EINFÜHRUNG:
VON DEN FORSCHUNGSVERFAHREN DER SOZIALWISSENSCHAFTEN UND VOM ZIEL DIESES BUCHES
Wir leben in einer Welt, die sich immer schneller verändert. Globalisierung, Individualisierung, Ökonomisierung und Mediatisierung sind einige der vielen Stichworte, unter denen diese Veränderungen untersucht und diskutiert werden. Parallel zum sozialen und kulturellen Wandel verändern sich die Gegenstandsbereiche der einzelnen Sozialwissenschaften, die vor immer neue Fragen gestellt werden, während gleichzeitig die Ansprüche an die unmittelbare Verwendbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse größer werden. Besonders deutlich ist dies etwa in der Kommunikationswissenschaft, die sich verstärkt mit digitalen Medien und mobilem Telefonieren, mit Computerspielen und Roboterkommunikation beschäftigen sollte, während gleichzeitig ihr klassisches Thema, das Feld öffentlicher Kommunikation als Basis von Demokratie, ebenfalls immer mehr Aufmerksamkeit verlangt. Aber auch in den anderen Sozialwissenschaften tun sich immer neue Forschungsbereiche auf, die theoretisch und empirisch bearbeitet werden müssen – von der Ethnologie bis zur Politikwissenschaft, von der Psychologie bis zur Soziologie. Sie benötigen neue und gute Theorien, um diese sich ändernde Welt zu beschreiben, zu erklären, zu verstehen und um sie handhabbar zu machen.
Die Frage, wie man1 sozialwissenschaftliche Theorien sinnvoll entwickelt und, allgemeiner, wie Theorien im Prozess der Wissenschaft entstehen, rückt damit immer mehr in den Vordergrund. Das bedeutet natürlich keineswegs, dass die bereits vorhandenen Theorien und Untersuchungen der sozialwissenschaftlichen Disziplinen obsolet und unbrauchbar werden – zum Teil müssten sie heute allerdings neu bedacht werden. Aber wichtiger noch: Wie entstehen neue gültige und brauchbare Theorien, deren Produktion ja zum Kern wissenschaftlichen Arbeitens gehört? Unabhängig von der Frage, ob sie richtig, wahr oder gültig sind und auch wofür sie gut sind – sie entstehen jedenfalls in der Sozialwissenschaft auf ganz unterschiedliche Weise: Sie können intuitiv erfunden werden, sie können einem großen Geist quasi von selbst zufliegen. Man kann versuchen, sie sich systematisch auszudenken. Man kann sie auch auf der Basis bereits vorhandener Einsichten entwickeln. Theorien können ferner wie bei Max Weber oder Niklas Luhmann das Ergebnis langjähriger empirischer und/oder theoriegeleiteter Auseinandersetzung mit spezifischen sozialen oder kulturellen Fragestellungen sein. Man kann Theorien aber auch systematisch entwickeln, indem man dafür gezielt Daten erhebt und sie im Hinblick auf die Konstitution von Theorie auswertet. Das ist das, worum es in dem vorliegenden Buch geht.
Im Hinblick auf ihre Alltagsprobleme wissen die Menschen eigentlich ziemlich gut, wie man das macht. Wem sich im ›normalen Leben‹ ein Problem in den Weg stellt, der denkt sich meist nicht irgendeine Lösung aus und probiert dann, ob es klappt – das wäre ein Testen von Hypothesen, das schnell im Desaster enden kann. Vielmehr wird man stattdessen versuchen, eine Lösung zu entwickeln, die mit hoher Wahrscheinlichkeit hilfreich ist. Man überlegt zum Beispiel, ob man vielleicht eine der eigenen Erfahrungen, die man auf einem anderen, ähnlichen Praxisfeld gemacht hat, zu Rate ziehen kann, um das Problem zu lösen. Und man befragt andere, von denen man vermutet, dass sie über den fraglichen Sachverhalt Bescheid wissen: Wenn ich zum Beispiel wissen will, wie ich in einer fremden Stadt zum Bahnhof komme, macht es Sinn, die Leute, die dort wohnen, zu interviewen.
Man versucht also im Alltag, systematisch ausgedrückt, durch Datenerhebung und Datenauswertung zu Lösungen zu gelangen. Auch wenn die Lösung von Alltagsproblemen nicht auf die Konstruktion von Theorien oder wissenschaftlichen Erkenntnissen hin angelegt ist, funktionieren solche Alltagsverfahren dennoch im Prinzip so ähnlich wie wissenschaftliche Forschung. Man kann sogar sagen, dass die wissenschaftlichen Verfahren aus den Alltagsverfahren abgeleitet sind, aber natürlich anderen, viel schärfer formulierten Kriterien genügen müssen, damit sie in der Wissenschaft akzeptabel sind. Während man im Alltag versucht, ein Problem zu lösen, zielt Wissenschaft zunächst auf Theorie, also auf die Konstruktion und Verwendung brauchbarer und allgemeiner Begriffe oder auf das Erkennen von allgemeinen Zusammenhängen, und darüber dann auf eine Lösung des Ausgangsproblems. Aber dennoch sind die Vorgehensweisen prinzipiell ähnlich.
Man kann dementsprechend sagen, dass man unter ›Theorieentwicklung‹ einen gezielten, problembezogenen, systematischen und datengestützten Prozess versteht, mit dessen Hilfe man von einer Ausgangsfrage bzw. einem Ausgangsproblem zu einer Theorie als Teil von Wissenschaft gelangt, mit der die Ausgangsfrage beantwortet und aus der schließlich auch eine brauchbare Lösung des Ausgangsproblems abgeleitet werden kann. Eine solche systematische Entwicklung von Theorie gehört ganz offensichtlich zur Arbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Wie man das macht, lernen Studierende der Sozialwissenschaften aber im Allgemeinen nicht. Wenn man sich die Lehrbücher zur empirischen Sozialforschung ansieht, wird auf der Grundlage wissenschaftstheoretischer oder anderer Vorannahmen in eine von zwei Arten von Sozialforschung eingeführt: Entweder in die sogenannte quantitative oder in eins der vielfältigen, sogenannten qualitativen Verfahren.2 Die quantitativen Verfahren unterscheiden sich von den qualitativen in den zugrunde liegenden Annahmen, im Vorgehen, in den konkreten Forschungsschritten und in den möglichen oder tatsächlichen Ergebnissen. Die qualitativen Verfahren unterscheiden sich aber auch untereinander, manchmal auf grundlegende Weise. Manchmal werden die quantitativen Verfahren als die standardisierten, die qualitativen Verfahren als die nicht standardisierten bezeichnet (AVERBECK-LIETZ/MEYEN 2016). Das ist jedoch keine klare Unterscheidung, weil alle Forschungsverfahren letztlich Regeln aufstellen, denen Forscherinnen folgen müssen. Die quantitativen sind dann eher standardisiert, die qualitativen sind es seltener, aber manche wie etwa Leitfadenintervies
•Die sogenannte quantitative Forschung – wir werden ihr Vorgehen in 1.6 skizzieren – bildet, sieht man von Ethnographie und Volkskunde ab, den methodologischen Mainstream der Sozialwissenschaften. Sie orientiert sich an der Naturwissenschaft und versteht ebenso wie diese das, was sie tut, als Messen von Ausprägungen von einzelnen Merkmalen. Weil alle quantitativen Vorgehensweisen von der Operation des Messens ausgehen, sich an formaler Logik und Mathematik orientieren und im Prinzip gleichartig angelegt sind, kann man auch von einem einheitlichen, formallogisch-mathematischen Paradigma in der Sozialforschung sprechen. Dessen theorierelevanter Ertrag konzentriert sich dabei auf das Testen vorhandener Hypothesen. Diese Hypothesen sind Aussagen der Form Wenn-dann bzw. Je-desto oder Ableitungen bzw. Kombinationen davon. Sie drücken bezogen auf die soziale Wirklichkeit funktionale Beziehungen aus – und das sollen sie auch, weil die quantitative Forschung auf der Suche nach räumlich, zeitlich und sozial übergreifenden Zusammenhängen ist, die sie als Gesetze begreift – wie eben auch die Naturwissenschaften nach allgemeinen funktionalen Gesetzen suchen.
Die Frage, wie man Theorien systematisch entwickelt, stellt sich in diesem Paradigma dann offensichtlich nicht. Man kann – natürlich unter Verwendung angemessener Begriffe – einfach Aussagen der Form Wenn-dann oder Je-desto formulieren, die sich auf den jeweiligen Gegenstandsbereich beziehen. Die Theorie setzt sich dann aus solchen Aussagen zusammen, man muss sie aber natürlich, bevor sie Teil des wissenschaftlichen Wissens werden, empirisch überprüfen. Und man muss beim Überprüfen sehr systematisch und kontrolliert vorgehen, wenn man die Wissenschaft nicht ruinieren will.
Von daher kann man sich die quantitative Sozialforschung als eine Art von Werkzeugkoffer vorstellen, in dem ähnlich strukturierte Instrumente liegen, mit denen man Daten erhebt und analysiert. Die Regeln, wie man diese Instrumente konstruiert und benutzt, ähneln sich für Befragung und Beobachtung, für Experiment und Inhaltsanalyse. Das gleiche gilt für die Auswertung der einmal erhobenen Daten. Deswegen ist quantitative Forschung ja auch arbeitsteilig möglich und kann an Hilfskräfte oder Agenturen, in absehbarer Zeit vermutlich in immer mehr Teilen auch an Software delegiert werden.
Ein solches Verständnis von Forschung hat natürlich vielfältige Konsequenzen für die möglichen Ergebnisse, aber auch für die Art, wie Forscher der Realität gegenübertreten. Die verwendeten Instrumente wie zum Beispiel Fragebögen dienen als Filter für das, was von der Realität berücksichtigt wird und was nicht. Die beteiligten Forscherinnen sind zwar für die Entwicklung und Bedienung der Instrumente und dann wieder für die Auswertung zuständig, gelten sonst aber eigentlich nur als störend. Denn der Forschungsgegenstand wie auch die Beziehung zu den...