1 Geschichte
1.1 Von der „sittlichen Verwilderung“ zu „Verhaltensstörungen“ – Zur Begriffs- und Ideengeschichte der pädagogischen Reflexion über „schwierige Kinder“
Rolf Göppel
Einleitung
Seit wann gibt es eigentlich „Verhaltensstörungen“? Auf diese Frage sind zwei ganz unterschiedliche Antworten möglich. Zum einen könnte man darauf antworten: „Verhaltensstörungen“ gab es schon immer, es gibt sie, seit es Erziehung gibt. Die kindliche Entwicklung ist nun einmal ein sensibler und störanfälliger Prozess und Erziehung ist nun einmal ein spannungs- und konfliktreiches Geschehen. Deshalb ist davon auszugehen, dass es zu allen Zeiten auch besonders schwierige, krisenhafte und gefährdete Entwicklungsprozesse und besonders belastete Erziehungsverhältnisse gab. Zum anderen könnte man darauf aber auch antworten: „Verhaltensstörungen“ gibt es eigentlich erst seit den 1950er Jahren. In der Zeit davor taucht der Begriff in der Literatur nirgendwo auf und die Eltern, Erzieher und Lehrer früherer Epochen hätten mit diesem Begriff überhaupt nichts anzufangen gewusst.
„Verkommene Söhne“ und „missratene Töchter“ – Die Schatten- und Leidensseiten der Erziehung und die Vielfalt ihrer Begrifflichkeiten
Dass es freilich Kummer, Konflikte und Katastrophen zwischen Eltern und Kindern schon immer gegeben hat, dass Erziehung durch alle Epochen hindurch nicht selten auch mit heftigen Emotionen verbunden war, mit Gefühlen von Ärger, Wut, Empörung, Enttäuschung, mit Schuld-, Scham- und Versagensgefühlen, mit Sorgen, Zukunftsängsten, mit Gefühlen der Hilf- und Ratlosigkeit – und zwar sowohl auf Seiten der Eltern als auch auf Seiten der Kinder – davon ist auszugehen. Und man kann es in den Texten der Weltliteratur nachlesen. Einen kenntnisreichen Führer stellt in dieser Hinsicht das schöne Buch: „Verkommene Söhne, missratene Töchter – Familiendesaster in der Literatur“ von Peter von Matt (1995) dar. Dass Eltern und Erzieher, aber auch Autoren von Erziehungsschriften sich zumindest seit der Aufklärungsepoche, ab der es eine intensive und systematische Reflexion über Erziehungsfragen und über die „Perfektionierbarkeit des Menschengeschlechts“ gibt, immer auch Gedanken darüber gemacht haben, wie es zu diesen verhängnisvollen Abweichungen und Fehlentwicklungen kommen konnte, was die möglichen Ursachen für die „Verkommenheiten“ und „Missratenheiten“ der Kinder sind, wie ihnen vorzubeugen und wie ihnen gegenzusteuern ist – auch dafür gibt es vielfältige historische Belege. Die berühmt-berüchtigte Sammlung „Schwarze Pädagogik“ etwa, in der Rutschky (1977) pädagogische Textauszüge der Aufklärungspädagogik zusammengetragen hat, kreist zu großen Teilen um diese Thematik. Das Panoptikum pädagogischer Exempel, Mahnungen und Ratschläge, das dort ausgebreitet wird, stellt dabei freilich in erster Linie eine „Anleitung zur systematischen Drangsalierung der Kinder unter dem Namen der Erziehung“ dar (Flitner 1982, 12). Angstmachen und Bedrohen, Demütigen und Beschämen, permanentes Kontrollieren, Reglementieren und Moralisieren, das sind ganz überwiegend die pädagogischen Mittel, die empfohlen werden.
Eltern und Erzieher haben zwar selten explizit ausformulierte, aber immer und unvermeidlich doch implizite, aus ihren eigenen Lebenszusammenhängen und ihren eigenen Wertorientierungen stammende Idealvorstellungen von der „Wohlgeratenheit“ und „Wohlerzogenheit“ des Nachwuchses im Kopf. Kaum ein Kind kann diesen Idealen je vollständig entsprechen. Solange es sich mit seinen persönlichen Ausprägungen dieser Merkmale im Durchschnittsbereich dessen bewegt, was auch bei anderen Kindern die Regel ist, gelten diese Merkmalsausprägungen eben als die Besonderheiten des Temperaments und des Charakters des jeweiligen Kindes und müssen das erzieherische Verhältnis nicht ernsthaft belasten. Wenn aber die Diskrepanz zwischen den erzieherischen Perfektionsidealen und der konkreten Entwicklungsrealität einzelner Kinder und Jugendlicher besonders eklatant ist, dann entstehen nicht selten jene oben beschriebenen heftigen Emotionen und dann taucht die Frage auf, wie dieses Diskrepanzphänomen angemessen bezeichnet werden kann, wie jene Kinder, die hier in ausgeprägter Weise von den Erwartungsnormen abweichen, zutreffend benannt werden sollen.
Die Liste der in der Geschichte der Pädagogik vorfindbaren Bezeichnungen für diese Problemlage ist lang und vielfältig: da ist unter anderem die Rede von „sittlich verwilderten“, „moralisch schwachsinnigen“, „psychopathisch minderwertigen“, „neurotischen“, „erziehungsschwierigen“, „schwererziehbaren“, „entwicklungsgestörten“ und „verhaltensgestörten“ Kindern. In jüngeren Fachpublikationen tauchten als Alternativen zur Benennung der Klientel auch noch die Begriffe „gefühls- und verhaltensgestört“ (Opp 1998) und „psychosozial deformiert“ (Myschker 1994) auf. Kobi (1996) hat gar den Begriff „verhaltensoriginell“ vorgeschlagen, im Rahmen der Ausschreibung einer einschlägigen Professur fand sich kürzlich die Formulierung „Pädagogik/Didaktik erwartungswidrigen Verhaltens“. In jüngster Zeit ist zudem häufig von „Kindern mit herausforderndem Verhalten“ die Rede. Und dann kommen auch noch all die psychiatrischen Kürzel hinzu, die die beklagten Abweichungen von den Erwartungsnormen auf bestimmte Defekte im Gehirnstoffwechsel zurückführen und die inzwischen so weit in die Alltagspsychologie diffundiert sind, dass sie häufig fast synonym zum Begriff der Verhaltensstörung verwendet werden: MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion), POS (Psychoorganisches Syndrom), ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung), ADHS (Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung).
Die historische Relativität von Kindheit und von „kindlichen Verhaltensstörungen“
Eine historische Betrachtung eines sozialen Phänomens macht immer auf die Wandelbarkeit des sozialen Umgangs mit diesem Phänomen aufmerksam, darauf, dass die Art und Weise, wie wir heute die entsprechenden Probleme wahrnehmen, benennen und deuten, nicht die einzig mögliche ist, dass andere Generationen unter Umständen einen ganz anderen Blick auf die Sache hatten, ganz andere Erklärungen für selbstverständlich und evident hielten.
Dies gilt schon für das soziale Phänomen Kindheit insgesamt: Dabei galt „Kindheit“ lange Zeit als historisch relativ unveränderliche, „zeitlose“ anthropologische Grundgegebenheit. Erst in den 1970er Jahren wurde mit den Büchern von Ariès (1975) und deMause (1977) die historische und damit sozial-relativistische Betrachtung von Kindheit populär. Dabei ist es erstaunlich, wie unterschiedlich diese beiden Pioniere die Sozialgeschichte der Kindheit (re)konstruiert und die großen historischen Entwicklungslinien einmal als Verfalls- und einmal als Fortschrittsgeschichte bewertet haben. Natürlich hängen an diesen unterschiedlichen Kindheitskonstruktionen auch jeweils durchaus unterschiedliche Konsequenzen im Hinblick auf die Einschätzung der Verbreitung und Wahrnehmung kindlicher Verhaltensstörungen in unterschiedlichen historischen Epochen.
Wenn nach Ariès (1975, 209) die mittelalterliche Gesellschaft tatsächlich „kein Verhältnis zur Kindheit“ hatte, das heißt keine bewusste „Wahrnehmung der kindlichen Besonderheit, jener Besonderheit, die das Kind vom Erwachsenen, selbst dem jungen Erwachsenen, kategorial unterscheidet“, wenn diese Gesellschaft tatsächlich überhaupt „keine Vorstellung von Erziehung“ gehabt hat und erst unsere moderne Welt „von den physischen, moralischen und sexuellen Problemen der Kindheit geradezu besessen“ ist (Ariès 1975, 560) – wie könnte es dann in jener Gesellschaft eine Aufmerksamkeit für kindliche Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten gegeben haben?
Wenn andererseits nach deMause (1977, 12) die Geschichte der Kindheit „ein Alptraum ist, aus dem wir gerade erst erwachen“, wenn Kinder in früheren Epochen massenhaft und massiv traumatisiert wurden und wenn erst nach und nach im Laufe der Geschichte sich so etwas wie elterliche Empathie, die Fähigkeit der Erwachsenen, sich in die Bedürfnisse der Kinder einzufühlen, historisch herausgebildet hat, dann sollte man – nach all dem, was man heute über die kindlichen Entwicklungsbedürfnisse und die Folgen solcher Traumatisierung weiß – annehmen, dass angesichts dieser ungünstigen Bedingungen des Aufwachsens im Mittelalter kindliche Verhaltensstörungen extrem weit verbreitet waren.
Was wandelt sich? – Zum Verhältnis von Phänomenen, Benennungen und Deutungen
Prinzipiell sind im Verhältnis der drei Momente „Phänomen – Bennennung – Deutung“ sehr unterschiedliche Relationen denkbar:
- Die Phänomene selbst, das heißt die Kindheit und die in ihr vorherrschenden Problemlagen und Störungsbilder haben sich grundlegend gewandelt und entsprechend auch die Bezeichnungen und Erklärungsmuster, die die Pädagogen dafür jeweils ersonnen haben. Früher waren also die Kinder tatsächlich „sittlich verwildert“ oder „psychopathisch“ oder „schwererziehbar“ und heute sind sie eben „verhaltensgestört“, „psychosozial deformiert“ oder „hyperaktiv“.
- Die Phänomene selbst, das heißt die Schwierigkeiten, die die Kinder mit ihrer Umwelt haben und die ihre Umwelt mit ihnen hat, sind im Kern stets die gleichen geblieben, aber die jeweiligen Betrachtungsperspektiven, die Deutungsmuster und die Erklärungsansätze haben sich gewandelt und in der Folge zu jeweils veränderten Begriffsvorschlägen zur...