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Nationalsozialismus im Bezirk Ried im Innkreis

Widerstand und Verfolgung 1938-1945

AutorGottfried Gansinger
VerlagStudienverlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl376 Seiten
ISBN9783706558563
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Der Bezirk Ried im Innkreis in Oberösterreich blickt auf eine bewegte Vergangenheit während der Zeit des Nationalsozialismus zurück. Zahlreiche Opfer und Täter hatten Verbindungen in den Bezirk; wie grausam die Bilanz des Nationalsozialismus in der Region aber wirklich war, ist erschreckend. Erstmals liegt nun eine fundierte Darstellung der Ereignisse im Bezirk Ried im Innkreis während der NS-Zeit vor. Rund 200 Interviews mit Zeitzeugen ergänzen das Bild und ermöglichen auch sehr persönliche Einblicke in das Geschehen. Die Publikation liefert Einzeldarstellungen zu Tätern wie zu Opfern von Inhaftierungen, Konzentrationslagern und Ermordungen und zeigt die Grausamkeit auf, mit der der Nationalsozialismus im Bezirk gewütet hat. Das Leid und die Verfolgung sollen vor Augen geführt werden, aber auch der Widerstand, der sich zwischen 1938 und 1945 formierte. Gottfried Gansinger erzählt mit diesem Buch die Geschichten der Opfer und arbeitet ein dunkles Kapitel der Region auf.

Gottfried Gansinger ist Autor von zahlreichen Buch- und Pressebeiträgen zur NS-Zeit. Von der oberösterreichischen Landesregierung wurde er zum 'Konsulent für Volksbildung und Heimatpflege' ernannt, 2009 wurde ihm das 'Bundes-Ehrenzeichen für Toleranz und Menschenrechte' verliehen. Er ist Leiter der Arbeitsgruppe Zeitgeschichte & Gedenkkultur und seit 2015 Mitglied der ARGE Lern- und Gedenkort.

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Leseprobe

Die Anfangsphase


In der Zwischenkriegszeit 1918–1938 waren im Bezirk Ried und im Innviertel Gesellschaft und Wirtschaft noch bäuerlich geprägt.

Der Bezirk Ried im Innkreis mit seinen 585,01 km² hatte 1939 eine Bevölkerung von 48.380 Personen. Seit 1923 hat sich das kaum verändert, ein Signal für wirtschaftliche Stagnation.

Zum Beginn des 20. Jahrhunderts war der Bezirk Ried großteils von der Forst- und Landwirtschaft geprägt. Handel, Fuhrwerk und Kleingewerbe partizipierten am zeitweiligen Wohlstand der Bauern.

Große Industriebetriebe fehlten, mittelständische Betriebe waren die Ziegeleien, Brauereien, Zimmereien, Baumeister und die Lederfabrik W. Vogl. Ein erster Industrieansatz war die Holzbearbeitungsfabrik Wilflingseder.

Zentrale Bedeutung für das Innviertel hatten das Kreisgericht, das Gymnasium, die Druckerei des Katholischen Pressvereins mit der Rieder Volkszeitung und ab 1937 die Garnison des Österreichischen Bundesheeres. Handel, Handwerk, Gewerbe und Banken wuchsen mit. Gericht und Mittelschule brachten Juristen und Professoren nach Ried. Die Bürger und Beamten entwickelten sich zu einer relativ gut verdienenden Mittelschicht, wurden selbstbewusst, emanzipierten sich von der unumstößlichen Kirchenhörigkeit und erlaubten sich Liberalität.

„Der Innviertler“ und seine Prägung

„Fest wehr’n“ lernte „der Innviertler“ schon in den Zechen. War dieser bäuerliche Typ bockig, ungehorsam, widerständisch? Angeblich hing man im entfernten Grenzland an der langen Leine – König und Kaiser waren weit, weit weg –, und in Südbayern war die Gegenreformation zahnloser als im „Österreichischen“. Das Niederringen des Bauernstolzes im oberösterreichischen Bauernkrieg erlebten die Innviertler nur als Zuschauer.

Gern war man liberal, völkisch, deutschnational, sportlich, antisemitisch, antikirchlich, freiheitlich. Die „Liedertafel Ried“ wurde 1846, der Turnverein Ried 1848 gegründet. Die zweite „romfreie“ Altkatholische Gemeinde Österreichs entstand 1871 in Ried.

Obwohl der Bezirk durchaus katholisch geprägt war (und ist) und die Christlich-Sozialen (CS) in den Wahlen immer mit Mehrheiten bedacht wurden, waren doch die „Großdeutschen“, „Deutsch-Nationalen“, „Freiheitlichen“ – oder wie auch immer sie sich genannt hatten – viel stärker als im Landesdurchschnitt.

Schon die ersten Wahlen in der neu gegründeten Republik Österreich 1919 zeigten dies im Stimmenverhältnis im gesamten Bezirk Ried und vor allem in einzelnen Gemeinden (siehe Tabelle 1).1

Tabelle 1: Stimmenverhältnis Wahlen 1919

Im Wohnhaus2 des Dr. Karl Graf, großdeutsch gesinnter Rechtsanwalt, verhandelte nach 1919 eine hohe bayerische Beamtendelegation über den Anschluss des Innviertels an Bayern, wenn schon „der Gesamtanschluss nicht möglich wäre“.3

Große Bedeutung hatte für das deutschnationale, antiklerikale Lager unter anderem die Turnerbewegung – auch in einigen Märkten und Orten. Die größte Privatturnhalle Österreichs ist im Besitz des „Turnvereins 1848“ Ried – diese wurde jahrelang von Jörg Haider, nun von H.C. Strache – als politische Bühne für seine „Aschermittwoch-Reden“ genutzt. Immer wieder wurde der Rechtsaußen-Flügel der Blauen mit markigen Sagern bedient.

Der Rest ist Österreich

Als Verlierer gingen Deutschland und Österreich aus dem Ersten Weltkrieg hervor. Die Monarchie wurde nach Ethnien zerschlagen, der Rest blieb das deutschsprachige Österreich. Niemand glaubte an ein selbständiges wirtschaftliches Überleben. Am 12. November 1918 erklärte die provisorische Österreichische Nationalversammlung „Deutsch-Österreich“ zum Bestandteil der Deutschen Republik. In den Friedensverträgen der Sieger wurde der Anschluss Österreichs an Deutschland – zur Schwächung Deutschlands – jedoch verboten.

Die ideologische und politische Zerrissenheit der Menschen und Parteien war nach der Ausrufung der demokratischen Republik grenzenlos. Die wirtschaftlichen Konsequenzen des Auseinanderbrechens der Monarchie mit seinen Märkten und Handelspartnern, der Kriegsnachwehen und der folgenden Weltwirtschaftskrise, Hyperinflation, Arbeitslosigkeit und Hunger radikalisierten die Gesellschaft.

Nationalsozialisten verfolgten ab 1932/ 1933 die Vereinigung mit Hitlers Deutschland immer gewalttätiger. Antisemitismus, Aufmärsche, Unruhen, Anschläge, Körperverletzungen nahmen zu.

Eine Vereinigung mit dem Deutschland Hitlers wollten nun die Christlichsozialen und viele Bürger nicht mehr.

Als zweite mörderische Bedrohung sahen Katholiken den Bolschewismus. Um diese beiden Ideologien entscheidend zurückzudrängen, wünschte sich ein Teil der Bevölkerung einen faschistischen, diktatorischen Staat, ein anderer Teil – der sich nicht durchsetzte – sozialen Ausgleich und Demokratie.

So mutierte Österreich zum autoritären „Ständestaat“.

„Ständestaat“ und „illegale Zeit“

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland am 30. Jänner 1933 aktivierte die Anhänger besonders im Innviertel. Nach dem vorangegangenen politischen Straßenkampf erreichten im Juni 1933 die terroristischen Aktivitäten einen brutalen Höhepunkt. Die österreichische NSDAP wollte ein nationalsozialistisches Regime „herbeibomben“: In Krems starb ein „christlich-deutscher Turner“, 30 wurden zum Teil schwer verletzt. Nach diesem Anschlag wurde der NSDAP in Österreich jede Betätigung verboten, die SA und SS aufgelöst. „Knapp 800 Personen konnten namentlich ermittelt werden, die 1933 bis 1938 im Zuge nationalsozialistischer Anschläge verwundet oder getötet wurden.“ Rund 150 Biographien von NS-Todesopfern dieser Zeit sind auf der Webseite des DÖW veröffentlicht.4

Die Akteure gingen in den Untergrund – massiv unterstützt vom nationalsozialistischen Deutschland. Auch im Bezirk Ried kam es ab 1. November 1933 zu einer Reihe von „Bölleranschlägen“. Nur durch Zufall gab es keine Schwerverletzten oder Toten. Der Anschlag auf die Wohnung von Rudolf Freyer sen. in der Eislaufgasse riss einen Fensterstock heraus und ließ die Fenster bis zum gegenüberliegenden Gasthof Knoglinger-Winklmayr (heute Einkaufscenter Weberzeile) zerbrechen.

Am 24. Mai 1934 verlor der 9-jährige Schüler Pepi Haslberger am Weg zur Schule in Ried durch einen Nazi-Böller ein Auge.

In Ried gab es viele Sprengkörper-Anschläge, aber auch in Aurolzmünster, Gurten, Kobernaußen (Lohnsburg) und Pramet krachte es.

Max Dachauer entdramatisierte 1939 in seinem Buch „Bomben, Granaten, Böller und Sprengstoff [… als] vollkommen harmlose Papierböller, die höchstens ein paar vaterländische Fensterscheiben in Scherben schlugen“.5

„Im Anfang war der Mord“6

Der NS-Terror, gelenkt – ja unter Hitlers Befehl gestellt und mit allen Mitteln von Nazi-Deutschland unterstützt, gefährdete vom Jänner 1933 bis zum 10. März 1938 durch Sachbeschädigung tausende Österreicher in ihrer Existenz. Insgesamt forderten diese Aggressionen 636 zum Teil schwer Verletzte und 46 Tote.7 Sind das nur ein „paar Fensterscheiben“?

Damit wollte man demonstrieren, dass Österreich nicht in der Lage sei, für Sicherheit zu sorgen und die Gesamtentwicklung nicht im Griff habe. Propagandamaterial, Waffen und Sprengstoff wurde meist aus Deutschland nach Österreich geschmuggelt. Das Innviertel war ein Knotenpunkt dafür.

Sepp (Pepi) Haslberger verlor durch einen Nazi-Böller ein Auge.

Die Täter und ihre Heimat

Das Netzwerk von frühen Innviertler NS-Parteigenossen führte zu einer Machtfülle, die bis in die „Kanzlei des Führers“ reichte. Die Kontakte „alter Kämpfer“ zu den bayerischen Nachbarn waren der Antrieb. Die Mitverwirkung von „Riedern“ in höchsten Regierungsstellen und am Terrorapparat bedrückt. Ernst Kaltenbrunner ist ein Synonym dafür.

Bölleranschlag in Ried: Manche dieser Sprengsätze hatten weitreichende Wirkungen, nur durch Glück waren keine Menschenleben zu beklagen.

NS-Sprengstoffanschlag auf den Orientexpress am 4. Oktober 1934 zwischen Oftering und Marchtrenk

Die undifferenzierte Beurteilung der Verantwortung von ehemals führenden Nationalsozialisten ist bis heute problematisch. Unter dem Kapitel: „Großartige Menschen bereichern Mettmach“ ist im 2011 erschienenen Heimatbuch8 zu lesen: Dipl.Ing. Anton Reinthaller, […] bildete 1934 „ein Komitee mit dem Namen ‚Nationale Aktion‘. Der Zweck war eine Befriedung und Beruhigung des öffentlichen Lebens, […] sowie Versöhnung mit den politischen Gegnern. Diese [Vorschläge...

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