Teil II – Grundlagen
6 Hirnpathologische Veränderungen bei Gewaltdelinquenz – sechs Kasuistiken und Literaturüberblick
Kolja Schiltz, Joachim G. Witzel, Josef Bausch-Hölterhoff und Bernhard Bogerts
Einleitung
In den Paragrafen 20 und 21 des Strafgesetzbuches wird festgelegt, dass Unfähigkeit oder verminderte Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach einer solchen Einsicht zu handeln, zu einer Aufhebung bzw. Minderung der Schuld des Täters führt. Das Strafgericht entscheidet, ob jeweils durch einen psychiatrischen Gutachter geklärt werden soll, ob psychiatrische Erkrankungen zum Tatzeitpunkt vorlagen, die eine Einschränkung der Schuldfähigkeit begründen könnten. Die Beauftragung eines Gutachters ist jedoch keinesfalls in jedem Prozess der Fall, insbesondere nicht, wenn sich im Prozessverlauf und in der Vorgeschichte keine Anzeichen zeigen, die auch für medizinische Laien erkennbar auf eine psychiatrische Erkrankung hinweisen. So kommt es in einem wohl nicht unerheblichen Anteil der Fälle nicht zu einer psychiatrischen Begutachtung, die eine vorliegende nicht von vornherein erkennbare Hirnerkrankungen aufdecken würde, die für die Frage der Schuldfähigkeit von Relevanz wäre. Ein Großteil der Straftäter, die als vermindert schuldfähig eingestuft werden, wird aufgrund anamnestischer Daten und psychopathologischer Befunderhebung während der psychiatrischen Explorationen als psychisch krank eingestuft. Die Anwendung hirnstrukturbildgebender Verfahren ist eher selten. Die hier aufgeführten Fälle (Abb. 6.1–6.6) sowie die daran anknüpfende Statistik (Abb. 6.7) belegen, dass hirnstrukturelle Schädigungen bei Straftätern (und somit für die Frage der Schuld relevante krankhafte seelische Störungen nach § 20 StGB) oft unerkannt bleiben, da sie im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen und der Gerichtsverhandlung bei der Bewertung des Routineverhaltens des Angeklagten durch den Laien nicht auffallen.
1 Neurobiologische Determination des „Willens“
Ursprünglich liegt dem Konzept der Bestrafung eines Täters für eine von ihm begangene Straftat die Annahme zugrunde, dass er diese Tat aufgrund einer freien Entscheidung begangen hat. Dieser Entscheidung liegt demzufolge ein „Wille“ zugrunde, den sich der Betreffende frei bilden konnte, ohne durch von ihm nicht zu verantwortende krankhafte Ereignisse in eine bestimmte Richtung beeinflusst worden zu sein. Diesem Konzept entsprechen die Regelungen des Strafgesetzbuches.
Nach aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen kann hiervon jedoch nicht uneingeschränkt ausgegangen werden. Vielmehr wurde festgestellt, dass das Konzept des seit dem Altertum postulierten „freien Willen“ vor dem Hintergrund neuer Forschungsergebnisse erneut hinterfragt werden muss. So wurde festgestellt, dass man durch die Messung von Gehirnaktivität vorhersagen kann, welche Handlungen von Probanden durchgeführt werden (Haynes et al. 2007), es kann also in gewisser Weise aus biologischen Markern die Willensbildung (als Resultat primärer neuronaler Prozesse) eines Menschen abgelesen werden. Bereits seit mehreren Jahrzehnten ist bekannt, dass Willensbildungsprozesse mittels ihrer elektroenzephalografischen Kennzeichnung abgebildet werden können, bevor sie den Probanden bewusst werden (Libet 2006, Libet et al. 1983). Deshalb wurde von einigen Autoren in der letzten Zeit argumentiert, dass aus der Perspektive einer deterministischen Sichtweise Verhaltensweisen, und damit auch delinquente und aggressive Verhaltensweisen, eine direkte und nicht im Grundsatz veränderliche Folge neuronaler Konstellationen sind (Karli 2006, Tancredi 2007). Bemerkenswert ist der Befund, dass biologisch festgelegte Faktoren die Reaktion eines Menschen auf seine Umwelt maßgeblich determinieren und damit bestimmte Verhaltensweisen einer bestimmten Person wahrscheinlicher machen (Tancredi 2007).
Im forensisch-psychiatrischen Kontext ist vor allem von Bedeutung, inwiefern die Vorhersagbarkeit von Verhaltenstendenzen durch Erkrankungen des Nervensystems beeinflusst wird, insbesondere, welche Handlungsfolgen spezifische Veränderungen bei Delinquenten haben können.
2 Aggressives Verhalten bei Hirnschädigungen
Das Studium erworbener Formen der Soziopathie brachte wesentliche Erkenntnisse über die Rolle bestimmter Hirnareale bei der Steuerung des Sozialverhaltens, insbesondere des Aggressionsverhaltens. So konnte gezeigt werden, dass Läsionen des orbitofrontalen Kortex zu einer „erworbenen Soziopathie“ führen können, die der intermittierenden explosiblen Störung (Coccaro 2000) ähnelt und die auf beeinträchtigte Exekutivfunktionen zurückgeführt wird (Blair 2004). Personen, die früh im Leben Schädigungen des präfrontalen Kortex erlitten haben, weisen Störungen der Regulation eines subkortikalen Regelkreises auf, womit eine deutlich vermehrte und überschießende reaktive Aggression verbunden ist (Anderson et al. 1999, Grafman et al. 1996). Blair (2004) hat diese Beobachtungen zu einem Modell zusammengeführt, dass die Regulation der Aggression und die Störung dieser Regulation grundlegend erklärt.
Insbesondere der Modulation diencephal angelegter reaktiver Aggressionsmuster durch obitofrontale Areale kommt hier Bedeutung zu. Veränderungen dieses Prozesses sind bei Patienten mit „erworbener Psychopathy“ beschrieben worden (Blair 2004). Ein in vielen Lehrbüchern und Fachartikeln wiederholt zitiertes Beispiel ist der Fall des Phineas Gage, eines Bahnarbeiters, bei dem es durch einen Arbeitsunfall zum Durchstoßen des Stirnhirns durch eine Eisenstange kam. Bei ihm wurden in der Folge des Unfalles deutliche Veränderungen der Persönlichkeit und des Verhaltens festgestellt. Es kam zu einer Vernachlässigung sämtlicher moralischen Werte, die dem Patienten vor dem Unfall stets sehr wichtig gewesen waren. Besonders auffällig war, dass er nur noch vermindert in der Lage war, unmittelbare Bedürfnisse zurückzustellen, um längerfristige Planungen durchzuführen. Eine genaue Charakteristik der in diesem Fall vorliegenden Schädigung wurde durch Damasio und Mitarbeiter 1994 rekonstruiert. Für die Entwicklung und Aufrechterhaltung emotionaler und sozialer Beziehungen sind auch weitere Areale von Bedeutung: So ist beispielsweise auch dem anterioren Gyrus cinguli eine Bedeutung für die Fähigkeit zur adäquaten sozialen Interaktion zuzumessen (Rudebeck et al. 2006). Nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen ist anzunehmen, dass er zusammen mit dem medialen präfrontalen Kortex, dem Temporalpol sowie dem posterioren superioren temporalen Sulcus (temporoparietale Verbindungszone) eine wichtige Rolle bei der Bewertung sozialer Interaktion sowie bei dem Vorgang des sich in eine andere Person hinein Versetzens hat („Mentalizing“ oder „Theory of Mind“) (Baird et al. 2006; Frith und Frith 1999, 2006).
Insgesamt zeigt die Literatur, dass für die Kontrolle sozialen Verhaltens ein komplexes Netzwerk neuronaler Strukturen wichtig ist, das auch bei Schädigung einzelner Komponenten seine Funktion unter Umständen nicht mehr voll erfüllen kann. Insofern muss beachtet werden, dass Schädigungen, die Teile dieses Netzwerks betreffen, zu schweren Auffälligkeiten des Sozialverhaltens in belastungs- oder aggressionsprovozierenden Situationen führen können, bei üblichen Alltagsanforderungen aber nicht zu Auffälligkeiten führen.
Im Folgenden werden Fallbeispiele von Straftätern vorgestellt, die durch Zufall bei einer Untersuchung des Gehirns als neuropsychiatrisch krank identifiziert wurden, ohne dass dies zuvor bei der juristischen Aufarbeitung ihres Falles aufgefallen wäre. Alle hier dargestellten Fälle betreffen Täter, die als voll schuldfähig verurteilt wurden und demzufolge Insassen einer Justizvollzugsanstalt und nicht einer forensischen Psychiatrie sind.
Fall 1 (s. Abb. 6.1)
In diesem Fall handelt es sich um einen Familienvater, der vor der Indextat hinsichtlich Straftaten nicht aktenkundig und unauffällig gewesen war. Laut Urteil hatte er in einer plötzlichen und für keinen der während des Gerichtsverfahrens befragten Zeugen vorherzusehenden Handlung die eigene minderjährige Tochter vergewaltigt. Als seine Ehefrau in diesem Zusammenhang Widerstand leisten wollte, tötete der Mann sie. Im Gerichtsverfahren wurde der Täter zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Es wurde keine Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit festgestellt. Während der Gefängnisstrafe wurde allerdings anlässlich der Behandlung durch den Gefängnisarzt festgestellt, dass der Betroffene berichtete, Stimmen zu hören. Zum Ausschluss hirnorganischer Ursachen wurde eine kranielle Magnetresonanztomografie angefertigt. Diese ergab den Befund einer deutlichen Defektzone im Bereich des linken frontotemporalen Überganges (Pfeil).
Abb. 6.1: Coronare T1w cMRT eines bislang unauffälligen Mannes (42 Lj.), der seine minderjährige Tochter vergewaltigt und die Ehefrau umgebracht hatte: deutlicher Defekt links frontotemporal.
In der Eigenanamnese des Mannes ließen sich keine eindeutigen Hinweise auf neurologische Erkrankungen erkennen.
Fall 2 (s. Abb. 6.2)
Bei dieser Straftäterin handelte es sich um eine ältere Frau. Sie wurde festgenommen, da ihr Ehemann verstorben war, den sie erst wenige Jahre zuvor geheiratet hatte. Der Familie des Ehemannes war aufgefallen, dass dieser trotz guter körperlicher Gesundheit recht plötzlich verstorben war, und es kam zu einer Obduktion. Dabei wurde festgestellt, dass der Mann vergiftet worden war. Während der Ermittlungen gab die Ehefrau zu, den Ehemann...