Einleitung
Die jahrelange Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit ADHS und deren Eltern (von denen überzufällig häufig ein Elternteil selbst betroffen ist) bringt immer wieder aufs Neue die Erkenntnis, dass in der zentral wichtigen Elternberatung des multimodalen Behandlungsansatzes nicht nur die Anleitung zur Konsequenz, zu klaren Regeln und Strukturen für den Transfer in den Alltag wesentlich ist. Es zeigte und zeigt sich immer deutlicher, wie dies kommuniziert wird: zunächst im Elterntraining durch das Modell des Trainers und durch konkrete „Selbsterfahrung“ im Rollens piel; und dann durch die Eltern bei Instruktionen, beim Einfordern von Regeln, bei Erklärungen und Konfliktentschärfungen ihrem Nachwuchs gegenüber.
Seit 2003 werden verschiedene Kurse angeboten: „Elterntraining für Elterntrainer“ (ETKJ) in Deutschland, Österreich und in der Schweiz sowie in den „Kommunikations- und Selbstwert-Trainings-Seminare für ältere Jugendliche und junge Erwachsene mit ADHS“. In diesen Kursen wird immer deutlicher, wie entscheidend die Aufnahmefähigkeit für die vermittelten Inhalte von den „silent messengers“, der Mimik, Gestik und Körperhaltung, aber vor allen Dingen auch vom Tonfall (und natürlich auch der spezifischen Wortwahl) abhängen.
Kinder und Jugendliche mit ADHS verstehen offensichtlich Sprache schlichtweg einfach etwas „anders“. Sie kommen mit „Metasprache“ schlecht zurecht, fassen z. T. wirklich „wörtlich“ auf. So ist z. B. etwas Schwieriges langweilig, weil es eine lange Weile dauert. Sie reagieren zudem früher oder später leider „allergisch“ (im wahrsten Sinne des Wortes) auf Worte und Formulierungen, die sich wiederholen, die „extrem“ sind, die gereizt, vorwurfsvoll, jammernd, anklagend, drohend, moralisierend-appellierend, verhaltensverschreibend geäußert werden.
In einer förderlichen, unterstützenden und notwendigerweise auch länger anhaltend anleitenden Erziehung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS (mit und ohne Komorbiditäten) geht es entsprechend vordringlich darum, in der Familie einen veränderten „Kommunikationsstil“ zu entwickeln, mit eindeutigen und präzisen Ansagen und Aufforderungen, die klar, freundlich und wertschätzend transportiert werden.
Um die Lebensqualität nicht nur für die Kinder und Jugendlichen, sondern auch für die anderen Familienmitglieder wirkungsvoll zu verbessern, kristallisierten sich aus der Durchführung von Elterntrainings über viele Jahre hinweg zwei entscheidende Wirkfaktoren heraus:
- Akzeptanz der neurobiologischen Hintergründe von ADHS mit Verstehen der „anderen“ Funktionssteuerung/Selbststeuerung sowie der typischen entwicklungspsychopathologischen Aspekte,
- einfühlsame und wertschätzende Vermittlung eines spezifischen Kommunikationsstils (nach dem Motto „weniger ist mehr“), besonders bei der Ankündigung und Einforderung von Regeln und Erklärungen v. a. im Kontext Lernen und Deeskalierung drohender Konflikte.
In diesem Elterntrainingsmanual ETKJ ADHS geht es nicht darum, nach „etwas Psychoedukation“ Eltern zur Selbsthilfe anzuregen oder „Kochrezepte“ zu vermitteln für typische und spezifische Krisensituationen. Letztendlich sollen Eltern mit Hilfe von umfassendem „Störungsbildteaching“ und bei Bedarf immer wieder erneutem (und geduldigem) Erklären der Dysregulation der autonomen Selbststeuerung zur Analyse der Vorlaufsituationen eines Konfliktes befähigt werden. Unnötige krisenhafte Zuspitzungen können so oft im Vorfeld erkannt und somit abgefangen oder schnell beigelegt werden.
Dies gelingt am besten, wenn die Inhalte des Trainings klar, plastisch und anschaulich (d. h. auch mit sehr konkreten, von Eltern real berichteten Beispielen unterlegt) vermittelt werden, um die tatsächliche und aktive Bereitschaft der Eltern für eine Veränderung unter Einbindung der bereits vorhandenen Ressourcen zu erwirken.
Nach Grawe (2004) erscheint es daneben äußerst wichtig, darauf zu achten, dass wirklich nur Veränderungen und Ziele formuliert werden, die nachvollziehbar und plausibel sind und die in den Familien auch tatsächlich erreicht werden können (d. h. „machbar“ erscheinen).
Dafür ist unabdingbar notwendig, dass der Therapeut nicht nur inhaltlich überzeugend und sicher wirkt, sondern auch einen positiven/sympathischen Eindruck auf die Eltern macht. Dies ist essentiell bei ADHS! Als Lehrender und Explorierender im Konflikt ist er freundlich, warmherzig, extrovertiert, optimistisch und etwas humorvoll. Beim Therapeuten sind Körperhaltung, Mimik, Gestik und vor allem der Tonfall ausschlaggebend dafür, ob er „ankommt“. Er sollte besonders darauf achten, emotional negativ besetzte Formulierungen zu vermeiden (was sinnvollerweise auch richtig beübt werden sollte. Hierfür bietet sich der Kurs „Train the Trainer ETKJ“ als Ergänzung zum vorliegenden Manual an).
Eltern suchen in einem solchen „Erziehungskurs“ Orientierung, nehmen viel „so nebenher“ wahr, was möglichst positiv für sie sein sollte. Eltern sollten – der neuropsychotherapeutischen Ausrichtung folgend – während eines Trainings auch angenehme Zustände erleben, z. B. gemeinsam Lachen können. Mit einer guten Grundstimmung lernt es sich leichter – eine Binsenwahrheit. Aber nur bei guter Befindlichkeit kann jemand mit ADHS wirklich Informationen aufnehmen, an die er sich dann später auch erinnern kann.
Im ETKJ ADHS dürfen entsprechend keinerlei unsensible Bemerkungen oder direktive Vorgaben („Sie müssen …“) bezüglich erwünschter Veränderungen gemacht werden. Allerdings wird den Eltern aber auch nicht „freigestellt“, was und wie sie etwas verändern können, wenn bei ihnen ein echter Veränderungswunsch bezüglich immer wiederke hrender Problemeskalationen besteht. „Psychologisierende Interpretationen“ z. B. bezüglich der psychodynamischen Hintergründe, Bindung und Beziehung mit hintergründig subjektiven Hypothesen des Trainers ohne stimmigen und bestätigten Abgleich mit Elternteilen ist im ETKJ ADHS tabu.
Das ETKJ ADHS basiert ursprünglich auf dem „Münchner Trainingsmodell“ nach Paul Innerhofer (1977) mit einer der Kernaussagen, dass Eltern nicht nur diejenigen sind, die ihr Kind unter Umständen leider am stärksten „schädigen“ können, sondern das Kind auch weit stärker als außenstehende Personen unterstützen und fördern können – wenn sie wissen, wie das funktionieren kann.
Erweitert wurde der Ansatz dahingehend, dass Eltern im Training dazu verholfen wird, das Kind mit dem typischen Wahrnehmungs- und Reaktionsstil bei ADHS in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt zu sehen, um das Verhalten des Kindes/Jugendlichen nachvollziehen zu können. Wird die Symptomatik vor allem unter dem Aspekt des „gestört Werdens“ der Eltern durch das Verhalten der Kinder/Jugendlichen gesehen. Dies triggert unwillkürlich den Impuls bei den Eltern, instinktiv wehren, kritisieren, strafen zu wollen (wie sie dies bisher erfolglos schon machten). Verstehen die Eltern die Hintergründe wirklich, erkennen sie, dass die Kinder/Jugendlichen sich tatsächlich eben nicht so verhalten/anpassen können und sie unter ihrer Steuerungsschwäche tatsächlich leiden.
Die leider eindeutig entwicklungspsychopathologischen Aspekte bei ADHS im Lebensverlauf (vgl. Neuhaus 2007) machen gewisse Einstellungsänderungen der Erziehenden nötig, um eine alters- und störungsspezifisch positive erzieherische Haltung mobilisieren zu können, die dann im sogenannten „Verhaltensmanagement“ und im veränderten Kommunikationsstil ihren Niederschlag finden.
Das ETKJ ADHS ist als ein Elterntraining zu verstehen, bei dem wünschenswerterweise beide Elternteile präsent sind (bei Trennung und Scheidung evtl. auch mit den neuen Partnern – mit Teilnahme unter Umständen in verschiedenen Kursen) oder einem Elternteil und einer miterziehenden Bezugsperson (Tagesmutter, Großeltern, etc.). Geschwisterkinder unter 18 Jahren sollten nicht zugelassen werden, da leider erfahrungsgemäß Erläuterungen aus dem Training später unter Umständen kontraproduktiv im Konflikt eingesetzt werden können.
Voraussetzung für ein gelingendes Elterntraining ETKJ ADHS ist, dass zumindest bei einem Elternteil ein deutlicher Leidensdruck besteht, der Wille, die Symptomatik als Störung zu akzeptieren, eine gewisse Mitarbeitsbereitschaft, Umsetzungswilligkeit und ausreichende Kognitionsfähigkeit (sowie ausreichendes Sprachverständnis der Sprache, in der es vermittelt wird).
Es liegt an der „Kunst der Vermittlung“, wie der eher skeptischere, kritischere oder weniger interessierte Elternteil mit „ins Boot“ geholt wird – allerdings unter der Voraussetzung, dass keine „Ideologie“ im Hintergrund steht. Das verhaltenstherapeutisch neuropsychotherapeutisch konzipierte ETKJ ADHS ist angelegt als ein Kompakttraining in der Gruppe am Wochenende mit mindestens zwei Nachberatungsabenden ca. zwei bis vier Monate später.
Es hat sich gezeigt, dass der Transfer wesentlich besser gelingt, wenn sehr intensiv und verdichtend zunächst an konkreten Beispielen der Wahrnehmungs- und Reaktionsstil bei ADHS verstanden werden kann, dann stimmig und nachvollziehbar Einstellungsänderungen erarbeitet und Strategien erläutert werden – und danach das Ausprobieren über einen längeren Zeitraum (mit Nachbesprechung/Korrektur in derselben Gruppe zeitversetzt später) erfolgen kann.
Nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene mit ADHS als Elternteile, haben zum Teil noch Schwierigkeiten mit einer realistischen Selbsteinschätzung oder können sich oft auch selber nicht so gut...