosender. In Nordkorea gibt es weder das World Wide Web noch Wikipedia. Die einzigen Bücher sind voller Propaganda, die uns weismacht, dass wir im großartigsten Land der Erde leben, obgleich mindestens die Hälfte aller Nordkoreaner in extremer Armut dahinvegetiert und an chronischer Unterernährung leidet. Meine frühere Heimat nennt sich nicht einmal Nordkorea – sondern Choson, das wahre Korea, ein perfektes sozialistisches Paradies, in dem 25 Millionen Menschen nur dafür da sind, um dem Obersten Führer Kim Jong-un zu dienen. Viele Flüchtlinge nennen sich selbst »Überläufer«, weil wir uns weigern, unser Schicksal anzunehmen und für den Führer zu sterben. Das Regime nennt uns Verräter. Sollte ich jemals zurückkehren, würde ich hingerichtet.
Die Informationsblockade funktioniert in beide Richtungen. Die Regierung versucht nicht nur, ihre Untertanen von ausländischen Medien fernzuhalten, sondern tut auch alles, damit der Rest der Welt nicht erfährt, was in Nordkorea tatsächlich los ist. Das Regime des sogenannten »Einsiedlerreiches« versucht, sich unsichtbar zu machen. Nur wir, die geflohen sind, können beschreiben, was hinter der undurchdringlichen Grenze wirklich vor sich geht. Allerdings haben unsere Geschichten bis vor Kurzem nur wenige Menschen erreicht.
Ich kam im Frühling 2009 in Südkorea an, mit fünfzehn Jahren, ohne einen Cent in der Tasche und schulisch auf dem Stand eines Zweitklässlers. Fünf Jahre später studierte ich Polizeimanagement an einer der angesehensten Universitäten von Seoul, und spätestens da wurde mir klar, wie dringend das Land, in dem ich zur Welt gekommen bin, ein rechtsstaatliches System braucht.
Ich habe die Geschichte meiner Flucht aus Nordkorea unzählige Male erzählt. Wie meine Mutter und ich von Menschenhändlern über die Grenze nach China gelockt wurden, wo meine Mutter alles tat, um mich zu beschützen. Sie opferte sich und ließ sich sogar von einem Kerl vergewaltigen, der es ursprünglich auf mich abgesehen hatte. In China suchten wir vergebens nach meiner Schwester. Meinem Vater gelang ebenfalls die Flucht über die Grenze, er starb aber nur wenige Monate später an einem unbehandelten Krebsleiden. 2009 wurden meine Mutter und ich von christlichen Missionaren gerettet, die uns zur chinesisch-mongolischen Grenze brachten. Von dort marschierten wir in einer endlosen Winternacht durch die eisige Gobiwüste und folgten den Sternen in die Freiheit.
All das ist wahr, aber es ist nicht die ganze Geschichte.
Bis heute wusste nur meine Mutter, was in diesen beiden Jahren geschah – von dem Tag an, als wir den Jalu überquerten, bis hin zu unserer Ankunft in Südkorea, wo für uns beide ein neues Leben begann. Anderen Überläufern und Menschenrechtsanwälten hatte ich kaum etwas über meine Zeit in China erzählt. Irgendwie glaubte ich, dass das Unaussprechliche von selbst verschwinden würde, wenn ich darüber schwieg. Ich redete mir ein, dass vieles davon niemals geschehen war, und versuchte, den Rest zu vergessen.
Doch als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, wurde mir bewusst, dass mein Leben ohne die ganze Wahrheit ohnmächtig bliebe und keinen wirklichen Sinn hätte. Mit Hilfe meiner Mutter kehrten die Erinnerungen an unser Leben in Nordkorea und China zu mir zurück wie Szenen aus einem längst vergessenen Albtraum. Manche Ereignisse brachen mit schrecklicher Klarheit wieder hervor, andere blieben verschwommen und durcheinander wie ein Kartenspiel, das über den Boden verstreut ist. Schreiben wurde für mich zu einem Prozess des Erinnerns, und es war zugleich der Versuch, diesen Erinnerungen einen Sinn zu verleihen.
Auch Bücher haben mir geholfen, meine Welt zu ordnen. Kaum war ich in Südkorea angekommen, stürzte ich mich auf die wichtigsten Werke der Weltliteratur. Erst in koreanischer Übersetzung, später dann auf Englisch. Und als ich anfing, dieses Buch hier zu schreiben, stolperte ich über eine berühmte Zeile von Joan Didion. »Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.« Obwohl sie und ich aus unterschiedlichen Kulturen stammen, spürte ich, wie die Wahrheit dieser Worte in mir widerhallte. Manchmal können wir mit unseren eigenen Erinnerungen nur leben, wenn wir sie in Form einer Geschichte mit anderen teilen und dabei versuchen, in...