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E-Book

Nachmittage mit Mördern

10 wahre Tätergeschichten

AutorSibylle Tamin
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783104032276
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
***Mensch oder Monster?*** Der schockierende Blick in die Abgründe der menschlichen Seele »?Messerblöcke sind mir unangenehm. So was mag ich nicht. Ich mag's nicht sehen. Und ich weise die Leute darauf hin, dass man bei einem Konflikt schnell in den Messerblock rein greifen kann und in einer Art Kurzschlussreaktion das Messer dann benutzt.? Es brach aus ihm heraus, nichts konnte er mehr zurückhalten. Die, die ihm jetzt zuhörte, sollte alles wissen. Sie sollte es genau wissen. Sie würde ihm zuhören müssen und nicht eher gehen können, bis alles erzählt war.« Sibylle Tamin sitzt den Mördern gegenüber. Auge in Auge. Allein. Stundelang. Und in dieser scheinbaren Intimität offenbaren sich grauenvolle Abgründe und menschliche Tragödien. So spannend wie erschütternd.

Wie gehen Mörder mit ihrer zurückliegenden Tat um? Wie leben sie mit dem nicht wieder Gutzumachenden? Wie beurteilen sie selbst ihre Tat? Ein Jahr lang trifft sich die preisgekrönte Journalistin Sibylle Tamin regelmäßig mit einsitzenden oder bereits entlassenen Mördern. Im Mittelpunkt der Gespräche steht aber nicht die genaue Rekonstruktion der Tat, sondern vielmehr das Bild, das die Täter von sich selbst entwerfen. Zehn exklusive Täterbiographien.

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Leseprobe

Mir wurde klar, dass ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war. Da hab ich noch viermal auf seinen leblosen Körper geschossen (…)

Albert Camus, Der Fremde

1 Pflaumenmus


Kurz nach Weihnachten trat ich zum letzten Mal hinaus durch das stählerne Tor und sah zu, wie der Beamte den doppelbärtigen Schlüssel ins Schloss des nächsten schob, ein mit Rosetten und vergoldeten Blattranken versehenes herrschaftliches Tor, als läge dahinter ein Gutshaus. Dahinter lag ein grauer Hof, den nur Wachleute betreten durften und Häftlinge, die entlassen wurden.

Langfeld würde noch mindestens fünfzehn Jahre warten müssen, um da hinaus in ein anderes Leben gehen zu können. Ich beschloss, ihn nicht mehr zu besuchen.

 

»Det is Herr Langfeld«, hatte der Beamte beim ersten Treffen gesagt und dem Mann eine Hand auf die Schulter gelegt, behütend, wie es ein Lehrer mitunter bei einem neuen Schüler tut. Langfeld war am massigen Beamten vorbei in die Besucherzelle getreten und hatte sich mit einem Nicken wortlos an den Tisch gesetzt. Kaum war die Tür geschlossen, hatte er zu sprechen begonnen, schnell und atemlos.

»Sie kennen vielleicht die Geschichte, an deren Ende die 42 steht? Nein? Nach einem jahrelangen Rechenvorgang spuckt der größte existierende Rechner die Formel der Welt aus: 42. Diese ironische Entlarvung wissenschaftlicher Hybris mit Hilfe einer einzigen Zahl – das ist doch nicht zu toppen, oder?«

Langfeld mied den Blickkontakt, saß seitlich auf dem Stuhl und sprach zur Wand.

»Ich hab schon immer gern mit Zahlen gearbeitet und denke meist in Zahlen. Man bekommt klare Aussagen. Mit Worten hingegen ist das so eine Sache, und Missverständnisse kommen gratis.«

Er drehte den Kopf und schaute durch die randlose Brille her, zeigte sein schmales Gesicht mit der langen Nase, die, wie jetzt zu sehen war, sich leicht nach vorn verdickte und diesem strengen Blick etwas Unernstes gab.

»Ach Worte –«, sagte er und atmete aus, »ich bin Buchhalter. Wenn ich damals klug gewesen wäre, hätte ich den Ermittlern eine andere Geschichte erzählt. Und ein guter Anwalt hätte die Dinge juristisch plausibel gemacht. Fast aus jedem Mord lässt sich ein Totschlag machen. Wussten Sie das? Aber ich, wie ein Idiot, erzähle genau die Wahrheit. Und mit der Wahrheit hab ich mich reingeritten. Ich hab mich mit der Wahrheit unverdient ins Lebenslängliche gebracht.«

 

Langfeld stand auf, groß, schlank, sportlich, in schwarzen Jeans und schwarzem Sweatshirt, und trat ans Fenster. Im Hof leuchtete ein kleiner Weihnachtsbaum.

»Weihnachten im Knast. – Am 1. Feiertag gibt’s Gänsekeule mit Rotkohl und Klößen, dann kann man in den Gottesdienst gehen und danach ist Einschluss. Da fragt mein Sozialarbeiter gestern: Was hat Weihnachten mit dir gemacht, und ich sage: ›Gar nichts, ich bin froh, dass es vorbei ist.‹ Auch an Weihnachten gehen hier keine Wünsche in Erfüllung. Man versucht möglichst emotionslos durch die Feiertage zu kommen. Viel Schlafen hilft, wenn man’s kann. Aber tatsächlich ist Weihnachten furchtbar.«

Er stand am Fenster, übermäßig aufgerichtet, als wolle er gleich salutieren. Seine Bewegungen waren kantig, und er sprach wie mit zusammengebissenen Zähnen.

»Wir haben es uns immer schön gemacht an Weihnachten. Daran versuche ich möglichst nicht zu denken. Die meisten hier behaupten zwar, Weihnachten gehe ihnen am Arsch vorbei, aber dann sitzen sie auf ihrem Bett und heulen. Und Silvester ist wieder so ein schwieriger Tag. Man wird in alte Gefühle hineingezogen, in das, was schön war, und was man sich selbst kaputtgemacht hat. Ich hab von meinem Zellenfenster aus einen exzellenten Blick. Ein Himmel voller Feuerwerk. Aber auf was für eine Zukunft soll ich mich freuen?«

Er drehte sich her, blass vor Anspannung und mit mahlenden Kiefermuskeln.

»Es ist gut, dass die Feste jetzt vorbei sind, und ich wieder arbeiten kann.«

Er schwieg und schaute hinaus in die beginnende Dämmerung.

»Vor fünf Jahren hab ich Weihnachten und Silvester in Innsbruck verbracht. In der U-Haft. Da hab ich keinen einzigen vernünftigen Gedanken fassen können. Man hofft nur, dass es endlich vorbei ist. Keine Fragen mehr. Ruhe. Die andern Insassen in der U-Haft haben sich fair verhalten. Teilweise ist da sogar Solidarität entstanden. Sie gaben mir Kaffee und Briefmarken, und der Schwerkriminelle gab Käse, Wurst und Marmelade. Ja, das gibt es auch im Gefängnis, Mitmenschlichkeit. Sie sagten: ›Gib’s mir wieder, wenn du’s hast.‹ Ich hab gestaunt.«

Langfeld blieb am Fenster stehen und zeigte hinaus auf den Hof. »Der Freizeitpark dort ist 100 auf 80 und immerhin grün.« Gelbe und braune Blätter flogen durch die Luft. »Das sind keine Blätter«, sagte er, »das ist Brot. Hier fliegt alles zum Fenster raus, nicht nur Brot, auch Verpackung, Taschentücher, Obst – alles, was nicht gefällt, wird von den Gefangenen rausgeschmissen. Der Hof ist ihr Mülleimer. Viele regt das auf, aber kein Beamter klemmt sich dahinter. Sie sagen, Haus 2 und 3 seien schon immer Schweinehäuser gewesen. Und das ist alles. Statt mit Disziplinarmaßnahmen zu reagieren, zucken sie bloß die Schultern. Der Dreck ist hier überall. Auch auf den Gängen. Jeden Vormittag machen die Hausarbeiter sauber, aber gleich ist’s wieder vollgemüllt. Das ist eklig«, sagte Langfeld und schüttelte den Kopf. »Aber das ist das kleinste Übel hier.«

Er schwieg, und es schien, als hielte er den Atem an, so bewegungslos stand er da am Fenster. Gedämpft drangen die Stimmen der Häftlinge herein, die sich noch bis zum Einschluss im Gebäude bewegen durften.

Es war eine ehemalige Zelle in Haus zwei, die als Gesprächsraum eingerichtet worden war, mit Tisch und drei Stühlen und einer Türklinke, die es sonst nicht gab. Vor der Tür in einem Glaskasten saß ein Beamter mit dem Ausblick auf die dreistöckigen umlaufenden Galerien bis hinab ins Erdgeschoss. Die hallenden Stimmen, die Galerien, der Wächter in seinem Ausguck – fast wie in einem altertümlichen Schwimmbad.

 

»Lebenslänglich«, sagte Langfeld. »Es gibt, wie Sie vielleicht wissen, ein gutes und ein böses Lebenslänglich. Beim guten ist das Strafmaß auf fünfzehn Jahre festgelegt, und es ist nicht ausgeschlossen, dass man bereits nach zehn Jahren in den offenen Vollzug kommen kann. Das böse wird verhängt bei besonderer Schwere der Schuld. Hier fallen mindestens zwanzig Jahre Haft an, ehe man in den offenen Vollzug kommt, und eine Zweidrittelregelung ist nicht vorgesehen.«

Er atmete tief ein und aus.

»Das ist mein Lebenslänglich.«

Es war kalt in diesem Besuchsraum, und Langfeld hielt die Hand an den eisernen Fensterrahmen. »In unseren Zellen sind neue dämmende Fenster eingebaut. Früher muss es im Winter hier eisig gewesen sein.« Und während er hinausschaute in den trüben Winternachmittag, fuhr er fort auf diese gehetzte Weise zu sprechen, als müsse er die letzte Chance nutzen, jetzt, in dieser Stunde all das mitzuteilen, was sich seit Jahren angestaut hatte.

»Wer als normaler Mensch mit einem bürgerlichen Vorleben ins Gefängnis geworfen wird, muss sehen, dass er sich möglichst schnell zurechtfindet. Er muss sich anpassen. Die Anpassung ist seine Überlebenschance.«

Sein Vater sei besorgt gewesen. Er habe gewalttätige Übergriffe auf den Sohn befürchtet. »Ich sagte, mach dir keine Sorgen, ich komm schon zurecht.« Und tatsächlich müsse man nur einige Regeln beachten, um in Ruhe gelassen zu werden.

Das oberstes Gebot sei: »Du sollst schweigen.« Nichts, kein Wort von den Vorgängen zwischen den Häftlingen, dürfe zu den Beamten dringen. Wer das nicht beherzigte, dem würden allerdings schnell andere Seiten gezeigt. »Und die«, sagte Langfeld, »die – wie soll ich sagen – können äußerst unangenehm sein.«

Es habe zum Beispiel einen Vorfall mit heißem Öl gegeben, in das die empfindlichsten Teile eines Mithäftlings getaucht worden waren. Der Mann war lebensgefährlich verletzt worden, und der Täter hatte einen Nachschlag auf seine Strafe erhalten. Aber solche Geschichten seien selten geworden.

Mittlerweile hätten sie hier alle Einzelzellen. Da könne man sich aus dem Weg gehen. Ohnehin seien Gewaltverbrecher von Sexualverbrechern getrennt. Die Kifis würden sonst schnell dezimiert, sagte Langfeld. Neulich habe ein Häftling am Arbeitsplatz geäußert, mit einem Kinderficker zusammen würde er niemals arbeiten, und ein anderer habe zum Beamten gesagt: »So einer hat nichts neben mir in der Dusche zu suchen.« Tatsächlich nähme man im Knast auf diese Aversionen Rücksicht. Und so könne man an Zellentüren Schilder finden nicht nur mit »Sonderkost« und »Einzelfreistunde«, sondern auch mit »Einzeldusche«.

»Meine Zelle inklusive Toilette und Waschbecken hat ungefähr 7,9 m2, eher gegen sieben. In dem jetzt geschlossenen Haus 1 gab es Zellen, die waren nur 5,6 m2. Also, das können Sie sich vielleicht gar nicht vorstellen.«

Langfeld streckte die Arme aus und zeigte, wie klein so eine Zelle war und wie dagegen seine eigene Zellengröße sei und wie die Möbel standen, Schrank, Tisch, Stuhl, Waschbecken, die Höhe der Decke, die Breite des Fensters. »Circa 90 Zentimeter«, sagte er, »und es...

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