1.
VALENTINSTAG
Wenn du die Augen aufschlägst und der Albtraum trotzdem nicht aufhört, bleibt dir nichts anderes übrig, als etwas zu unternehmen. Unsere vorrangige Aufgabe ist jetzt, uns zu erinnern. Die zweitwichtigste Aufgabe ist zu handeln. Erinnern, handeln und wieder von vorn. Seit jenem Tag ist niemand von uns mehr der Alte. Aber wir sind am Leben. Und im Gedenken an all diejenigen, die gestorben sind, werden wir uns für den Rest unseres Lebens erinnern, und wir werden handeln.
Man hat uns immer erzählt, dass es für uns US-Amerikaner nichts gebe, was wir nicht bewältigen könnten; sofern wir es uns nur fest genug vornähmen, könnten wir alles erreichen. Alles – nur unser Problem mit der Waffengewalt, das können wir nicht lösen. Sobald die Rede darauf kommt, heißt es: »Oh Mann, das ist schrecklich. Echt schlimm, dass wir nichts dagegen tun können.« Als handelte es sich um höhere Gewalt oder eine Naturkatastrophe – etwas, was nicht in unseren Händen liegt und dem wir hilflos zusehen müssen. Etwas, das sich aller Logik und Vernunft widersetzt.
Wir leben in Florida; Naturkatastrophen sind hier keine Seltenheit. Was am Valentinstag 2018 passiert ist, war keine Naturkatastrophe, kein Akt höherer Gewalt. Was an jenem Tag passiert ist, war menschengemacht – was im Umkehrschluss bedeutet, dass wir als Menschen etwas dagegen tun können.
Unsere Generation ist dazu verpflichtet, etwas dagegen zu tun.
Wir hatten im Unterricht mal das Thema Entropie, und man könnte fast sagen, dass an jenem Tag etwas über unsere Schule hereingebrochen ist, das ebenfalls zu Unordnung führte. Aber seit dem Amoklauf stellen wir fest, dass aus diesem Chaos heraus etwas Machtvolles entstanden ist. Unser Universum strebt nach dem Zustand der Entropie, während die Geschichte allen Lebens und der menschlichen Zivilisation eher dem Kampf gegen die Entropie gleichkommt – dem Streben nach Zusammenhalt statt nach um sich greifendem Chaos. Dem Bedürfnis zusammenzuarbeiten, anstatt einander zu bekämpfen. Zu lieben statt zu hassen.
Aber ich greife vor.
Ich kann nicht für alle sprechen. Wäre ich immer noch mein Freshman- oder Sophomore- oder Noch-ein-Halbjahr-Junior-Ich, würde ich mich jetzt hinstellen und zu großen Erklärungen ansetzen. So anmaßend und so übertrieben selbstsicher war ich damals und bin es womöglich bis zu einem gewissen Grad immer noch. Aber wenn ich eines aus dem Amoklauf gelernt habe, dann dass mein Freshman- oder Sophomore- oder Noch-ein-Halbjahr-Junior-Ich an jenem Tag nicht hätte überleben können. Und genau das ist der Ausgangspunkt für dieses Buch: Wir mussten alle unser Leben retten, und wir mussten alle unsere ganz eigenen Antworten auf das finden, was passsiert war – aber wie sich herausstellte, waren sie alle Spielarten ein und derselben Antwort. Genau deshalb hat uns der Amoklauf stärker gemacht, anstatt uns zu vernichten.
Ich könnte also hier stehen und die heldenhafte Geschichte eines Teenagers erzählen, der so cool war und so leidenschaftlich für Recht und Gerechtigkeit eintreten wollte, dass er seine Kamera zückte, während der Attentäter noch um sich schoss. In Wahrheit musste ich an etwas denken, worüber ein Lehrer nur Tage zuvor gesprochen hatte: dass im Lauf der Geschichte Milliarden Menschen auf diesem Planeten gelebt hätten, sich die Welt aber nur an einige Hundert von ihnen erinnere. Sprich: Alle anderen sind bloß Komparsen, die dem Vergessen anheimfallen. Mein Lehrer sprach in diesem Zusammenhang von Demut, aber dafür bin ich zu stur und ichbezogen. Meine Überlegungen gingen eher in diese Richtung: »Wird aus mir auch bloß ein Komparse? Läuft wirklich alles nur darauf hinaus? Auf eine Kugel im Kopf?« Mein Entschluss lautete: »Okay, ich mag vielleicht bloß ein Komparse sein, aber wenn ich schon sterben muss, dann will ich noch eine verdammte gute Geschichte erzählen, die die Leute sich anhören werden.«
Deshalb habe ich bei meiner Handykamera auf Aufnahme gedrückt. Ich war quasi in die Rolle des Kriegsreporters in einem Krisengebiet geschlüpft, der seine Fragen stellen und sich nur auf eine simple Sache konzentrieren muss. So habe ich Ruhe bewahrt. Und um ehrlich zu sein – abgesehen von dem Bruchteil einer Sekunde, als ich kurz Angst hatte, dachte ich wirklich, es wäre ein Probealarm. Und selbst als mir klar wurde, dass das nicht stimmte, hatte ich immer noch Schwierigkeiten, die Echtheit des Ganzen anzuerkennen. Ganz ehrlich? Ich glaube nicht, dass es sich für mich jemals echt anfühlen wird.
Und jetzt kommt etwas Wichtiges: Lauren, meine Schwester, die bei dem Amoklauf vierzehn war, ist weder stur noch ichbezogen. Nachdem alles vorbei war, heulte sie derart hysterisch, dass ich nur noch weg von ihr wollte. Freundinnen von ihr waren ermordet worden, und ich ertrug das Gefühl nicht, nichts tun zu können, um den Schmerz meiner Schwester zu lindern. Man könnte fast sagen, dass diese ganze Bewegung in dem Moment ihren Anfang genommen hat, zumindest für mich: als ich versuchte, meiner Schwester aus dem Weg zu gehen.
Aus genau diesem Grund wusste ich auch, dass ich dieses Buch nicht allein würde schreiben können. Also mache ich hier einen Punkt und gebe an sie weiter.
Also, am besten fange ich an mit dem Tag, an dem alles passierte. Es war der 14. Februar, Valentinstag. Wenn ich die Grundstimmung beschreiben müsste, die davor herrschte, würde ich sagen, es war ein rundum toller Tag: Alle waren einfach nur fröhlich, verschenkten Pralinen und Blumen und umarmten sich, es war, als würde ein Strahlen durch die ganze Schule gehen. Ich weiß noch, dass ich zu meinen Freundinnen sagte: »Wenn ich noch ein einziges Pärchen sehe, das sich für später verabredet, oh Gott, dann muss ich echt kotzen.«
Als der Alarm losschrillte, saß ich in meinem Medientechnik-Kurs, die letzte Stunde an diesem Tag. Wir hatten am Morgen schon einen Probealarm gehabt, insofern dachten wir noch, da hätte sich jemand zum Valentinstag einen Scherz erlaubt. Alle lachten, und wir ließen uns Zeit damit, unsere Sachen zusammenzupacken. Ich weiß noch, dass ich meinen Freund Sam anschnauzte, er solle schneller machen, weil er besonders lang brauchte, und es ist schon komisch, wenn ich mir vorstelle, dass auf der anderen Seite des Schulgeländes da schon die Hölle los war.
Mir dämmerte irgendwie, dass etwas faul war, als wir die Treppe runterkamen, weil ich durchs Fenster über den Buswendeplatz sah und dort irre viel los war – bis ich erkannte, dass da Kinder davonrannten. Ein Blick in die Gesichter, und mir war klar, dass etwas nicht stimmte. Ich kann es wirklich nicht anders ausdrücken, aber es war wie im Kino: Alles wirkte wie ausgeleuchtet. Allerdings hatten die Lehrer uns auch erzählt, dass uns demnächst eine Amokübung bevorstünde mit Platzpatronen und Schauspielern, die hin und her rennen, und Kindern, die so tun, als würde auf sie geschossen und so weiter, und entsprechend lachten die Kids um mich herum und machten Witze mit ihren Freunden. Trotzdem war mir insgeheim klar, dass irgendwas komplett verkehrt war. Die Gesichter dieser Kinder … ihr Gesichtsausdruck … es war einfach nur furchtbar. Ich weiß auch noch, wie ich hinten am Ende des Flurs noch mehr Kids gesehen habe, die mit ihren Rosen und Pralinen wegrannten. Mädchen schrien, und Jungs heulten. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Um mich herum dachten sie immer noch, das alles wäre ein Witz, aber irgendwie wusste ich genau, dass etwas nicht stimmte. Also schnappte ich mir meine vier besten Freunde aus dem Kurs, und als die immer noch lachten und rumalberten, weiß ich noch, wie ich sie angeschrien habe: »Leute, irgendwas ist da passiert!«, und wie sie bloß sagten: »Lauren, das ist nicht echt, das ist nur ein Probealarm.«
Trotzdem hatte ich eine Heidenangst. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mich umgesehen und die Umgebung genau in Augenschein genommen habe, weil unser Dad beim FBI arbeitet und schon mehrere Schießereien erlebt hat. Deshalb sagen unsere Eltern auch jedes einzelne Mal, wenn wir ins Kino gehen oder zum Shoppen, dass wir uns auch ja nach den Notausgängen umsehen und für den Fall, dass etwas passiert, gleichmäßig atmen sollen. »Versucht, so entspannt wie möglich zu bleiben, um nicht in Panik zu geraten.«
Ich bin 2003 zur Welt gekommen, also war das Schulmassaker an der Columbine High School vor meiner Zeit, der 11. September war vor meiner Zeit, und ich bin seit dem Kindergarten mit sogenannten Code Red Drills groß geworden. Meine Generation ist darauf trainiert, auf derlei Ereignisse zu reagieren.
Entsprechend verfiel ich in diesen merkwürdigen Ruhemodus, obwohl ich sonst immer der echt ängstliche Typ bin. Ich habe mich einfach nur darauf konzentriert, wieder zurück in den Medientechnik-Raum zu kommen, weil ich wusste, dass wir dort am sichersten wären. So schnell ich konnte, versuchte ich, die Treppe wieder hochzurennen, aber die ganzen Juniors und Seniors riefen: »Hört auf rumzustressen, Leute, es ist alles in Ordnung.« Als ich endlich fast dort war, sah ich die Schulbibliothekare auf dem Flur, und auf einmal plärrten ihre Walkie-Talkies los, und sie hörten sich irgendwas an, und dann sah ich nur noch, wie sie kreideweiß wurden und einer anfing zu schreien: »Code Red! Code Red! Sofort alle zurück in die Klassenzimmer!«
Nur dachten die Kids immer noch, es wäre nicht echt. Sie lachten. So sehr waren wir an diese Drills gewöhnt. Oder vielleicht war es auch so, dass das Hirn einfach nicht glauben kann, was es nicht glauben will. Wir liefen zurück zu unserem Raum. Mein Lehrer hatte mal gesagt, wenn etwas vorfallen sollte, müssten wir uns ins hinterste...