1. Erfassen der Situation: der Versuch, Narzissmus zu verstehen
Die Masse der Menschen führt ein Leben in stummer Verzweiflung.
(Henry David Thoreau)
Der Narzisst zieht gleichzeitig an und stößt ab. Er mag wie ein moderner Ritter daherkommen, ein Sir Lancelot unserer Tage, der uns mit seinem großspurigen Charme umgarnt, angetan mit der glänzenden Rüstung unserer Zeit: einem ansehnlichen Investment-Portfolio und prachtvollen Besitztümern. Aber Vorsicht: Dieser Ritter ist ein meisterhafter Gaukler, der zur echten Bedrohung werden kann. Sie könnten zum Opfer seiner verführerischen Großtaten werden, seiner Intelligenz und seiner scheinbar unerschütterlichen Selbstgewissheit. Wenn da nicht seine Arroganz wäre, seine herablassende Art, seine Anspruchshaltung und sein Mangel an Empathie – eindrucksvolle Makel, die unweigerlich zu frustrierenden zwischenmenschlichen Begegnungen und notorisch schwierigen langfristigen Beziehungen führen müssen.
Der narzisstischen Diva begegnet man vielleicht im gediegenen Ambiente einer Konzernzentrale, gekleidet nach der neuesten Mode und mit elegantem Aktenköfferchen bestückt, oder vielleicht auf dem montäglichen Elternabend im Gymnasium, wo sie das große Wort führt, oder beim Delegieren lästiger Pflichten auf der Sitzung eines gemeinnützigen Vereins. Vielleicht ist sie auch der Dame auf dem jüngsten Titel einer Hausfrauenzeitschrift verblüffend ähnlich, die, mit einem voluminösen Push-up-BH ausstaffiert, den wundertätigen „Wisch-und-weg“-Bodenmopp anpreist. Ja, für diese Lady gibt es keine Probleme, immer nur Lösungen, und damit hält sie auch nicht hinterm Berg: „Ich will ja nicht unbescheiden sein, aber …“, oder: „Ich will mich ja nicht beklagen, aber …“, oder: „Mir fällt keine andere Frau ein, die sich so etwas gefallen lassen würde …“
Vielleicht ist sie sogar mit dem soeben beschriebenen, verführerischen Ritter verheiratet. An ihren Bedürfnissen, die sie kokett seiner überragenden Männlichkeit unterordnet, lässt sie ansonsten nur Personen teilhaben, die ihre Selbstlosigkeit preisen und ihr mit dem ehrfürchtigen Seufzer „Ich weiß nicht, wie du das alles schaffst …“ huldigen. In der Tat, diese liebenswürdig-unverfrorene, als Märtyrerin sich aufspielende Matrone lechzt nach Applaus, selbst wenn wir anderen uns angesichts ihrer aufdringlichen Weisheiten und ihres nassforschen Auftretens peinlich berührt zusammenkrümmen, als müssten wir das Kratzen von Fingernägeln auf einer Schultafel ertragen.
Der Narzisst auf einen Blick
Seit über 20 Jahren habe ich mit solchen Menschen gearbeitet und dabei die Erfahrung gemacht, dass es kaum eine größere Herausforderung für einen Psychotherapeuten gibt, als einen Narzissten zu behandeln. Ein solcher Klient begibt sich in Therapie, weil seine Partnerin endlich den Mut gefunden hat, ihm zu sagen: „Lass dir helfen oder verschwinde aus meinem Leben.“ Oder vielleicht, weil sein Chef ihn wegen zahlloser Beschwerden über sein problematisches Verhalten abgemahnt hat. Es kann auch sein, dass er bei seinem ehrgeizigen Wettlauf an die Spitze ins Hintertreffen gerät und nach Wegen sucht, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Oder er wird strafrechtlich belangt und hofft, dass Therapiesitzungen sich in seiner Akte gut machen würden. Aber hin und wieder kommt es auch vor, dass ein Narzisst sich – widerstrebend – in Therapie begibt, weil er schlichtweg einsam und deprimiert ist oder von Angststörungen geplagt wird.
Wie nennen wir also diesen Persönlichkeitstyp, der die Menschen in seinem Umfeld mit allerlei seltsamen charakterlichen Widersprüchen aus dem Gleichgewicht bringt? Obwohl solche Leute aufgeräumt und selbstsicher wirken und manchmal einen liebenswürdigen Humor an den Tag legen, können sie einem blitzschnell den Boden unter den Füßen wegziehen und Furcht, Tränen, Langeweile oder Abscheu hervorrufen. Solche Menschen nennen wir Narzissten. (Wie bereits in der Einführung erwähnt, sind die meisten Narzissten männlich, und daher verwende ich in diesem Buch hauptsächlich Pronomen der männlichen Form und Beispiele mit männlichen Protagonisten; allerdings werden Sie am Ende dieses Kapitels auch Material über gewisse Besonderheiten weiblicher Narzissten finden.)
ÜBUNG
Ist der schwierige Mensch in Ihrem Leben ein Narzisst?
Lesen Sie die einzelnen Punkte in der folgenden Checkliste und kreuzen Sie jede Eigenschaft an, die auf den schwierigen Menschen in Ihrem Leben zutrifft. Markieren Sie nur die Eigenschaften, die sich sehr deutlich zeigen, also in entsprechenden Situationen eher häufig als selten auftreten.
__ egozentrisch (verhält sich, als würde sich alles nur um ihn drehen)
__ anmaßend (stellt willkürlich Regeln auf, die aber nicht für ihn selbst gelten)
__ herabwürdigend (demütigt und tyrannisiert Sie)
__ fordernd (verlangt, was immer er haben will)
__ misstrauisch (zweifelt Ihre Motive an, wenn Sie nett zu ihm sind)
__ perfektionistisch (stellt strikte, hohe Anforderungen; alles hat so gemacht zu werden, wie er es will, oder gar nicht)
__ überheblich (ist davon überzeugt, Ihnen und anderen überlegen zu sein; zeigt sich schnell gelangweilt)
__ zustimmungsbedürftig (lechzt ständig nach Lob und Anerkennung)
__ nicht empathisch (unfähig oder desinteressiert, Ihr inneres Erleben zu verstehen)
__ reuelos (kann sich nicht aufrichtig entschuldigen)
__ zwanghaft (verzettelt sich in Details und Kleinigkeiten)
__ suchtanfällig (kann nicht von schlechten Gewohnheiten lassen, die er einsetzt, um sich zu beruhigen)
__ emotional distanziert (geht Gefühlen aus dem Weg)
Wenn Sie mindestens zehn dieser 13 Eigenschaften angekreuzt haben, erfüllt der schwierige Mensch in Ihrem Leben sehr wahrscheinlich die Kriterien für offenen maladaptiven Narzissmus (overt maladaptive narcissism), dessen häufigste und schwierigste Form. Narzissten dieses Typs sind aufdringlich und renitent. Ich nenne diese Ausprägung „offenen maladaptiven Narzissmus“, um sie von anderen Formen der Störung zu unterscheiden – zum Beispiel von dem verdeckt maladaptiven Narzissmus (covert maladaptive narcissism) und dem gesunden Narzissmus (healthy narcissism), auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Die Begriffe „offen“ und „maladaptiv“ („fehlangepasst“) werden hier gemeinsam verwendet, um zum Ausdruck zu bringen, dass eine beobachtbare Unfähigkeit vorliegt, sich äußeren Umständen oder grundlegenden Erwartungen innerhalb einer Beziehung zu fügen oder anzupassen. Aber Sie brauchen nicht zu verzweifeln, falls der Narzisst in Ihrem Leben tatsächlich ein offen maladaptiver Narzisst ist. Dass Sie ein Problem haben, wussten Sie bereits; was Sie vielleicht noch nicht wussten, ist, wie man einen solchen Menschen nennt und was Sie in Ihrer Situation tun können. Aber Sie kommen der Lösung immer näher – Sie brauchen nur weiterzulesen.
Falls Sie weniger als zehn Eigenschaften angekreuzt haben, handelt es sich vielleicht um einen schwierigen, aber weniger renitenten Narzissten. Narzissmus verläuft entlang eines Spektrums, von gesundem Narzissmus am einen Ende über offenen und verdeckten Narzissmus am anderen. Ich werde diese verschiedenen Formen von Narzissmus in diesem Kapitel genauer definieren.
Was ist ein Narzisst?
Das Wort „Narzissmus“ geht auf die Sage von dem Jüngling Narziss aus der griechischen Mythologie zurück, der an einer Quelle in den Bergen dazu verdammt wurde, ewig in sein eigenes Spiegelbild verliebt zu sein, als Strafe dafür, dass er das Werben der jungen Bergnymphe Echo nicht erhört hatte. Da Narziss sein Abbild auf der Oberfläche des Teiches nur begehren, aber niemals wirklich besitzen konnte, schmachtete er dahin und wurde schließlich in eine wunderschöne Blume – eine Narzisse – verwandelt. Die sinnträchtige Tragödie dieses Mythos lehrt uns, dass wahre Schönheit und Liebe erst dann erblühen können, wenn zwanghafte und maßlose Selbstliebe vergeht.
Narzissten sind in der Regel völlig egozentrisch und ständig damit beschäftigt, ein perfektes Bild von sich zu zeichnen – sie lechzen nach Anerkennung und Status, sie wollen beneidet werden. Es fehlen ihnen die Fähigkeiten, zuzuhören, Fürsorge zu empfinden und die Bedürfnisse anderer Menschen zu verstehen. Diese Selbstsucht kann dazu führen, dass sie keine echte und innige Bindung zu anderen entwickeln können – eine Bindung, die das Gefühl erzeugt, von einem anderen Menschen sowohl mit dem Kopf als auch mit dem Herzen verstanden und geliebt zu werden und sich bei ihm geborgen zu fühlen. Eine solche Bindung versetzt uns in die Lage, den Unterschied zwischen Selbstliebe und der Liebe für einen anderen Menschen zu erfahren. Es ist ein wichtiger Teil der kindlichen Entwicklung, zu lernen, wie man die Waage hält zwischen der Aufmerksamkeit, die man sich selbst schenkt, einerseits und der auf andere gerichteten Aufmerksamkeit andererseits. Dies ist eine grundlegende Lehre fürs ganze Leben, durch die das Entstehen von Gegenseitigkeit, Verantwortungsgefühl und Empathie mit anderen gefördert wird – die aber leider in der frühen Entwicklung eines Narzissten bitterlich fehlt.
Ein Narzisst mag mit einem draufgängerischen und lautstark prahlenden Ego durchs Leben gehen, sich aber – wie wir alle – unwissentlich nach der einzigartig beruhigenden und sicheren Zuflucht sehnen, die in der innig empfundenen Umarmung eines anderen Menschen zu finden ist. Obwohl Sie vielleicht den Narzissten als jemanden erleben, der Ihren Bedürfnissen und Gefühlen wenig...