The Catcher in the Rye
Sie haben Glück. Es gibt wieder Züge zwischen Zagreb und Sarajevo«, lautet das Ergebnis einer zehnminütigen Verhandlung, während der ich mich mit dem Mann hinter der Glasscheibe auf einen Grundstock an gemeinsamen Handbewegungen und Vokabeln geeinigt habe. Nur weil man am internationalen Reiseschalter arbeitet, muss man noch lange nicht Englisch können.
Ist ja toll. Und wann fährt die Bahn?
»In zwei Wochen. Wenn die Linie wieder in Betrieb genommen wird.«
Nein, sonst gibt es keine Züge in Bosnien. Warum?
Man fährt halt hin. Wo soll das Problem sein.
Im Rucksack befindet sich alles, was ich wegen der Hitze nicht am Leib tragen kann, dazu ein halber Sack Hundefutter plus Napf, Turnschuhe, Bücher, Walkman und noch vieles mehr, an das ich mich nicht erinnere. Ameisen können das Doppelte ihres Körpergewichts mit sich tragen, aber die haben eine andere Technik.
Zwei Stunden schon beobachte ich das Treiben am Busbahnhof. Ich habe noch nie einen Bankraub geplant, aber gewisse Dinge lernt man in Sekunden, wenn es sein muss.
Der Mann hinter der Glasscheibe war sich seiner Sache sicher: Hunde sind in Autobussen nicht erlaubt. Auch nicht mit Leine. Auch nicht der beste Hund der Welt, nicht mit Maulkorb, gefesselt, geknebelt oder betäubt. Vielleicht könnte er im Gepäckraum reisen, am besten in einer Tasche. Wenn der Fahrer einverstanden ist. Ich hatte Lust auf eine international verständliche Handbewegung.
Dem Fahrer des ersten Busses habe ich Geld geboten. Erst fünfzig Prozent des Fahrpreises, dann hundert, dann zweihundert, es blieb bei Nein. Das also bedeutet »Probleme mit der Korruption«.
Zwei Frauen nähern sich, Zigaretten zwischen den Fingern, die sie mit schnellen Bewegungen an den Mund führen und ersetzen, sobald sie ausgeraucht sind. Ich muss entscheiden, in welche der beiden angebotenen Schachteln ich greife.
Ob ich Soba brauche, ein Zimmer? Nein, ich brauche ein Wunder, um den Hund und mich nach Sarajevo zu bringen.
Die Frauen lächeln mit dunklen Zahnreihen voller Lücken und streicheln den Hund, der mit dem Leben abgeschlossen hat. Weit und breit nichts als Abgase und Asphalt.
Schnell beschließe ich die Entstehung einer neuen Sprache: Das Endepol. Es besteht aus zehn englischen, hundert deutschen und einer Menge polnischer Wörter und kommt fast ohne Grammatik aus. Es gibt nur eine Zeit, die Gegenwart, und keine Personen. Dafür zeigende Bewegungen auf mich selbst, den Hund und den Autobus.
Ich erkläre meinen Plan, fuchtele mit den Armen und könnte ohne weiteres eine Skizze zeichnen, mit gestrichelten Linien und Richtungspfeilen. Die beiden Frauen wollen eine Rolle.
»Das ist ein Scheißland«, sagen sie. »Wo man es verarschen kann, soll man es verarschen.«
Das lasse ich offen und ernenne sie zu Rucksackbewacherinnen.
Als der Bus vorfährt mit dem Sarajevo-Schild auf der Stirn, sind wir in Position. Der Hund schlecht versteckt hinter meinem Gepäck, flankiert von den rauchenden Damen, die andauernd lachen, was ich ein bisschen auffällig finde. Der erste Fahrer geht pinkeln, der zweite bückt sich zum Verladen der Koffer und verschwindet halb im Bauch des Busses. Das ist der Moment. Ich zerre den Hund zur offenen Vordertür und springe die teppichbeklebten Stufen hinauf. Ein paar der anderen Fahrgäste beobachten mich, ich lächele, damit sie nicht petzen. Über den Mittelgang rennen wir nach hinten. Der Hund legt sich auf die Seite und lässt sich an den Pfoten unter die Sitzbank schieben, es klappt, als hätten wir nie etwas anderes gemacht. Wenn er in dieser Haltung die Fahrt überlebt, muss er unsterblich sein.
Draußen klatschen die Damen in die Hände und lassen den Rucksack verladen. Während andere Passagiere einsteigen, tanzen sie mit hochgereckten Daumen vor meinem Fenster. Ich verteile Kusshände und Siegeszeichen und fürchte, dass die Fahrer Verdacht schöpfen bei dem Spektakel. Als der Bus anrollt, habe ich schon zwanzig Minuten lang das Atmen vergessen. Ich schaue mich um und bemerke das zarte Lächeln und Nicken einiger Mitreisender. Anscheinend hält man zusammen gegen jede Art von Obrigkeit.
Hinten auf der letzten Bank, wo bei Schulfahrten die Klassenelite saß, ist das Brummen des Motors von Halswirbel bis Unterschenkel im ganzen Körper zu spüren. Der Hund atmet flach, er hat keinen Platz, um tief Luft zu holen. Lange sitze ich vornüber gebeugt und halte ihm eine Pfote. Ich kenne ihn seit acht Jahren und bin immer wieder erstaunt, wie hart er im Nehmen ist. Ich würde auch für ihn unter der Sitzbank reisen, und die Vorstellung, er könnte das nicht wissen, schmerzt wie Heimweh.
Unablässig flieht die Landschaft in die Richtung, aus der ich gekommen bin. In Leipzig muss sich ein ganzer Haufen vor meiner Haustür ansammeln. Bäume und Häuser rasen vorbei, während die am Horizont beratend im Halbkreis zusammensitzenden Bergriesen dem Bus eine Weile das Geleit geben und sich dann, einen gediegenen Halbkreis beschreibend, langsam nach hinten abwenden. Schnell türmt das sogenannte Landesinnere sich auf. Oben verschwimmen Gipfel im Hitzenebel, unten dehnen sich graugrüne Flächen, die an manchen Stellen Felder sind. Wenn die Felswände dicht an den Bus heranrücken, steht der nächste Tunnel bevor.
Eine Weile freue ich mich daran, dass ganz Kroatien nach Waschpulver riecht, und betrachte glücklich die dazugehörende, weiß flatternde Wäsche in den Gärten am Straßenrand. Bis ich zwei Reihen weiter vorn zwischen den Füßen einer Frau die Familienpackung Ariel bemerke.
Mein Plan hatte einen Fehler: Er sah keine Zeit zum Einkaufen von Proviant oder Aufsuchen der Toilette vor. Der Bus hält, ich will den Hund nicht allein lassen und bleibe als einzige sitzen, ganz hinten in meiner Ecke. Mir ist klar, dass ich nicht durchhalten werde bis zum Ende der Fahrt. Meine Blase fühlt sich hart und rund an wie ein Stein, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Buckelpisten beginnen.
Vor mir liest einer »The Catcher in the Rye«. Ich lasse das Endepol gleich beiseite und frage auf Englisch.
Seine Berechnungen ergeben, dass wir etwa ein Elftel der Strecke bewältigt haben. Er legt das Buch zur Seite und setzt sich zu mir. Kaum hat er erfahren, wo ich herkomme, wechselt er ins Deutsche.
»Wieso quatschst du mich denn auf Englisch an?«
Ja, wieso eigentlich. Als Deutsche bin ich gewöhnt, im Ausland leise zu sprechen. Oder Englisch.
Und woher er so gut Deutsch könne? Er grinst, woher wohl, saudoofe Frage. Gut, dass ich schon rot bin von der Hitze.
Dario hat seinen Namen vom italienischen Gewinner der Europameisterschaft im Kanufahren, die vor zweiundzwanzig Jahren in Jajce ausgetragen wurde. Damit ist er noch jünger als mein kleiner Bruder, der für mich immer der jüngste Mensch der Welt gewesen ist. Von Jajce habe ich noch nie gehört. Nicht weiter schlimm, war bloß die Hauptstadt Bosniens bis zur Eroberung durch das Osmanische Reich. Vielleicht hätte ich es doch ausleihen sollen, das Buch über Bosnien im Mittelalter. Ich starre Dario an wie einen Außerirdischen. Mein erster Bosnier, mein erster echter Bosnier. Er sieht gut aus.
Beim nächsten Halt kann ich nicht mehr und bitte ihn, kurz auf den Hund aufzupassen. Er bückt sich, um unter die Sitzbank zu sehen, und taucht lachend und kopfschüttelnd wieder auf.
»Was wollt ihr hier, zum Teufel?«
Die Frage wird mir auffällig oft gestellt, meistens von mir selbst. Es ist höchste Zeit, mir eine kurze, prägnante Antwort zurechtzulegen.
Je weiter wir uns der Grenze nähern, desto unentschiedener wird das Gelände. Die struppigen Felder sind sich nicht im Klaren darüber, was auf ihnen wächst, und die Sonnenblumen schauen in alle Himmelsrichtungen, als könnten sie nicht erkennen, wo das Licht herkommt. Die Autobahn endet, es beginnt zu ruckeln und zu schütteln wie in einem Pferdekarren, ohne dass es in der Abfolge von Stößen zu Wiederholungen käme. Straße und Bus sind erfinderisch wie die Zahl Pi persönlich.
»Mach einfach, was sie sagen.«
Dario schubst mich vor sich her, mir bleibt kaum Zeit, den Hund anzuflehen, dass er ruhig liegen bleibt. Sie lassen uns das Gepäck ausladen und zu einem Campingtisch tragen. Der Bus entfernt sich, leer bis auf einen Fahrer. Und bis auf meinen Hund. Die Hitze hätte schon ausgereicht, um mich in Schweiß zu baden, ich spüre Darios Hand glitschig an meinem Unterarm. Gerade als ich ihn abschütteln und dem Bus hinterher sprinten will, hält dieser an, noch in Sichtweite. Zwei Uniformierte mit Taschenlampen steigen ein. Mein Herz hat Fäuste bekommen und trommelt damit von innen gegen die Wand. Jemand flüstert »Abwarten, erst mal abwarten« in mein Ohr.
Die beiden Männer steigen wieder aus. Sie haben ihn nicht gefunden. Oder sich nicht für ihn interessiert. Wäre ich eine Sonnenblume, ich hätte keine Ahnung, wo das Licht herkommt.
Bei den ersten zerstörten Häusern, die als Geröllhaufen in den Feldern sitzen, denke ich an einen Steinbeißer, der das Gebiet durchwandert und seinen Kot hinterlassen hat. Dann denke ich an den Zahn der Zeit und daran, dass alles mal kaputtgeht. Als wir an einer katholischen Kirche vorbeifahren, die mit zerrissenen Betonwänden aussieht wie ein kaputter Karton und deren Turm, waagerecht abgeknickt, bis fast in die Straße ragt, höre ich auf mit dem Unsinn.
In Folge sehe ich:
Die Knubbeldächer einer orthodoxen Kirche, von Kunstlicht angestrahlt trotz der Nachmittagssonne. Leere Denkmalsockel....