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E-Book

Nachts sind das Tiere

Essays

AutorJuli Zeh
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641242725
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die NSA-Affäre hat viele Internet-Nutzer verunsichert und verwirrt. Wir, die Politikverdrossenen, die »Einfach- so-Egozentriker«, die Selbstquantifizierer, melden uns hektisch von Facebook und Co. ab. Juli Zeh, die einen weltweiten Schriftstellerprotest gegen die Überwachung initiiert hat, sieht das nicht ein. Engagiert verteidigt sie die Freiheit des Wortes und ermutigt uns, sie ebenfalls einzufordern. Sie hinterfragt, warum wir uns ein vorgefertigtes Schema von »Glück« überstülpen lassen, das »gesamtgesellschaftliche Zirkeltraining« klaglos mitmachen und uns so zu einer einheitlichen Masse entwickeln, die ihre Mündigkeit verspielt.

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.

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Leseprobe

Gute Nacht, Individualistinnen
(2006)

Neulich nach einer Podiumsdiskussion. Ich bin von der Bühne geklettert, stehe im Foyer der Sendeanstalt herum und halte mich an einem Glas Rotwein fest. Das Publikum strebt aus dem Saal, um an der Garderobe nach Mänteln zu suchen oder die angebotenen Getränke entgegenzunehmen. Der Moderator ist mit einem anderen Talk-Gast in eine Fortführung des Gesprächs vertieft. Plötzlich kommen drei Frauen auf mich zu. Sie sind Mitte fünfzig, gut gekleidet und setzen die Füße so resolut auf den Boden, dass ich ahne, was sie von mir wollen.

Der Schweiß sei ihnen ausgebrochen. Auf den Unterarmen hätten sich die Haare aufgestellt. Es habe ihnen die Kehlen zugeschnürt und die Mägen umgedreht.

»Wie«, frage ich vorsichtig, »lautet die Anklage?«

Zweimal hätte ich mich während der Diskussion als »Jurist« und einmal als »Autor« bezeichnet! Man ist gekommen, um ein weibliches Suffix einzutreiben.

Das passiert mir nicht zum ersten Mal. Seufzend entschuldige ich mich. Erkläre, dass das Weglassen der Endung »-in« keiner antifeministischen Programmatik, sondern purer Achtlosigkeit entspringe (man glaubt mir nicht). Ergänze, dass die Berufsbezeichnung »Autor«, ähnlich dem englischen »author«, einen neutralen Klang für mich besitze (man glaubt mir noch weniger). Verlange, nicht auf ein role model reduziert zu werden und reden zu dürfen, wie mir der Schnabel gewachsen ist (man wird wütend).

Auf einem öffentlichen Podium sei ich eine öffentliche Person, heißt es, und hätte mich dieser Verantwortung zu stellen.

Das verpflichte mich nicht zu einem Auftritt als feministische Frontfigur, gebe ich zurück.

Die drei Frauen wetzen ihre unlackierten Fingernägel und treten einen Schritt auf mich zu. Um einer lautstarken Protestaktion zuvorzukommen, ergehe ich mich in beschwichtigenden Ausführungen.

Ich sei eine Nachgeborene. Ein Nutznießer, Pardon, eine Nutznießerin vergangener Schwesternkämpfe. Der lebende Beweis, dass die Emanzipation wenigstens in Teilen der Gesellschaft glücklich ins Ziel gelaufen sei.

Ob ich mich denn gar nicht mit der Frauenbewegung identifiziere?

»Nein«, behaupte ich forsch. »Ich identifiziere mich nicht einmal mit der Frau.«

Das anschließende Schweigen hat die Kälte eines blankgezogenen Schwerts. Ein Kellner bringt das nächste Glas Wein und ignoriert meine hilfesuchenden Blicke. Es wird höchste Zeit für einen Themawechsel.

»Lassen wir doch die Geschlechterfrage einmal beiseite«, schlage ich vor, »und betrachten das Problem von einer anderen Seite.«

Meine Gesprächspartnerinnen fixieren mich angriffslustig. Friedensangebot abgelehnt. Mir bleibt die Flucht nach vorn.

»Dem weiblichen Geschlecht anzugehören, ohne sich darüber zu definieren«, sage ich, »hat nichts mit Verrat an der weiblichen Sache zu tun. Auf ähnliche Weise lebe ich in Deutschland, ohne mich als Deutsche zu fühlen.«

Den erneut aufkeimenden Widerstand ersticke ich unter einer Lawine von Beispielen: »Ich wurde in Bonn geboren und bin keine Rheinländerin. Ich habe zehn Jahre in Leipzig gewohnt und weiß mit den Begriffen Ossi und Wessi nichts anzufangen. Ich spreche keinen Dialekt, trete keinen Vereinen bei und fiebere für keine Fußballmannschaft. Genau genommen schreibe ich sogar Bücher, ohne mir Rechenschaft darüber abzulegen, was eine Schriftstellerin ist.«

Ob ich sie auf den Arm nehmen wolle?

»Meiner Erfahrung nach«, füge ich, mutig geworden, hinzu, »folgt aus solchen Etikettierungen vor allem eins: ein Haufen Ärger.«

Ob ich deshalb beschlossen hätte, mich jeder Form von Identität krampfhaft zu verweigern?

Darüber muss ich nachdenken. Wahrscheinlich ist meine Identität, sofern ich jemals eine hatte, soeben dem Ansturm der drei Erinnyen zum Opfer gefallen.

»Einer Identität liegt keine Entscheidung zugrunde«, widerspreche ich, »sondern eine Entwicklung. Ich werde Ihnen die Zusammenhänge aufzeigen. Wollen wir uns irgendwo hinsetzen?«

Die drei Frauen schütteln die Köpfe. Ich sortiere Standbein und Spielbein und hole tief Luft.

»Den Angehörigen meiner Generation«, sage ich, »brachte man in der Schule bei, dass Nation, Volk, Kultur oder Rasse niemals mehr zählen dürfen als das Individuell-Menschliche. Wir lernten, den eigenen Kopf zu gebrauchen, Autoritäten zu hinterfragen, kollektiven Überzeugungen zu misstrauen. Unsere Sätze beginnen wir nicht mit: Das ist folgendermaßen …, sondern mit: Meiner Meinung nach …, oder: Ich glaube … Und woran glauben wir? An gar nichts. Jedenfalls nicht an objektive Wahrheiten, sondern höchstens an subjektive Erfahrung.«

Worauf ich hinauswolle?

»Moment«, sage ich. »Schon als Kind war mir klar, dass allen Menschen, egal ob Mann oder Frau, schwarz oder weiß, der gleiche Wert zukommt. Man zwang mich nicht, in die Kirche zu gehen. Ich brauchte keine bestimmten Bücher zu lesen; ebenso wenig waren mir irgendwelche verboten. Ich musste keine politische Richtung gut finden und bin meinen Eltern und Lehrern bis heute dankbar dafür.«

»Wie schön«, spotten meine Zuhörerinnen.

»Wir kommen zum entscheidenden Punkt«, sage ich. »Heute flößt mir der Anblick eines Uniformierten oder einer Flagge Unbehagen ein. Politische Parolen klingen lächerlich, manche widerlich, die meisten überflüssig in meinen Ohren. Ich identifiziere mich nicht nur nicht mit der Frauenbewegung. Auch Vokabeln wie Gott, Heimat, Sozialdemokratie, Vaterland oder Familie lösen keine spezifischen Gefühle in mir aus. In der Wahlkabine weiß ich nicht, wo ich mein Kreuz machen soll. In den Zeitungen lese ich, dass ich einer unpolitischen, verhuschten, irgendwie desorientierten Generation angehöre. Und von Ihnen erfahre ich nun, dass ich keine Identität besitze.«

»Sie waren es doch, die behauptet hat …«, sagt eine der Frauen.

»Jeder Mensch braucht eine Identität«, sagt eine andere.

»Jeder Mensch braucht eine Persönlichkeit«, gebe ich zurück. »Die Identität, von der wir sprechen, meint nicht die Übereinstimmung eines Menschen mit sich selbst. Sie meint Zugehörigkeit oder Abgrenzung in Bezug auf Gruppen. Auch ›die Frau‹ ist eine Gruppe.«

»Unpolitisch sind Sie aber wirklich«, sagt die dritte Frau vorwurfsvoll, »wenn Ihnen alles egal ist.«

Mir ist keineswegs alles egal, sonst hätte ich die drei Frauen nicht erfunden und würde diesen Essay nicht schreiben.

»Von wegen egal«, rufe ich deshalb. »Es ist nur so, dass ich mich keinem politischen Lager zugehörig fühle. Ich pflege ein Konglomerat von Ansichten, die in ihrer Gesamtheit weder parteiprogrammatischen Schemata noch der Stoßrichtung einer gesellschaftlichen Gruppierung entsprechen. Ich vermag nicht einmal zu sagen, ob ich rechts denke – oder eher links. Vermutlich bin ich ein radikaler Individualist.«

Ein dreistimmiges Aufstöhnen eint die gegnerische Front.

»Eine Individualistin«, versuche ich.

Daran hat es diesmal nicht gelegen.

Wie schrecklich, finden die drei Frauen. Fast könne ich ihnen leid tun. Diese geistige Heimatlosigkeit sei schockierend, schwindelerregend, ein Abgrund.

»Nein«, sage ich. »Sie ist wunderbar. Noch immer zukunftsweisend. Sie ist das, was die Aufklärung gewollt hat. Sie ist die Haltung eines Menschen, der nicht den Vorgaben von Obrigkeiten, Moden oder dem Zeitgeist vertraut, sondern die individuelle Vernunft gebraucht. Allerdings zeigt sie seit Neuestem ein seltsames Gesicht. Sie hindert am öffentlichen Sprechen.«

Wie ich das meine, wollen die Frauen wissen.

Ich weise auf ein Plakat, das die Veranstaltung ankündigt, die wir gerade hinter uns haben: Schriftsteller und Politik – ein Antagonismus?

Darüber, finden die Frauen, werde doch quer durch die Jahrzehnte gestritten.

»Während der vergangenen Wahl«, sage ich, »waren die überzeugtesten Vertreter des Standpunkts, ein Autor habe sich um seinen eigenen Kram zu kümmern, ausgerechnet – Schriftsteller. Und dabei wurden nicht einmal ästhetische Aspekte ins Feld geführt. Es ging nicht ums Kunstschaffen, sondern um öffentliches Verhalten.«

Endlich ist der Themawechsel geglückt. Drei abwartende Augenpaare sehen mich an.

»Ständig war zu hören«, sage ich, »dass sich ein Autor vor keinen Karren spannen lassen dürfe. Wer einigermaßen bei Trost und klarem Verstand sei, könne niemals repräsentativ sprechen, sondern nur für sich selbst. Sie wissen ja: Man beginnt seine Sätze mit: Meiner Meinung nach …, oder: Ich glaube …«

Weiter, fordern meine Zuhörerinnen.

»Für einen Individualisten«, sage ich, »hat die Vorstellung, mit Parteifarben in Verbindung gebracht zu werden, etwas Unappetitliches. Andererseits ist das öffentliche Für-sich-selbst-Sprechen eine diffizile Angelegenheit. Es kennt keine Schlagworte, durch deren Gebrauch sich die Komplexität eines Themas reduzieren ließe. Ohne einen Baukasten aus abrufbaren Meinungsversatzstücken muss das Rad bei jeder Äußerung neu erfunden werden. Der Individualist hofft nicht, die Massen zu überzeugen. Sein höchstes Ziel besteht darin, mithilfe wohlbegründeter Argumente etwas Sinnvolles zum Diskurs beizutragen. Dabei muss er dem Bewusstsein standhalten, dass er in einer Welt ohne objektive Wahrheiten nicht recht haben kann und deshalb auch nicht recht bekommen wird. Er setzt sich der Lächerlichkeit des Versuchs aus, trotzdem etwas Verbindliches sagen zu wollen. Seine Gegner werden sich nicht nur in einem, sondern in allen Lagern finden. Er kann sich nicht auf den Rückhalt von...

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