4. Separierung, kultureller Zusammenhang und Globalisierung
Südostasien lässt sich nur verstehen, wenn man die Region als Ganzes immer wieder im größeren Kontext weltweiter Bewegungen betrachtet. Seitens der Wissenschaft geschieht allerdings eher das Gegenteil. Hier ist eine starke Separierung der Wissensentwicklung zu beobachten, die in der Kolonialzeit einsetzte und sich nach der Dekolonisation innerhalb der sogenannten Area Studies (Regionalstudien) fortsetzte. In der Kolonialzeit wurden von Verwaltungsbeamten vor Ort vorwiegend Studien über die Geschichte, das Rechtssystem, die Landwirtschaft und die Gebräuche der Gebiete und Gesellschaften verfasst, für deren Kontrolle sie zuständig waren, während taalambtenaren (»Sprachbeamte«) sowie katholische und protestantische Missionare mittels Grammatiken und Wörterbüchern die große Vielfalt der lokalen Sprachen erfassten. Der Großteil der Erkundungen zielte auf die Lösung praktischer Verwaltungsprobleme ab. Eine kleinere Gruppe von Wissenschaftlern führte spezielle Studien im Auftrag der Kolonialmächte durch, so etwa Christiaan Snouck Hurgronje, der Ende des 19. Jahrhunderts den Islam in Niederländisch-Indien erforschte.
Der Arbeitsbereich dieser wissenschaftlichen Gesellschaften und Institute spiegelte das Interesse am jeweils eigenen kolonialen Territorium wider. Beispiele dafür sind die Bataviaasch Genootschap van Kunsten en Wetenschappen (1788), die Société Asiatique (1822) und die Straits Asiatic Society (1877). Die meisten Forscher blieben bei ihren Studien innerhalb der Grenzen ihrer eigenen Kolonien und widmeten der Region kaum Aufmerksamkeit. Erst 1923 unternahm der österreichische Gelehrte Robert von Heine-Geldern den ersten wissenschaftlich fundierten Versuch, Südostasien als linguistisch und kulturell zusammenhängende Einheit zu beschreiben. Von Heine-Geldern gehörte zu einer sehr kleinen Gruppe von Wissenschaftlern, die vergleichende Studien betrieb. Diese Gruppe umfasste vor allem Archäologen, die die Verbreitung religiöser Einflüsse aus Indien erforschten. Eine Sonderstellung nahm der britische Verwaltungsbeamte J.S. Furnivall ein, der eine vergleichende Studie zur Kolonialverwaltung in Südostasien verfasste.[2] Das erste Institut, das sich explizit mit Südostasien befasste, befand sich übrigens nicht in Europa, sondern in China; es wurde 1928 an der Jinan-Universität in Shanghai gegründet.
Der koloniale Wissenserwerb war stark an koloniale Grenzen gebunden und durch praktische Probleme bestimmt. Daran hat sich nach 1945 weniger geändert, als man erwarten könnte. Der Dekolonisationsprozess, der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit aller Heftigkeit einsetzte, und der Kalte Krieg, der die Welt in neue Machtblöcke unterteilen sollte, machten es für die Vereinigten Staaten unerlässlich, sich schnell substantielle Kenntnisse über die neuen Nationalstaaten in Südostasien anzueignen. Das Aufkommen der Area Studies ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Das Ziel bestand darin, die neuen politischen Kräfte in den Regionen zu verstehen, wofür man vor allem auf Politikwissenschaftler, Soziologen und Ökonomen setzte. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges koppelten die westlichen Area Studies lokale gesellschaftliche Erkenntnisse an Prozesse von Modernisierung und nation building.
Der Nachdruck, den man auf die Area Studies legte, resultierte in der Institutionalisierung akademischer Wissensproduktion. Staatliche Gelder und bedeutende private Stiftungen wie die Ford Foundation und die Rockefeller Foundation finanzierten neue Fachbereiche, Lehrstühle, Zeitschriften, Kongresse und wissenschaftliche Gesellschaften, die zusammen den Südostasienstudien Gestalt verliehen. In den USA entwickelte sich die Cornell University zu dem bekanntesten Zentrum für Südostasienstudien. In Australien folgten die Australian National University in Canberra und die Monash University in Melbourne diesem Vorbild, während in Paris (EFEO, École Française d’Extrême-Orient), London (SOAS, School of Oriental and African Studies) und Leiden (KITLV, Koniklijk Instituut voor Taal-, Land- en Volkenkunde) ältere europäische Wissenszentren aus der Kolonialzeit weiterarbeiteten. Die wissenschaftliche Erforschung Südostasiens als Region begann also außerhalb der Region selbst. Erst als junge Akademiker aus unterschiedlichen südostasiatischen Ländern in den Hörsälen und Seminaren der Zentren für Regionalstudien zum ersten Mal zusammentrafen, konnten sie sich mit der Region Südostasien identifizieren.
Innerhalb Südostasiens bestand wenig Interesse an der Erforschung der Region insgesamt, und noch immer wird dort dem Begriff »Südostasien« wenig Bedeutung beigemessen. Die wichtigsten Universitäten orientieren sich in erster Linie an der eigenen nationalen Entwicklung. Aus thailändischer Perspektive sind zunächst die unmittelbaren Nachbarländer wie Kambodscha, Birma und Malaysia von Bedeutung. Diesen folgen Bangladesch, Indien, Singapur und Vietnam, während den Beziehungen zu China und den USA weit mehr Gewicht zugemessen wird als den Beziehungen zu Indonesien oder den Philippinen. Erst 1968 wurde in Singapur ein Institut gegründet, das sich mit der gesamten Region befasst. Dieses Institute of Southeast Asian Studies (ISEAS), dessen Gründungsdirektor der Historiker Harry Benda war, übte jedoch in Südostasien selbst nur einen bescheidenen Einfluss auf die Erforschung der Region aus.
Die Area Studies bestanden anfänglich aus einer Mischung von Sprachstudien, Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie. Später übernahmen Historiker und Anthropologen die Führungsrolle, so dass die Geschichtswissenschaft neben der Anthropologie zu einer der Kernwissenschaften der Südostasienstudien wurde. Die erste, 1960 in Singapur gegründete wissenschaftliche Zeitschrift für die Region hieß daher auch Journal of Southeast Asian History, 1969 wurde der Titel zu Journal of Southeast Asian Studies erweitert.
Die Auffassung der Historikerin Ruth McVey, Geschichte sei eine Kernwissenschaft der Südostasienstudien, wird durch die Tatsache untermauert, dass es gerade Historikern wie Barbara Andaya und Anthony Reid gelungen ist, Zusammenhänge herauszuarbeiten, die die Erforschung der Region als Ganzes rechtfertigen.[3] Inspiriert von Fernand Braudels Studie über den Mittelmeerraum skizziert Reid in seiner zweiteiligen Studie über Südostasien in der Zeit von 1450 bis 1680 das Bild einer zusammenhängenden Region, die bestimmt war von Handelsnetzen, unbändigem ökonomischem Wachstum und schneller Urbanisierung. Die Städte, in denen Malaiisch als Lingua franca fungierte, zeigten sich gastfreundlich gegenüber einer kosmopolitischen Händlerklasse, die unter dem Schutz der lokalen Fürsten den Motor eines wachsenden Wohlstands darstellte.
Historiker sind spezifischen kulturellen Themen nachgegangen, die das Verfassen einer zusammenhängenden Geschichte der Region sinnvoll machen. Wer heute durch Südostasien reist, entdeckt vielerlei Parallelen zwischen den unterschiedlichen Ländern. Die Menschen gleichen sich, ebenso ihre Art zu wohnen. Nach wie vor – früher war das noch verbreiteter – wohnen Menschen in Pfahlhäusern, ob am Meer und an den Flüssen oder in den Hügeln und Bergen, um sich gegen das Wasser, wilde Tiere oder Feinde zu schützen. Auch landschaftlich gibt es Parallelen: Tiefebenen mit Reisfeldern und Palmen, bewaldete Hügel und Berge, im Archipel einen Ring von Vulkanen. Die Nahrung besteht hauptsächlich aus Reis, Fisch und Früchten, zudem sind zahlreiche Palmprodukte – Palmwein, Zucker, Sago und Blätter der Lontarpalme – überall in der Region zu finden. Auffallend ist der Mangel an Viehhaltung im großen Stil, was sich aus dem vollkommenen Fehlen ausgedehnter Weidegründe erklärt. Anthony Reid identifiziert unter anderem Hahnenkämpfe, die Körpertätowierung, den Kleidungsstil und den Genuss von Betelnüssen als Phänomene, die in der gesamten Region vorkamen. Weit verbreitet war (und ist) der Glaube an eine Geisterwelt, bestehend aus Geistern der Ahnen, Geistern, die in Bäumen und an Quellen hausen, und Geistern, die Dörfern und Familien Schaden zufügen oder ihnen gerade Schutz bieten und Fruchtbarkeit verleihen.
Für die Zeit zwischen dem 8. und dem 14. Jahrhundert nennt der Historiker O.W. Wolters eine Reihe von Eigentümlichkeiten, die die Gesellschaften der Region miteinander teilten.[4] Diese Gesellschaften waren offen, nach außen hin orientiert und modern, das heißt, sie waren auf Erneuerung ausgerichtet. Geographische Bedingungen sorgten dafür, dass politische Systeme im Allgemeinen kleinformatig und polyzentrisch waren. Der aus einer Vielzahl von Inseln bestehende Archipel, die überwiegende Bewaldung der Region, ein vielerorts von shifting cultivation (Landwechselwirtschaft bzw. Wanderfeldbau) geprägtes landwirtschaftliches System waren Faktoren, die die Entwicklung großer Staaten verhinderten. In der Ebene, in der die Menschen dichter beieinander wohnten, spielten Institutionen und strikte Verfahrensregeln eine geringere Rolle als die Ausübung persönlicher Autorität. Die politischen Führer wurden nicht in erster Linie nach ihrem Rang oder Stand beurteilt, sondern nach ihrer Leistung. Soziale Ungleichheit war nicht festgefügt und schloss soziale Mobilität keineswegs aus. Charakteristisch für die...