Aussage gegen Aussage
Ein kurzer Prozess
Das Telefon klingelte am späten Nachmittag. Ein mir unbekannter Rechtsanwalt meldete sich: »Ich vertrete einen Angeklagten in einem Berufungsverfahren und wollte Sie fragen, ob Sie bereit wären, eine Stellungnahme zur Glaubwürdigkeit einer Belastungszeugin zu schreiben. Ich habe vor einiger Zeit ein Interview von Ihnen gelesen, das mir sehr gefallen hat.«
Mir war nicht klar, welches Interview er meinte, ich hakte aber nicht nach, sondern nahm es als netten Versuch, mich als Gutachter zu gewinnen: »Wie Sie offenbar schon wissen, bin ich Rechtspsychologe, und die Begutachtung von Zeugenaussagen zählt zu meinem Arbeitsgebiet. Allerdings habe ich mit Gutachtenaufträgen von Anwälten nicht immer die besten Erfahrungen gemacht; nicht mit den Auftraggebern selbst, sondern damit, wie ich im Prozess als Sachverständiger wahrgenommen werde. Es ist mir daher lieber, wenn ich vom Gericht als Gutachter bestimmt werde.«
»Kein Problem, das kann ich ja in der Verhandlung beantragen«, hieß es prompt. »Zunächst bräuchte ich aber Ihre grundsätzliche Bereitschaft. Hätten Sie denn Zeit und Interesse?« Um die Sache abzukürzen, schlug ich dem Anwalt vor, mir zunächst ein paar Unterlagen zu schicken, damit ich mir ein erstes Bild machen könnte. So leicht ließ sich mein Anrufer aber nicht abschütteln. Er wollte mir gleich die kompletten Ermittlungsakten, das Urteil der ersten Instanz und die Begründung seiner Berufung zusenden. Es handelte sich um den Vorwurf einer Vergewaltigung, die sich vor zwei Jahren in der Wohnung der Zeugin ereignet haben sollte. Bei der ersten Verhandlung hatte der nun involvierte Anwalt den Angeklagten noch gar nicht vertreten, und es hatte damals auch kein Gutachten gegeben. »Das Urteil allein würde mir fürs Erste schon genügen«, wandte ich ein. Doch zwei Tage später brachte mir die Post ein umfangreiches Aktenpaket. Aus dem Urteil erschloss sich mir eine ziemlich komplizierte Geschichte zwischen Nachbarn, Arbeitskollegen und Eheleuten. Der Verlauf stellte sich danach wie folgt dar.
Manfred I., 37 Jahre alt, verheiratet, Familienvater, wurde beschuldigt, eine Bekannte und frühere Nachbarin, die 30 Jahre alte Anna S., bei einem abendlichen Besuch in deren Wohnung vergewaltigt zu haben, nachdem sich deren Ehemann Peter S., 38 Jahre, der vorher noch mit beiden gemütlich gegessen und wohl auch, ebenso wie sein Besucher Manfred I., reichlich Alkohol getrunken hatte, ins Schlafzimmer zurückgezogen hatte. Es war spät geworden, und er sagte, er sei müde.
Nach der Tat soll Frau S. laut schreiend in das eheliche Schlafzimmer gestürmt sein und über heftige Leibschmerzen geklagt haben. Der schlaftrunkene Ehemann rief daraufhin den Notarzt, der Frau S. nach kurzer Untersuchung in die Notaufnahme eines nahe gelegenen Krankenhauses einwies. Manfred I. hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Wohnung ohne weiteres Gespräch verlassen.
Die Ursache der diffusen Bauchschmerzen von Frau S. konnte in dieser Nacht durch verschiedene Untersuchungen in der Klinik nicht ermittelt werden. Von einer Vergewaltigung erzählte Anna S. den Ärzten anscheinend nichts. Als man ihr zur weiteren Abklärung der Schmerzen eine gynäkologische Untersuchung vorschlug, verweigerte sie diese und entließ sich auf eigene Verantwortung am nächsten Vormittag aus dem Krankenhaus. Auch gegenüber ihrem Ehemann erwähnte sie nach ihrer Rückkehr nichts mehr von der angeblichen nächtlichen Gewalttat.
Gut zwei Wochen später besuchte Manfred I. erneut das Ehepaar S., diesmal aber am Tag und in Begleitung seiner Ehefrau Carola, 36 Jahre, in deren Firma sowohl er als auch der Mann von Anna S. beschäftigt waren. Arbeitsaufträge waren zu besprechen, doch rasch kam es zum Streit. Carola I. bezichtigte dabei Frau S., bereits seit längerer Zeit ein Verhältnis mit ihrem Ehemann zu haben, was Anna S. offenbar heftig bestritt, während Manfred I. gesagt haben soll, dass er sich von ihr wegen ihrer knappen Bekleidung herausgefordert gefühlt habe. Es folgte ein hitziger Schlagabtausch zwischen allen Beteiligten, bei dem Anna S. schließlich einwarf, dass Manfred sie an jenem Abend vergewaltigt habe. Er sollte sich entschuldigen. Laut schimpfend verließ dieser daraufhin die Wohnung.
Nun ging es Schlag auf Schlag. Peter S. betrank sich am darauffolgenden Tag alleine in seiner Wohnung, packte ein Dekorationsschwert und rief bei der Polizei an. Er teilte mit, dass er auf dem Weg zu jenem Mann sei, der versucht habe, seine Frau zu vergewaltigen, um ihm den Kopf abzuschlagen. Dort angekommen traf er jedoch nicht seinen Arbeitskollegen Manfred I., sondern zwei Polizeibeamte, die ihn in Gewahrsam nahmen. Anna S. erfuhr erfuhr erst auf der Polizeistation, dass ihr Ehemann als Grund für seine geplante Schwertattacke besagte Vergewaltigung genannt hatte. Daraufhin gab sie den Bericht über die Ereignisse an jenem Abend zu Protokoll, der zur Grundlage für die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft wurde.
Bei der Polizei und vor Gericht bestritt Manfred I. alle Vorwürfe und berichtete von einem längeren außerehelichen Liebesverhältnis zu Anna, das an diesem Abend im Streit – aber ohne Vergewaltigung – zu Ende gegangen sei. Offenbar verwickelte er sich dabei jedoch mehrfach in Widersprüche, sodass ihm das Gericht keinerlei Glauben schenkte. Er wurde daraufhin von dem Schöffengericht, bestehend aus einem Vorsitzenden und zwei Schöffen, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen hatte der Anwalt mit Erfolg Berufung eingelegt, deshalb jetzt dieser neue Prozess.
Die damalige erste Hauptverhandlung – von der Verlesung der Anklageschrift über die Beweisaufnahme und die Plädoyers von Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklage bis hin zur Urteilsverkündung – fand an einem einzigen Tag statt. Ein kurzer Prozess also. Dabei stand Aussage gegen Aussage. Sachbeweise, etwa Verletzungsspuren, gab es anscheinend keine. Gutachter wurden nicht gehört. Wenn man bedenkt, wie viel Aufwand das Landgericht Mannheim in einem nahezu zeitgleich geführten Prozess bei einem ähnlich gelagerten Fall betrieben hatte, um die Vorwürfe der Radiomoderatorin Claudia D. gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann aufzuklären – immerhin beanspruchte jenes Verfahren 44 Verhandlungstage, verteilt auf neun Monate, und es traten insgesamt zehn Sachverständige auf –, dann stellt sich die Frage, ob vor dem Gesetz wirklich alle gleich sind beziehungsweise ob Gerichte in Abhängigkeit von der Prominenz eines Angeklagten oder der gesellschaftlichen und medialen Aufmerksamkeit eines Falles mit zweierlei Maß messen.
Die Lektüre des Urteils ließ auf ein komplexes Geflecht von Auseinandersetzungen zwischen Bekannten, Kollegen, Ehemännern und Ehefrauen schließen. Möglicherweise spielten auch außereheliche Beziehungen eine Rolle. All das konnte für die Aufklärung dieses Falles von Bedeutung sein. Eine gründlichere Prüfung, als es die erste Instanz versucht hatte, erschien mir deshalb außerordentlich sinnvoll. Dabei wollte ich im Rahmen meiner Möglichkeiten als Gerichtspsychologe mithelfen. Ich sagte dem Anwalt des Angeklagten also meine Mitarbeit zu.
Drei Monate später saß ich als »präsenter Sachverständiger« im kleinen Gerichtssaal 102 des Landgerichts. Wenige Minuten nach 9 Uhr betrat die Kleine Strafkammer, ein Berufsrichter als Vorsitzender und zwei Schöffen – ein Rentner und ein Zimmermann –, den Saal. Alle erhoben sich.
Kein Deal, aber ein Gutachtenauftrag
Nach Feststellung der anwesenden Personen und nach Verlesung einiger Ausschnitte aus dem erstinstanzlichen Urteil sah es so aus, als könnte alles ganz schnell gehen. Der Vorsitzende hielt eine Art Vorrede. Er erklärte, dass er in letzter Zeit auch in zwei anderen Verfahren mit dem Thema Vergewaltigung befasst war. Im ersten Fall habe dies zu einem Freispruch geführt, im zweiten Fall sei eine Freiheitsstrafe verhängt worden. Ein Geständnis des Angeklagten, so der Richter, könnte für den weiteren Verlauf eine erhebliche Zeit- und Aufwandsersparnis bedeuten, weil man dann auf die Aussagen verschiedener Zeugen verzichten könnte. Der Prozess käme also viel rascher zum Abschluss. Zudem gab er zu bedenken, dass sich die Kammer in einem solchen Fall auch vorstellen könnte, lediglich eine Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusprechen. Voraussetzung für dieses Verfahren sei allerdings das Einverständnis aller Beteiligten.
Ich war einigermaßen überrascht. Derartige Absprachen oder »Deals« sind als »Verständigung im Strafverfahren« inzwischen auch bei deutschen Strafprozessen nicht unüblich, wenngleich sie oft heftig kritisiert werden, weil sie bei Gegnern als Systembruch gelten. Leitbild des deutschen Strafprozesses sei schließlich die Suche nach der sogenannten materiellen Wahrheit, und dies, so argumentieren Kritiker, könne nicht in das Belieben der Verfahrensbeteiligten gestellt werden. Gleichwohl wurde 2009 mit § 257c StPO eine Vorschrift geschaffen, die solche Absprachen verbindlich regeln soll. Danach darf etwa der Schuldspruch selbst nicht Gegenstand einer Verständigung sein, und das Vorliegen eines Geständnisses wird vorausgesetzt. So war es auch hier.
Nach einer kurzen Unterbrechung erklärte der Verteidiger, dass sein Mandant mit der vorgeschlagenen Absprache einverstanden sei, allerdings nur, sofern das Urteil dann »BGH-sicher« sei. Das Risiko einer Revision durch die Staatsanwaltschaft wollte er nicht eingehen. Auch der Anwalt von Frau S., der Nebenklagevertreter, erhob keine Bedenken. Nur die Staatsanwältin blieb in der Sache hart. Sie lehnte das Angebot ab. Eine Bewährungsstrafe im Vorfeld zu vereinbaren sei nicht sachgerecht, sagte...