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E-Book

Narzisstische Verletzungen der Seele heilen (Leben Lernen, Bd. 278)

Das Zusammenspiel der inneren Selbstanteile

AutorJochen Peichl
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783608108439
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Gleichgültige und wenig einfühlsame Eltern können ihr Kleinkind psychisch schwer schädigen. Eine narzisstische Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter kann die Folge sein. Mit dem neuen Ansatz der Teiletherapie zeigt der Autor, wie die narzisstische Wunde verstanden und therapeutisch geheilt werden kann. Leben wir im Zeitalter der Narzissten? Arroganz bei gleichzeitiger Entwertung anderer, Sucht nach Bewunderung und Bestätigung der eigenen Person, fehlende Empathie für die Umwelt - jeder kennt sie, die oft außergewöhnlich erfolgreichen Mitmenschen mit dem übergroßen Ego. Jochen Peichl verfolgt in diesem Buch einen neuen Ansatz, um besser zu verstehen, wie Narzissmus entsteht, welche Spielarten mit der Störung einhergehen und wie psychotherapeutische Hilfe aussehen kann: Aus dem Blickwinkel der hypno-analytischen Teiletherapie wird die Dynamik der narzisstischen Persönlichkeitsentwicklung als Lösungsversuch für frühe Verletzungen des Selbstwertgefühls begriffen. Daraus lassen sich Interventionen für die Therapie ableiten, welche gezielt diejenigen Persönlichkeitsteile stärkt, die in der Kindheit eine Selbstwertschwächung erfahren haben.  - Autor ist der bekannteste Vertreter der hypno-analytischen Teiletherapie - Zahlreiche Vorträge und Weiterbildungsveranstaltungen - Innovativer Ansatz zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung - Zahlreiche Interventionsbeispiele

Jochen Peichl, Dr. med., war bis Ende 2010 Oberarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Nürnberg und ist jetzt in freier Praxis und als Leiter des Institutes für Hypno-analytische Teiletherapie InHAT tätig. Weiterbildung u. a. in Traumazentrierter Psychotherapie und Ego-State-Therapie; aktuelle Arbeitsschwerpunkte in Theorie und Praxis: Borderline -Störungen, Trauma-assoziierte und dissoziative Störungen. www.jochen-peichl.de www.teiletherapie.de

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Leseprobe

I Narzissmus, ein paradoxes Konstrukt


Lassen Sie mich mit einem Fall aus der Praxis beginnen:

Herr F., ein 28-jähriger, allein lebender junger Mann, wurde mir nach Abschluss einer stationären psychiatrischen Behandlung überwiesen, in die er sich wegen akuter Depression und latenter Suizidalität freiwillig begeben hatte. Er hatte vor Kurzem ein Germanistik- und Französischstudium fürs Lehramt abgeschlossen, wollte als Lehrer arbeiten, hatte aber noch keine Stelle gefunden. Seine Eltern hatten sich scheiden lassen, als der Patient sieben Jahre alt war. Sein Vater war Arzt, der eine Krankenschwester geheiratet hatte, die ihm während des Studiums den Lebensunterhalt durch ihre Arbeit finanzierte und ihm so den Abschluss in Medizin ermöglichte. Zur Scheidung kam es, als seine Mutter eine Affäre mit einem anderen Mann hatte und die ehelichen Spannungen zwischen den Eltern immer unerträglicher wurden. Der Patient reagierte mit Hohn auf die Mutter und »ihre Lover« und äußerte sich sehr abschätzig gegenüber dem Vater wegen »seiner Heirat unter seinem Niveau mit einer Krankenschwester«. Den Kontakt zu der zwei Jahre älteren Schwester hatte er vor Jahren abgebrochen, weil er den Partner der Schwester »als unter seinem Niveau« empfand und ihn wegen seiner rechtskonservativen politischen Einstellung nicht ausstehen konnte. Der Patient selbst hatte wenige persönliche Freunde und distanzierte sich von den meisten anderen Menschen seines Umfeldes, er fühlte sich irgendwie dem Großteil der Menschheit gegenüber distanziert und überlegen. Herr F. hatte das Gefühl, dass er mit seinem überlegenen Wissen in neuerer und älterer Literatur eigentlich an der Universität hätte bleiben sollen. Die Entscheidung, in den Schuldienst zu gehen, sei nur pragmatisch auf Druck des Vaters gefallen, der er weiterhin sehr zwiespältig gegenüberstand. So konnte er sich nicht so recht entscheiden und zog sich innerlich von der Welt zurück und »pflegte meine Depression und den Weltschmerz«, wie er sagte. Bei allem, was er über seinen Vater erzählte, wirkte er herablassend und hochnäsig, obwohl er von ihm immer noch finanzielle Zuwendungen bekam. Er erwartete ferner, dass sein Vater die kritischen und verletzenden Bemerkungen, die er über ihn und seine neue Frau machte, großzügig ertrug und, falls der Patient keine Arbeit finden sollte, ihn auch weiter fördern würde. Er war bei verschiedenen Therapeuten gewesen und hatte sich für mich entschieden, weil ich in meinem Therapieraum viele Bücher stehen hatte und er hoffte, in mir einen Gesprächspartner zu finden, der »kein Fachidiot war, sondern sich auch noch für mehr im Leben interessierte als nur für Psychotherapie«.

Klarer Fall, werden Sie sagen, Herr F. leidet unter einer Störung seines Selbstwertsystems, und vieles spricht bei der manifesten Arroganz, Entwertung anderer und seiner Überheblichkeit dafür, dass man bei ihm die Diagnose einer »Narzisstischen Persönlichkeitsstörung« (F60.8 im ICD-10) bedenken sollte. Herr F. scheint über ein hohes Selbstwertgefühl zu verfügen und eine Fähigkeit, soziale Situationen nach seinen Spielregeln zu bestimmen, wenn nicht gar kühl und distanziert zu manipulieren.

Wenn ich aber an meine klinische Zeit zurückdenke, dann hatte ich in den letzten 20 Jahren als Verantwortlicher für zwei Abteilungen in einer Psychosomatischen Klinik die Möglichkeit, mit allen Patienten ein längeres Interview in der Diagnostikphase zu führen. Am Ende meines Interviews fragte ich immer: »Was für ein Ziel haben Sie für den stationären Aufenthalt? Was soll am Ende für Sie anders sein als heute?« Und die Antworten? Ca. 50% der Patienten sagten: »Ich möchte mehr Selbstwertgefühl haben«, und ca. 50% sagten: »Ich möchte mich besser abgrenzen können.« Wenn ich dann noch weiter fragte, kamen noch weitere konkrete Veränderungswünsche zum Vorschein, aber irgendwie war das das Grunderleben: die Frage nach dem eigenen Wert und der Eigenständigkeit. Dabei waren sie nur selten hochnäsig und arrogant wie Herr F., sondern eher depressiv gestimmt, scheu und sozial unsicher. Sie hatten alle das gleiche Problem: Wie kann ich mich besser spüren und in Beziehung zu anderen meinen Selbstwert behalten, ohne mich aufzugeben? Wäre es auch hier berechtigt gewesen, sie alle als narzisstische Persönlichkeitsstörung zu diagnostizieren? Nein – ich hatte da zunehmend meine Zweifel. Dennoch glaubte ich zu verstehen, dass am Ende aller Wege zurück in die Kindheit eine große Frage steht: Wer hat mich so geliebt, wie ich bin?

Ich begann, mich mit den vielfältigen Konzepten des Narzissmus zu beschäftigen, erlebte Höhen, wo Zusammenhänge zwischen Theorie und Praxis mir klar erschienen, und Tiefen, wo ich einsehen musste, dass sich die empirischen Befunde mit den Theorien total widersprachen und viele Theorien auch noch gegenseitig unvereinbar waren. Auch heute müssen wir weiterhin mit diesen inkonsistenten Befunden und deren sich widersprechenden Interpretationen leben. Ein paar dieser Probleme beim Gebrauch der Kategorie »Narzissmus« will ich Ihnen jetzt vorlegen.

Kennen Sie einen Narzissten, eine Narzisstin?


Was die Diagnose angeht, so schreiben Vater et al. (2013), dass es auffallend sei, wie stark die Prävalenzrate3 der narzisstischen Störung schwankt. In der Regel gehen wir von einer Prävalenzrate der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (im weiteren NPS) in der Allgemeinbevölkerung von 1% aus. Möglicherweise, so schreiben sie kritisch, wird die Diagnose in vielen Institutionen häufiger und ohne systematische diagnostische Abklärung vergeben – so aus der ersten Anmutung heraus. »Dies könnte darauf hindeuten, dass NPS als Diagnose an Patienten vergeben wird, die mit einer hohen Selbstwertschätzung (ggf. gekoppelt mit hoher Anspruchshaltung) gegenüber dem Therapeuten auftreten. Häufig scheinen Therapeuten vorschnell zum Label ›narzisstisch‹ zu greifen, ohne anhand klarer Kriterien zu überprüfen, ob die Voraussetzungen zur Vergabe der Diagnose erfüllt sind. Um einer fehlerhaften therapeutischen Einschätzung vorzubeugen, ist es dringend notwendig, verschiedene valide und reliable Messinstrumente zur Diagnosestellung hinzuzuziehen.« (S. 604)

Nachdem ich dieses Buch zu schreiben angefangen hatte und ich öfters in meinem Bekannten- und Kollegenkreis erzählte, über welchem Thema ich an meinem Schreibtisch brütete, habe ich einfach mal direkt gefragt: »Kennst du (Sie) eigentlich einen Narzissten oder eine Narzisstin?«

Bevor Sie jetzt weiterlesen, können Sie das auch mal tun und sich überlegen, wer Ihnen da einfällt. In welcher Funktion und Beziehung steht er/sie zu Ihnen? Männlich? Weiblich? Welche Eigenschaften?

Die meisten erzählen dann über einen Freund, ein Elternteil, einen Chef oder eine(n) Liebespartner/in, die völlig »selbst-zentriert« sei, alles kreise ständig nur um sie, und es schien mir, als würde beim Erzählen darüber der Stresslevel erheblich steigen. Sie beschrieben regelmäßig einen Menschen voller Paradoxe: selbstverherrlichend und mit sich selbst beschäftigt, leicht irritierbar und empfindlich in Bezug auf eine Rückmeldung von außen. Der Freund, Chef, Liebhaber sei emotional labil und neige zu extremen Gefühlen wie Euphorie, Verzweiflung und Wutausbrüchen. Dabei seien diese Bekannten oft charmant und sozial geschickt im Umgang mit anderen. Einige sagen, dass sie diese Menschen initial sehr attraktiv und anziehend fanden, aber die ständige Suche nach Bewunderung und Bestätigung ihnen bald auf die Nerven gegangen sei.

Alles, was die von mir Befragten damit beschreiben, findet sich in den formalen Kriterien für die NPS in der DSM-54 als einem durchgehenden Muster von Grandiosität, Selbst-Zentrierung und Selbstwertschätzung. Wenn man das alles aus etwas Distanz hört, könnte man denken, wir hätten hier die erwachsene Form eines kleinen Kindes vor uns, welches Eigenschaften zeigt, die wir alle von uns selbst als Kind kennen – oder wenn schon vergessen, von den eigenen Kindern. Dass diese Beobachtung viel Wahres enthält, werden Sie bald merken.

Aber was davon ist noch normal und was ist schon pathologisch?


Der Begriff Narzissmus – und mit dem Terminus »Trauma« ist es auch nicht viel besser – wird heute geradezu inflationär verwendet und taucht in den letzten Jahren immer häufiger in den Medien auf, um Manager in den Führungsetagen, zockende Banker, Immobilien-Haie und »Heuschrecken«, die rücksichtslos, kalt und menschenverachtend vorgehen, zu klassifizieren. Der Psychiater und Psychoanalytiker Joachim Maaz (2014) meint, heute eine »narzisstische Gesellschaft« ausgemacht zu haben, in der Kinder nicht mehr um ihrer selbst willen geliebt, sondern nur noch auf Erfolg getrimmt werden, um sich in dieser Konsum- und Wachstumsgesellschaft rücksichtslos durchsetzen zu können. Das ist sicher richtig – aber auch nicht besonders neu, diese gesellschaftliche, soziologische Narzissmusdiskussion hatten wir schon 1981 zu meinen Studienzeiten mit Thomas Ziehes Buch: »Narziß. Ein neuer Sozialisationstypus?« – und sollte uns dennoch immer wieder zum Nachdenken um unsere Werte und Ziel anregen (siehe dazu Häsing et al. 1981).

Wenn man sich die Definition von Narzissmus im DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) ansieht, dann wird darin ein Mensch beschrieben, der ein großes Bedürfnis nach Bewunderung hat, Fantasien von grenzenlosem Erfolg, grenzenloser Schönheit und idealer Liebe, ein Mensch, der mit hohen Ansprüchen durch die Welt geht und an seine Einzigartigkeit glaubt bei gleichzeitig fehlender Empathie für andere. Dies alles zusammengenommen ist sicher ein schwieriger Charaktermix, aber wer hat nicht den Wunsch, für sein Tun und...

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