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E-Book

Nix wie Heimat!

Für euch unterwegs in Deutschland

AutorLisa Altmeier, Steffi Fetz
VerlagBlanvalet
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783641106843
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Von Helgoland bis Himmelpfort - zwei junge Frauen entdecken unsere Heimat neu!
Lisa und Steffi beweisen, dass ihr Heimatland entdeckt werden will. Mit meterhohen Rucksäcken sowie einer großen Portion Neugier und Aufgeschlossenheit fahren sie kreuz und quer durch die Republik, von Helgoland bis Freiburg. Dabei verschlägt es sie an die ungewöhnlichsten Übernachtungsorte: zum Beispiel in Bombenkrater und Demenz-WGs, in eine Höhle und sogar in den Zirkus. Außerdem besuchen sie Menschen in einer psychiatrischen Klinik und schlafen bei Seeleuten. Das Mutigste daran: Lisa und Steffi suchen sich ihre Ziele nicht selbst aus, sondern lassen andere Menschen über ihre Reiseroute entscheiden ...

Lisa Altmeier hat in Köln und Lausanne Medienpsychologie und Medienkulturwissenschaften studiert. Sie hat Praktika beim WDR Tatort, beim ZDF und im Politik-Ressort von ZEIT Online absolviert. Lisa Altmeier ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule in München und arbeitet als Fernseh- und Radiojournalistin für für das Jugendprogramm PULS vom BR.

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Leseprobe

2: BAUTZEN, DRESDEN

»Ich glaube, Deutschland ist so wie Angela Merkel.«

»Wer sind eigentlich die Sorben?«

(Sebastian, Straßenumfrage München)

Lisa

Wir hatten keine Zeit, uns vor der Abfahrt in Hamburg Richtung Osten noch was zu essen zu kaufen, und müssen deshalb jetzt im Zug speisen. Unsere Beziehung zur Deutschen Bahn ist absolut in Ordnung. Wir haben Deutschland-Tickets, mit denen wir für weniger als dreihundert Euro pro Person den ganzen Monat lang durch das Land reisen können. Meistens finden wir sogar Sitzplätze. Und im Gegensatz zum Flughafen wird man bei Zugfahrten nicht Ewigkeiten auf mitgeführte Bomben untersucht, und es ist auch nicht schlimm, wenn man einen Zug verpasst. Passiert uns natürlich nie. *hust*

Aber jetzt, wo wir hier im Speisewagen sitzen und die Menükarte studieren, verfluchen wir unser Sommerzuhause, während an uns das schöne Hamburg vorbeisaust. Die Karte erklärt, dass das Essen nach Rezepten von Starkoch Horst Lichter zubereitet wird. Vermutlich ist das auch der Grund dafür, dass es schweineteuer und vegetarierfeindlich ist. Ich stochere lustlos in einem nach nichts schmeckenden Kartoffelsalat rum. »Wenn das Essen von Horst Lichter wirklich so schmeckt, dann wird dieser Typ wirklich chronisch überschätzt. Ich wette, der Mann hat das nicht mal probiert.«

Als wir uns daran erinnern, wo wir gerade hinfahren, werden wir wieder besser gelaunt. Es geht Richtung Berlin. Und es ist Wochenende. Und Deutschland spielt im Finale der Fußballweltmeisterschaft. Ein richtiges Wochenende wird es allerdings nicht werden, weil wir das Sorben-Thema noch festzurren und die erste Folge unserer TV-Reportage, den Film über Helgoland, noch schneiden müssen. Und das alles bis zum Montagmorgen nach dem WM-Finale, denn dann geht’s weiter nach Bautzen.

Wir übernachten in der WG unserer Freundin Hannah, nur dass Hannah nicht da ist und uns netterweise für zwei Tage ihr Zimmer überlässt. Wir verlassen es nur für Notfälle. Wir hocken vor den Laptops und schneiden, schneiden, schneiden. Wir sehen nicht, wer auf der Straße rumläuft, wir registrieren nicht, ob die Sonne scheint, wir reden nicht mit Menschen. Wir arbeiten einfach nur.

Und dann ist plötzlich Sonntagabend, WM-Finale. Deutschland gegen Argentinien. Und ratet, was noch nicht fertig ist? Genau, unsere Reportage. Scheiße, was machen wir denn jetzt? Wir müssen das Finale auf jeden Fall gucken, und zwar nicht hier in der Wohnung, sondern da draußen. Also unterbrechen wir unseren Schnitt. Aber es ist klar: Wir müssen die Sendung noch diese Nacht zu Ende schneiden und verschicken, Weltmeisterschaft hin oder her. Die große Filmdatei muss vor morgen früh beim SWR in Baden-Baden landen, an den wir unsere Reportagen ja weiterverkaufen. Sonst kann unsere Sendung diese Woche nicht im Fernsehen laufen.

»Deutschland darf eigentlich auf keinen Fall Weltmeister werden«, sagt Steffi, und ich stimme ihr zu.

»Wie sollen wir nach einem gewonnenen Finale zurück an den Laptop, wenn alle feiern?«

Nach einer einstündigen Suche finden wir in der Nähe des Oranienburger Tors einen Kiosk, der uns beherbergt. Der dunkelhaarige Besitzer und sein Bauch stellen den Flachbildschirm ans offene Fenster, an dem eine brasilianische, eine deutsche und eine türkische Nationalflagge hängen. Dann klappt er Bierbänke auf und holt Plastikstühle aus dem Hinterzimmer. Außerdem verkauft er uns unser Abendessen: eine Tüte Paprikachips. Wir rutschen mit ein paar besoffenen Engländern zusammen und amüsieren uns über einen Peruaner, der schon vor Spielbeginn das argentinische Team als Schwanzlutscher beschimpft und uns als Weicheier, weil wir nicht mitschimpfen. »Ihr Deutschen seid viel zu brav, was ist hier los? Wo bleiben eure Aggressionen, Leute?« Er sitzt in der ersten Reihe und hat eine Deutschland-Flagge um seinen Stuhl gewickelt. Im Gegensatz zu uns hat er auch kein Problem damit, die Hymne mitzusingen.

Das Gute an unserem beschaulichen Kreis ist:

1. Für unser Bier müssen wir uns nicht durch eine schwitzende Masse kämpfen.

2. Vor uns steht kein Zwei-Meter-Mann, der mit seinem Riesenrücken den halben Bildschirm versperrt.

3. Die Fernseher in den vollbesetzten Bars und Kneipen um uns herum haben alle eine kleine Zeitverzögerung. Wenn Deutschland knapp daneben schießt, sehen wir es zuerst. Gute Wahl! Aber je länger das Spiel dauert, desto hibbeliger werden wir. Wir haben doch eigentlich keine Zeit. Das wird doch wohl nicht …

»Verlängerung!«, ruft der Kommentator.

Oh no.

Und tja. Was soll ich sagen? Es ist die Hölle! Deutschland wird Weltmeister. Alle jubeln, nur wir gucken uns traurig an. Wir wissen, was heute Nacht kommt: Die Party des Jahres, und wir sind nicht dabei.

Wir kaufen uns auf den Schrecken einen Caipirinha in einer Bar neben dem Kiosk und gönnen uns dort 20 Minuten Nachberichterstattung. Wir würden so gerne mitfeiern. Zwischen mein Gestresstsein (»Eigentlich sollte ich nicht hier sitzen«) drängt sich auch so eine Art Rührung über den Sieg, warum auch immer, ich habe ja nichts dafür geleistet. Aber es ist definitiv ein besonderer Abend, vielleicht auch einfach nur, weil die Leute um uns herum so wahnsinnig glücklich aussehen und so wirken, als würden sie all die Sorgen, die sie normalerweise mit sich herumtragen, mit einem großen Schluck WM-Sieger-Bier wegspülen.

Erst als ich den ersten Schluck Caipirinha im Mund habe, fällt mir auf, dass der Barkeeper ein Argentinien-Trikot trägt und uns sehr böse anguckt. Der Caipi schmeckt dementsprechend scheußlich. Und während ganz Berlin feiernd, saufend, knutschend und jubilierend durch die Straßen zieht und meine Familie mir neidische WhatsApp-Nachrichten schickt (»Was, du bist in Berlin?«, »Wie geil ist das denn!«, »Neid!«, »Würde auch gern in Berlin feiern!«), müssen wir zurück an unsere Laptops. Bis fünf Uhr morgens hängen wir davor. Dann düsen wir zum Bahnhof und verfallen in eine Art Schlaffahrttrance.

Die Reise endet an einer Bushaltestelle in Bischofswerda. Hier warten wir darauf, dass uns die Sorbin Helena abholt. Um uns herum sieben bis acht Jugendliche mit Smartphones. Sie wirken so, als ob sie sich jeden Tag hier treffen. Die warten wohl nicht auf den Bus, sondern aufs Erwachsensein.

Eine etwa 15-Jährige mustert uns leicht angewidert: »Wer sind die beiden eigentlich?«, fragt sie ihre Sitznachbarin. Die guckt uns erst ins Gesicht, dann auf die Rucksäcke und antwortet: »Bergsteiger.«

Ich fühle mich, als hätte ich einen bayerischen Migrationshintergrund. Offensichtlich versprühen wir eher Alpenfeeling, als dass uns eine Journalistenaura umgeben würde. Überhaupt: Auf welche Berge sollte man hier denn bitte steigen? Wir sind ja nicht in der Sächsischen Schweiz.

Sachsen ist für mich ein Gebiet, das sich mindestens so fremd anfühlt wie Helgoland. Eigentlich peinlich, denn ich sollte dankbar sein, dass ich überhaupt so einfach hierher reisen kann. Vor 25 Jahren war das noch komplizierter, heute stellt sich uns auf unserer Reise kein Grenzbeamter in den Weg, überlege ich, während ich die Teenies um mich herum betrachte.

Und dann winkt uns eine junge Frau mit Sonnenbrille.

Steffi

Helena ist 23, hat lange braune Haare, dunkle Augen und einen leichten sächsischen Dialekt. Als wir in ihr Auto steigen, sagt sie: »Ich würde mir wünschen, dass ihr nicht so eine klischeemäßige Reportage produziert, sondern zeigt, wie wir Sorben wirklich leben. Wir sind nicht nur das Volk, das Ostereier anmalt und schöne Trachten anzieht.« Helena ist die erste Sorbin, der wir bewusst begegnen. Sorbische Ostereier kannten wir vor Beginn dieser Recherche ebenfalls nicht, und wir wissen auch noch nichts von den Problemen und Anfeindungen, denen die Sorben in Deutschland teilweise ausgesetzt sind.

Die Sorben sind ein slawischsprachiges Volk, das vor 1400 Jahren nach Deutschland eingewandert ist und heute hauptsächlich in Sachsen und Brandenburg lebt. Es gibt zwei Sorten von Sorben: Ober- und Niedersorben. Obersorben leben eher in Sachsen und die Niedersorben in Brandenburg. Helena ist Obersorbin. Um uns zu zeigen, wie ihre Kultur funktioniert, nimmt uns Helena jetzt für ein paar Tage mit ins Haus ihrer Mutter, mit in ihr Leben, in ihren Alltag und ihre Sorgen.

Über Wiesen, Felder und Dörfer fahren wir nach Kaschwitz, einem kleinen Ort in der Nähe von Bautzen, wo Helenas Famillie lebt. Dabei fällt uns auf, dass die Ortsnamen hier alle doppelt auf den Schildern stehen. »Deutsch und Sorbisch natürlich«, erklärt Helena. Kaschwitz zum Beispiel heißt auf Obersorbisch »Kašecy«.

Mitten im Dorf bremst Helena scharf. »Guckt mal hier, diese Kruzifixe, die wurden vor einiger Zeit beschmiert und beschmutzt.«

Am Wegesrand steht ein einfaches Holzkreuz, es sieht nicht weiter auffällig aus, erst als wir genauer hingucken, sehen wir, dass es auf Sorbisch beschrieben ist. In letzter Zeit häufen sich die Vorfälle, bei denen Unbekannte sorbische Kulturgüter zerstören oder mit Hakenkreuzen beschmieren. Auch die zweisprachigen Ortsschilder werden immer wieder beschädigt, erfahren wir jetzt von Helena: »Die streichen einfach unsere sorbischen Bezeichnungen durch.« Und wer könnte das gewesen sein? »Ich denke, das sind entweder Nazis oder Leute, die sich nicht wirklich mit unserer Kultur auseinandergesetzt haben und einfach Vorurteile gegenüber allem Fremden haben.« Dass die Randalierer ausgerechnet die Kreuze in Kaschwitz beschädigt haben, ist für sie kein Zufall: »Der Glaube ist uns wichtig, und das wissen die auch. Das ist eine...

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