Freiheit für den »kleinen Kanarienvogel« – Aslı Erdoğan und die Türkei
Eine Einführung
Beginnen wir mit ihrer Selbsteinschätzung. »Ich bin Schriftstellerin und kein Mensch in der Türkei nimmt mich politisch ernst«, sagte Aslı Erdoğan nach ihrer Freilassung der FAZ-Journalistin Karen Krüger. Vielleicht habe man mit ihrer Verhaftung die Nachricht senden wollen: »Es kann jeden Intellektuellen treffen.« Oder: »Es war nur ein blöder Zufall.« Aslı Erdoğan geht sogar so weit zu sagen, sie sei »politisch nicht aktiv«. Gewiss, ihre Mitarbeit bei der inzwischen verbotenen Tageszeitung Özgür Gündem könne als »politisch« klassifiziert werden – aber ihre Kolumnen seien »unpolitisch« gewesen. Kein Wunder also, dass sie überrascht war, als schwer bewaffnete Polizisten an ihrer Tür standen. Ein Missverständnis, ein Witz, dachte sie.
Blickt man Anfang 2017 von außen auf die Türkei, dann erscheint jede Zeile Aslı Erdoğans und jede Seite ihrer Literatur höchst politisch, und deshalb ist ihre Verhaftung alles andere als ein tragischer Zufall. Schmerz, Diskriminierung, Ausgrenzung, Gewalt, Unterdrückung, Völkermord, Erinnerung, Trauma, Erniedrigung, Folter, Mord, Verzweiflung, Armut: Alles wird literarisch eindrucksvoll thematisiert, ohne dass sich die Autorin politisch vereinnahmen ließe. Ihre Texte über die Gräueltaten der türkischen Sicherheitskräfte in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten im letzten Frühjahr sind deshalb bleibende Zeugnisse, weil Aslı Erdoğan es versteht, beispielsweise den Schmerz einer Mutter bei der Suche nach der Leiche ihres Sohnes unmittelbar spürbar zu machen. Die verkohlten Körperteile und andere Bilder aus dem Jahr 2016 lassen sich nicht einfach vergessen, so nachdrücklich wie Aslı Erdoğan sie beschreibt. Gefühle sagen hier mehr als jede offene politische Kritik. Aslı Erdoğan schafft Literatur im Rauch, im Feuer der politischen Realität in der heutigen Türkei.
Genau das machte Aslı Erdoğans Wirken als Schriftstellerin bereits in den Neunzigerjahren spannend und politisch. Schon in ihren frühen Texten war eine Mission erkennbar, sie sind Ausdruck, Kampf, Widerstand, ja ein Aufschrei gegen Diskriminierung. Damals thematisierte sie das Leben von Schwarzen und den Rassismus, der Teile der türkischen Gesellschaft prägte. Für Aslı Erdoğan ist das Leugnen des Genozids an den Armeniern – sie verwendet den armenischen Begriff »Große Katastrophe« – ein Verbrechen. Den Schmerz der Opfer zu leugnen ist für sie der Versuch, die Opfer ihres Traumas und damit ihrer Stimme zu berauben, statt sich der Geschichte offen zu stellen und den Weg für eine Versöhnung zu bereiten.
Natürlich stehen die Frauen – ihre Diskriminierung, ihre Kraft, ihr Mut und ihre Solidarität – im Mittelpunkt von Aslı Erdoğans Schreiben. In einem Interview mit der türkischen Journalistin Ayşe Arman (Hürriyet) sagte sie: »Ich habe im Gefängnis noch etwas gelernt. In diesem Leben sollte man die wahre Freundschaft von Frauen erwarten. Männer, sie mögen mich entschuldigen, reden immer großspurig, bleiben jedoch an solchen Tagen auf der Strecke. Nicht als Liebhaber meine ich. Viele männliche Kollegen haben nichts von sich hören lassen, aus Angst, als PKK-Anhänger verhaftet zu werden. Es gab auch bei den Frauen einige Enttäuschungen, aber sie waren selten.«
Erdoğans Zeilen über Yaşar Kemal sollte ich gleich anfügen. Nicht um die vorstehenden Zeilen zu relativieren, doch um zu zeigen, was ihr die Freundschaft dieses legendären Schriftstellerkollegen bedeutet hat. Sie erhielt den Sait Faik, einen der bedeutendsten Literaturpreise der Türkei, aus der Hand Yaşar Kemals und schrieb in ihrem Nachruf über ihn: »Ich habe von ihm keine Zeile gelesen, aus der nicht tiefe Weisheit gesprochen hätte. Ich schätzte ihn dafür, dass er mich jede Woche besuchte, meist am Freitag, als ich für den Adam Verlag arbeitete, und er immer mit einem Päckchen Zigaretten kam. Mit einem Blick erkannte er meinen Geldmangel. Er erzählte aus seiner Jugend und versöhnte mich mit meinem Schicksal. Wenn meine Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der Niederlage unerträglich werden, geht meine Hand immer zu diesem Päckchen Zigaretten, das nie aufgebraucht ist.«
Zurück zu Aslı Erdoğans Literatur. Lassen Sie mich als Politiker auf die türkische Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte eingehen, die der Rahmen für das Schaffen von Aslı Erdoğan waren. Auch auf die Frage, warum trotz allem, was wir über die schlimmen Zustände in der Türkei lesen, Präsident Erdoğan noch immer über breiten Rückhalt im Land verfügt. Sie werden, so hoffe ich, damit auch einige Essays der Autorin politisch besser einordnen können.
Der Aufstand der »Schwarzen Türken« – »Siyah Türkler«
»Beyaz Türkler« – der Begriff »weiße Türken« wurde zwar nicht von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in die politische Debatte eingeführt, erst mit ihm jedoch bekam der Begriff seine heutige politische Bedeutung. Ursprünglich die Bezeichnung für europäisch-orientierte, gut ausgebildete, säkulare Türken, die für die moderne Türkei und die Republik von Atatürk standen, allerdings mit der liberalen Demokratie des Westens nicht immer etwas anfangen konnten, entwickelte er sich zum Kampfbegriff. Präsident Erdoğan hat mit seinem Bekenntnis, ein »schwarzer Türke« zu sein, den Finger in zwei politische Wunden der modernen türkischen Elite gelegt: die Ausgrenzung der Muslime und die der Kurden. Die säkulare Türkei hat jahrzehntelang nicht nur die Existenz der Kurden geleugnet, sondern auch konservative Muslime weitenteils vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Die auf das Dreieck Istanbul – Izmir – Ankara gestützte Ökonomie, aber auch die Politik waren fest in der Hand der »weißen Türken«. Das unterentwickelte anatolische Hochland war nicht nur von der türkischen Politik und dem Bildungssystem vergessen worden, ihm fehlte auch der Zugang zum Weltmarkt und es wurde zum Globalisierungsverlierer.
Dies begann sich in den Achtzigerjahren mit Turgut Özal zu ändern, der das Land zunächst als Ministerpräsident, dann als Staatspräsident führte. Özal hatte sich gegen den Willen der Generäle des Putsches von 1980 durchgesetzt und 1983 die Wahlen gewonnen. Als Ministerpräsident öffnete er die Türkei in Richtung Weltmarkt und liberalisierte die Wirtschaft. In wenigen Jahren wuchsen die Städte Anatoliens wie Konya, Kayseri, Gaziantep zu Millionenstädten mit einer neuen ökonomischen Elite. Die Töchter dieses selbstbewussten neuen Bürgertums drängten in Kopftüchern an die Hochschulen und wurden zurückgewiesen, sie waren gezwungen, Perücken zu tragen oder gar zum Studium ins westliche Ausland zu gehen. Ihre Ausgrenzung war die Botschaft des säkularen Staates an die neue aufsteigende konservative Schicht. Die Kopftuchdebatte war in der Türkei nie nur eine Debatte über die Religionsfreiheit. Sie war immer auch eine Debatte über das politische System und darüber, wer den öffentlichen Raum besetzte, wer sichtbar sein durfte und wer nicht. Die jungen Frauen mit Kopftuch stellten die säkulare Ordnung der »weißen Türken« mit einem halben Quadratmeter Tuch in Frage. Und zumindest anfangs bedienten sie sich recht erfolgreich pluralistischer Ideale, um für ihr Anliegen liberale Unterstützer außerhalb ihres Milieus zu gewinnen.
Der Aufstieg Präsident Erdoğans und seiner Partei AKP ist eine Folge dieses politischen Wandels in der Türkei.
Recep Tayyip Erdoğan hatte erkannt, dass er mit den beiden Tabuthemen – Kurdenkonflikt und Freiheit bei der Ausübung des Islams – selbst in den Reihen der »weißen« Elite punkten konnte und diese zum Programm erklärt. Es ist kein Zufall, dass die effektivsten Proteste gegen das Kopftuchverbot an der Bosporus-Universität, einem Hort der »weißen« Eliten und übrigens Universität Aslı Erdoğans, stattfanden. Die AKP bot zwar keine klaren Konzepte zur Lösung dieser Probleme an, thematisierte sie jedoch und wurde somit zum Sprachrohr der ausgeschlossenen und unterdrückten »schwarzen Türken« mitsamt ihrer liberalen Bündnispartner, die mit der AKP die Hoffnung auf eine demokratische Modernisierung innerhalb einer mehrheitlich muslimischen Gesellschaft verbanden.
Es wäre zu kurz gegriffen, den politischen Erfolg und die noch immer stabile Wählerbasis der AKP erklären zu wollen, ohne auf die soziale Frage einzugehen. Präsident Özal hatte zwar grundlegende ökonomische Reformen eingeleitet. Die soziale Frage war für ihn jedoch kein wichtiges Anliegen gewesen. Sein Erfolg hatte auf dem Mittelstand (»orta direk«) aufgebaut. Nicht so die AKP, die auf den massiven sozialen Wandel im Land politisch reagierte. Lebten 1970 noch fast siebzig Prozent der Bevölkerung auf dem Land, leben heute fast achtzig Prozent in den Städten. Dabei blieben viele in den Dörfern ökonomisch auf der Strecke, aber auch in den Slums der Städte. Ihnen reichte die AKP die Hand, schickte nach ersten Wahlerfolgen in den Kommunen CARE-Pakete und Kohle zum Heizen an die Armen. In der Regierung öffnete und reformierte die AKP die Gesundheits- und Bildungspolitik und legte ein beeindruckendes Wohnungsbauprogramm vor, das fast ausschließlich auf die schwächeren Schichten zielte. Die türkischen Massen trafen zum ersten Mal auf so etwas wie einen Sozialstaat. Sogar eine bescheidene Sozialhilfe für Bedürftige wurde eingeführt. Gewiss darf man dabei nicht an den deutschen Sozialstaat denken, aber für die Armen des Hochlandes und der Slums der Städte war es eine helfende Hand, die die Menschen von den traditionellen Parteien nicht gewohnt waren. Die AKP, oder was von ihr als Partei im Schatten von Präsident...