1 Möglichkeiten der Trauerarbeit
1.1 Der letzte Geburtstag meiner Mutter: 18. Januar 2012
Von Sommer 2010 bis 13. Mai 2012, das umfasst einen Zeitraum von einem Jahr und acht Monaten, musste meine Mutter alle Stadien einer schweren Krebserkrankung leidvoll ertragen.
Im Januar 2012 war sie von ihrer Krankheit schon sehr geschwächt und hatte immer wieder starke Schmerzen, die sie nur mit Hilfe eines Morphinpflasters einigermaßen ertragen konnte. Sie wollte ihren siebzigsten Geburtstag in einer sehr kleinen Runde ein wenig feiern, obwohl sie dazu eigentlich schon gar keine Kraft mehr hatte. Er sollte trotzdem etwas Besonderes sein, und sie wünschte sich, dass niemand Arbeit hatte. Daher bestellte sie das Essen bei einem nahegelegenen italienischen Restaurant. Als wir dann im Haus meiner Eltern um den Tisch saßen und nach Antipasti verschiedene Pizzen probierten, fing sie plötzlich an, heftig zu weinen:
„Das schmeckt alles nicht wirklich gut! Und die Pizza ist schon eiskalt. Dass ausgerechnet an meinem letzten Geburtstag das Essen dermaßen daneben gehen muss.“
Auch uns Töchtern kamen die Tränen, weil uns wieder – wie damals so oft – bewusst wurde, dass sie ihre Krankheit nicht überleben und heute wohl ihr letzter Geburtstag sein würde.
Der Geburtstag meiner Mutter mitten im Januar ist noch immer ein ganz besonderer Tag für mich. Heute ist der Himmel trüb und wolkenverhangen, kleine Schneeflocken tanzen vereinzelt durch die Luft und die Felder sind schneebedeckt.
Gestern habe ich mich schon darauf vorbereitet. Da es für ihren Ehrentag etwas besonders Schönes und Liebevolles sein soll, bin ich in den besten Blumenladen meines Ortes gegangen. Ich entschied mich für orange-rote, große Rosen, die mit gelbem Ginster zu einem wunderschönen Strauß zusammengebunden wurden. Meine Mutter mochte Ginster sehr. Als Kinder waren wir oft mit der ganzen Familie in der Toskana und haben dort immer die blühenden Ginsterbüsche im Frühling bewundert. Zu dem Rosenstrauß kaufte ich noch eine Frühlingsprimel, auch sehr schön zweifarbig blühend.
An diesem Sonntag im Januar 2015 ist alles anders als früher. Damals konnten wir ihren Geburtstag noch mit selbstgemachtem Kuchen und einem leckeren Abendessen feiern.
Ich wickle den Rosenstrauß und die Primel in ein Papier ein, und lege sie, zusammen mit Kerzen und einem Feuerzeug, in meinen bunten Metalleimer zu den Gartenwerkzeugen. Es ist heute kein normaler Geburtstagsbesuch – so wie früher im Haus meiner Eltern – es ist mein Besuch des Friedhofs, auf welchem meine Mutter beigesetzt wurde.
Während ich mit meinem Auto auf der Autobahn in Richtung München fahre, denke ich darüber nach, wie grotesk diese Situation gerade ist: Ich fahre mit bunten, lebensfrohen Geburtstagsblumen und Kerzen nicht zu einer üblichen Geburtstagsfeier, sondern zum Grab meiner Mutter. Mehr als zweieinhalb Jahre sind inzwischen seit ihrem Tod vergangen. Sie starb am 13. Mai 2012, es war damals der Muttertag. Erstaunlich, wie schnell die Zeit nach ihrem Tod vergangen ist.
Vor dem Friedhof bekomme ich sofort einen Parkplatz. Ich nehme den Eingang, vorbei am imposanten Rundbau der Trauerhalle. Es ist ein großer, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts angelegter, sehr schöner Friedhof mit vielen Bäumen. Als kleine Kinder sind wir die ersten Jahre unseres Lebens in der Nähe aufgewachsen. Meine Mutter liebte diesen Stadtteil und sie mochte auch den Friedhof mit seinem dichten Baumbestand und den verschiedenen Waldtieren. Bereits Jahre vor ihrer Erkrankung und ihrem Tod hatte sie sich auf diesem Friedhof eine Grabstelle gekauft – mit dem Wunsch, dort beigesetzt zu werden.
Da es ein kalter Tag ist, eile ich rasch über die Kieswege, vorbei an vielen, sehr schön gepflegten Gräbern, die zum Teil noch mit einem kleinen Christbaum oder geschmackvoller Weihnachtsdekoration geschmückt sind. Ein kleines, braunes Eichhörnchen huscht schnell über den Weg. Es schaut fröhlich aus und blickt kurz in meine Richtung. Ein quirliges Eichhörnchen an einem stillen Ort der Trauer – was für ein Gegensatz.
Am Grab stehend hüllt mich die würdevolle Ruhe des Friedhofes ein. Es ist eine nachdenkliche Stille, die immer wieder von den Rufen der Krähen unterbrochen wird. Obwohl es erst Januar ist, zwitschern verschiedene Vögel aus dem großen Ahornbaum, der hinter dem Grab meiner Mutter steht. Meine Mutter liebte Vögel. Sie beobachtete sie immer in ihrem gepflegten Garten und fütterte sie im Winter. Die eine oder andere Kohlmeise, die regelmäßig in ihrem Garten ein Nest hatte, bekam sogar einen Namen.
Ich nehme meinen kleinen Rechen und säubere das Grab von altem Laub und kleinen Zweigen. Das Weihnachtsgesteck sieht noch sehr schön aus. Ich bringe es nicht übers Herz, das Gesteck zu entsorgen, sondern stelle den Rosenstrauß und die Primeln dazu. Während ich die Kerzen anzünde, denke ich sehr intensiv an meine Mutter und spreche in Gedanken mit ihr. Die Besuche auf dem Friedhof sind für mich ein positives Ritual der Trauerarbeit geworden. Es gibt mir ein gutes Gefühl, dass ihre letzte Ruhestätte an ihrem Geburtstag gepflegt aussieht, dass ich etwas Schönes für sie tun konnte. Ich hoffe, dass sie es in irgendeiner Form „sehen“ kann.
Bilder der Erinnerungen laufen wie ein Film an meinem inneren Auge vorüber, während ich am Grab stehe. Ich spüre deutlich den Schmerz von ihrem letzten Geburtstag 2012, und es tut mir nach wie vor unendlich leid, dass der so enttäuschend für sie war. Ich wünschte, der 18.01.2012 wäre positiver für sie verlaufen.
Heute ist alles am Grab harmonisch gestaltet: Die frischen Blumen passen farblich sehr gut zu dem Weihnachtsgesteck und den Kerzen. In stillem Gedenken, in liebevoller Erinnerung bin ich ganz bei meiner Mutter.
Sie war ein wunderbarer Mensch mit einem großen Herzen. Selbstlos unterstützte sie alle Menschen in ihrer Umgebung. Sie arbeitete sehr engagiert als Grundschullehrerin und versorgte liebevoll und aufopfernd ihre Familie. Familienmitglieder, wie ihre eigenen Eltern, ihre Tanten und auch ihren Onkel, pflegte und begleitete sie bis zu deren Tod. Dabei hatte sie keine Berührungsängste mit dem Sterben.
Bis zum Schluss lebte meine Mutter ihre Wertvorstellungen: Drei Monate bevor sie verstarb, stand sie noch – trotz Schmerzen – mit mir in der Küche und half, meinen Geburtstagskuchen für meine Kolleginnen zu backen.
Wir, mein Vater, meine Schwester und ich, hatten 2012 die Aufgabe übernommen, unsere Mutter – bis zum ihrem Lebensende daheim – zu begleiten. Sie hatte sich von uns gewünscht, zu Hause sterben zu dürfen. Die Sterbebegleitung meiner Mutter, diese Aufgabe, sollte noch in den Jahren danach mein Leben, meinen Umgang mit Sterben und Tod und meine Sicht auf unsere Gesellschaft stark verändern.
Mittlerweile ist es schon ein wenig dunkel geworden, und ich fange an, zu frieren. Ich bin sehr glücklich, so schöne Rosen für sie bekommen zu haben und verlasse zufrieden das Grab.
1.2 Mit Trauer umgehen lernen
Wenn man sich in seinem Leben mit dem Tod eines nahestehenden, geliebten Angehörigen auseinandersetzen muss, gibt es rückblickend eine Zeit vor und eine Zeit nach diesem einschneidenden Ereignis. Durch das unmittelbare Erleben der Endlichkeit verändert sich sofort und nachhaltig die subjektive Sicht auf das Leben, das Sterben und den Tod. Man beginnt automatisch, neue Prioritäten in der eigenen Lebensgestaltung zu setzen und die Glücksmomente intensiver zu genießen und auch wertzuschätzen. Man verliert die Angst vor dem Sterben und kann leichter mit diesem Thema umgehen.
Nach meiner Erfahrung erlebt jeder Mensch den Tod eines Angehörigen anders. Die subjektiven Empfindungen und auch körperlichen Reaktionen sind sehr unterschiedlich, können schwanken und sich im Laufe der Zeit verändern. Von der absoluten Verdrängung des Ereignisses, bis hin zu intensiven, widersprüchlichen Gefühlen, ist alles möglich. Die ersten Wochen nach dem Tod des Angehörigen sind besonders schwierig. Im Verlauf der Wochen und Monate kann es leichter werden, mit dem erlebten Verlust umzugehen. Auch der Zeitraum, in dem das Erleben der Trauer leichter wird, ist sehr unterschiedlich.
Weitere Hilfestellungen sind in der Broschüre „Die Zeit der Trauer“ zu finden, veröffentlicht von der Diakonie Deutschland und dem Krebsverband Baden-Württemberg e. V. (Tausch-Flammer / Bickel 2014b). Für die Besprechung des Themas „Tod und Sterben“ mit Kindern kann ich das Buch „Ente, Tod und Tulpe“ empfehlen (Erlbruch 2010).
Wichtig finde ich, nach einer unter Umständen längeren Zeit der Pflege und nach dem Erleben des Verlustes zu sich selbst wieder zurückzufinden. Das heißt, die eigenen Gefühle, Bedürfnisse wieder zu spüren und für sich selbst gut zu sorgen. Folgende Fragen können dabei eine Hilfestellung sein:
Wie geht es Ihnen körperlich? Wann hatten Sie zum Beispiel das letzte Mal Zeit, Ihr Lieblingsgericht zu essen? Oder haben Sie körperliche Schmerzen, Befindlichkeiten, die mit einem Arzt abgeklärt werden müssten?
Wie geht es Ihnen seelisch? Haben Sie eher das Gefühl, sich durch Weinen „erleichtern“ zu können? Oder könnte es eine Hilfe sein, die erlebten Gefühle der Trauer aufzuschreiben?
Fühlen Sie sich erschöpft? Haben Sie das Bedürfnis, sich häufiger am Tag auszuruhen oder wünschen Sie sich eher Bewegung, wie einen Spaziergang an der frischen Luft?
Welche Rituale würden Ihnen bei der Trauerarbeit gut tun? Könnte es das Aufstellen eines Bildes des Verstorbenen mit Kerzen oder Blumen sein? Oder der...