Die Liebe auf dem Weg
Wie wählt man seinen Startpunkt? Es gibt zu diesem Gegenstand zwei große Philosophien, die man ganz banal so wiedergeben könnte: Entweder man geht von zu Hause los oder von woanders. Diese Entscheidung ist gewichtiger, als es den Anschein hat, und etliche Pilger haben mir anvertraut, dass sie ihnen schwergefallen ist. Das Ideal – wenn auch nicht meins – liegt offenbar darin, dass man wie der erwähnte Savoyarde aus seinem Haus tritt, Frau und Kinder umarmt, den Hund (der mit dem Schwanz wedelt, weil er mitgenommen zu werden hofft) noch einmal hinter den Ohren krault, das Gartentor hinter sich zuzieht und loswandert.
Wer jedoch diese Möglichkeit nicht hat, weil er zu weit entfernt wohnt oder über zu wenig freie Zeit verfügt, muss seinem Ziel vorab näher rücken, sich so weit wie möglich an die spanische Grenze begeben und die Route so verkürzen, dass sie auf ihn zugeschnitten ist. Er läuft also nicht von zu Hause los – aber von wo dann? Es gibt eine Menge Wege und unzählige mögliche Startpunkte. Die Entscheidung fällt schwer. Sie hängt von einigen objektiven Faktoren ab: Wie viel Zeit hat man? Welche Orte möchte man besichtigen? Welche Reiseführer hat man gekauft? Was haben womöglich die Freunde berichtet? Es kommen aber auch subtilere Faktoren ins Spiel, über die man bisweilen nicht so gern spricht.
Hier kann ich gleich eine Tatsache erwähnen, die der Leser früher oder später ohnehin entdecken wird und die ihn genauso wenig überraschen dürfte, wie sie mich überrascht hat: Der Jakobsweg ist ein Ort der Begegnung, um nicht zu sagen des Anbaggerns. Diese Dimension beeinflusst zahlreiche Pilger, besonders bei der Wahl ihres Startpunktes. Dabei muss man sich immer fragen, welchem Herzensbedürfnis die Pilgerreise entsprungen ist. Denn es gibt auf dem Jakobsweg verschiedene Gangarten des Gefühls.
Die erste ist jene der Frischverliebten, die ihren Seelenverwandten bereits gefunden haben. In diese Kategorie gehören Pärchen, Lebensgefährten, Verlobte. Sie sind oft noch ganz jung: Turteltäubchen mit Nikeschuhen, kerngesund und mit Kopfhörern auf den Ohren. Für sie geht es darum, ihrer Beziehung den letzten Schub zu geben, der sie vor den Traualtar, aufs Standesamt oder doch wenigstens hinter den Kinderwagen führen wird. Der Jakobsweg bietet Gelegenheit für eine zärtliche Annäherung. Sie wandern Hand in Hand am Rande der Fernstraßen entlang, und wenn ein Lastwagen vorbeibraust, rieselt ihnen ein köstlicher Schauer den Rücken hinab und bringt sie noch enger zusammen. Auf dem geheiligten Weg ziehen sie von Kirche zu Kirche, und der Verliebtere von beiden hofft, dass dies dem anderen bestimmte Gedanken eingibt. Abends in den Klöstern vermischen sich dann in den Waschräumen Lachsalven und nackte Haut zu einer fröhlichen Sarabande. Die Mönche, die sich damit auskennen, achten darauf, die Sanitäreinrichtungen nicht nach Geschlechtern zu trennen. Auf den Pritschen wird geflüstert und geturtelt, und weil man nicht so einfach zum Akt übergehen kann, verspricht man einander ewige Liebe und Treue.
Für diese Verliebten ist der Jakobsweg hilfreich, aber sie sollten nicht zu lange auf ihm unterwegs sein. Nach ein paar Tagen könnten bei solchen Paaren, die sich oft in Gruppen zusammenfinden, die Sinne auf Abwege geraten. Der Versprochene gerät in Versuchung, ein anderes Dekolleté als das seiner Anverlobten in Augenschein zu nehmen. Und was die in hartem Kampf eroberte junge Frau angeht, so wird sie womöglich Vergleiche anstellen, aus denen nicht immer der siegreich hervorgeht, der sie bis an diesen Ort geführt hat. Und so beschränken diese Pärchen ihre Anstrengungen auf die Schlusskilometer. Sie legen nur die allerletzten Etappen zurück. Man begegnet ihnen in großer Zahl in Galicien. Wie jene Vögel, die dem Reisenden das nahe Meer anzeigen, sind sie für den Pilger ein Hinweis darauf, dass Santiago de Compostela nicht mehr fern ist.
Ganz anders verhält es sich mit der zweiten Kategorie: den Wanderern, die nach Liebe suchen, sie aber noch nicht gefunden haben. Im Allgemeinen sind sie schon etwas älter. Sie kennen das Leben, manchmal auch die leidenschaftliche Liebe und sogar die Ehe. Dann ist das Glück zerbröselt, und jetzt müssen sie wieder ganz von vorn beginnen. Irgendwann kam ihnen der Jakobsweg als die Lösung in den Sinn. Er ist nicht so abgehoben wie eine Partnersuche-Website und ermöglicht es ihnen, Menschen aus Fleisch und Blut und Schweiß gegenüberzustehen. Die Erschöpfung nach dem Marsch macht das Herz weich. Der Durst und die Blasen an den Füßen bringen die Pilger einander näher und bieten Gelegenheit, dem anderen etwas Gutes zu tun oder selbst umsorgt zu werden. Zu manchen Menschen ist die Stadt unbarmherzig mit ihrem schrecklichen Konkurrenzdruck und ihren tyrannischen Leitbildern, die den Dicken ebenso verdammen wie den Dürren, den Armen, den Hässlichen oder den Arbeitslosen. Als Pilger aber entdecken sie eine Gleichheit, die jedem seine Chance lässt.
Besonders wenn die Natur sie nicht gerade begünstigt hat, ziehen es diese Pilger vor, in weiter Ferne zu starten, um sich alle Chancen zu sichern. Man begegnet ihnen über Hunderte Kilometer hinweg immer wieder und kann Beobachtungen anstellen: wie diese Fußkranken der Liebe einander näherkommen, sich beschnuppern, sich wieder voneinander entfernen oder aber zusammenfinden; wie sie ihr Ziel verfehlen und wie grausam sie bisweilen zu einem anderen sind, der ihnen gern sein Herz öffnen möchte, ihnen aber nicht gefällt. Man sieht, wie nach einigen Etappen die Illusionen zerbrechen, wenn derjenige, der die ersehnte große Liebe hätte sein können, beim Erklimmen eines Hanges schließlich eingestanden hat, bereits verheiratet zu sein und seine Frau zu lieben. Aber man sieht auch, wie sich richtige Paare bilden, und hofft, dass sie miteinander glücklich werden.
Frauen brechen oft in Gruppen auf, wahrscheinlich, um einander Mut zu machen. Ich bin welchen begegnet, die von weit her kamen und schon ganz Frankreich durchwandert hatten, ohne den zu finden, den sie sich erhofft hatten. Dann fielen sie beherzt in Spanien ein, und häufig verschwand eine von ihnen ein paar Etappen später. Sie folgte einer anderen Gruppe und suchte bei einem neuen Traumprinzen ihr Glück. Wenn ich solche Szenen beobachtete, musste ich dummerweise immer an den Ausdruck denken: Jeder Topf findet seinen Deckel.
Der Jakobsweg ist hart, aber manchmal hat er auch die Güte, die geheimsten Wünsche zu erhören. Man muss einfach durchhalten.
Es kursiert die Geschichte von einem Akkordeonspieler, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, dass er an jedem Etappenziel sein Instrument spielte. Er war frisch geschieden und sehr unglücklich; ich könnte mir vorstellen, dass er traurige Klagelieder spielte, die bei den Frauen nicht viel Erfolg hatten. Als er in Santiago de Compostela angekommen war, wurde er Mitglied einer Vereinigung von Musikern. Dort traf er auf eine Deutsche, die dieselbe Passion hatte wie er und ebenso viele Blessuren an der Seele. Sie haben geheiratet und kehren seitdem jedes Jahr gemeinsam zum Jakobsweg zurück. Die Musik, die sie nunmehr zusammen spielen, ist voller Fröhlichkeit und Charme. Die Geschichte ist wahrscheinlich zu schön, um wahr zu sein, aber mit derlei Legenden wird die Hoffnung all jener genährt, die ihr Schicksal in die Hände des heiligen Jakobus legen, um nicht länger unglücklich zu sein.
Die dritte Kategorie ist weniger romantisch, aber ebenso bewegend: Menschen, die die Liebe vor langer Zeit kennengelernt haben, den heiligen Bund der Ehe eingingen und dann deren Verschleiß erfuhren und an einen Punkt gelangt sind, an dem sie sich nichts mehr wünschen, als ihre Freiheit wiederzuerlangen. Es ist eine liebenswürdige Freiheit, die nicht alles kaputt macht und dem anderen nicht wehtut, sondern es einem dank des unverhofften Eingreifens des heiligen Jakobus erlaubt, ein wenig durchzuatmen.
Der ehrenamtliche Helfer vom Verein der Freunde des Jakobswegs, der mich in Paris empfangen und mir den Pilgerpass überreicht hat, gehörte selbst zu dieser Kategorie. Als ich ihn bat, mir von seiner eigenen Pilgerreise zu erzählen, tat er dies mit Tränen in den Augen. Trotz seines vorgerückten Alters hatte er die Mühen des langen Marsches sehr gut verkraftet. Seine wiedereroberte Freiheit hatte ihn dermaßen berauscht, dass er, einmal in Santiago de Compostela angelangt, gar nicht wieder aufhören wollte! Er war einfach weitergegangen auf einem Weg, der nach Portugal führte. Hätte es eine Brücke über die Wasser des Atlantiks bis nach Brasilien gegeben, hätte er sie, ohne zu zögern, betreten. Der Unglückliche berichtete von dieser Verrücktheit mit einem nostalgischen Lächeln. Als ich ihn fragte, wie die Sache ausgegangen sei, verzog er das Gesicht. Seine Frau hatte ein Flugzeug, einen Zug und zwei Autobusse besteigen müssen, um ihn wiederzufinden und mit nach Hause zu nehmen. Aber er hatte von der Freiheit gekostet und dachte nicht daran, ihr künftig zu entsagen. Schon im Jahr darauf war er wieder losgegangen, und noch immer lebte er in der Hoffnung, erneut aufbrechen zu können.
Er fragte mich nach meinen Absichten. Wo würde ich starten? Das hatte ich mir noch gar nicht überlegt. Da ich in keine der erwähnten Kategorien passte, konnten mich keine gefühlsmäßigen Erwägungen bei meiner Entscheidung leiten. Ich wollte einfach eine lange Strecke zu Fuß gehen, das war alles. Ich verriet dem Ehrenamtler meine Absicht, in Hendaye loszumarschieren, weil ich unschlüssig war, ob ich die große Pyrenäendurchquerung wagen sollte.
Er warf mir einen ironischen Blick zu. »Machen Sie es, wie Sie wollen«, sagte...