Der Mann, der in seiner Firma schlief
»Ich weiß nicht, wie es so weit gekommen ist«, seufzte Gunar Steinke (28). Tiefe Augenränder gruben sich in sein bleiches Gesicht. Seine Wimpern zuckten nervös wie ein flimmernder Bildschirm. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als wollte er eine Unwucht ausgleichen.
Ein halbes Jahr zuvor hatte er angeheuert bei einer aufstrebenden Firma der Internet-Branche – und war auf Anhieb begeistert: »Da ging’s total locker zu. Alle liefen rum wie zu Hause, in Jeans und T-Shirt. Die Chefs kamen geradelt.« Sein Arbeitgeber ließ sich nicht lumpen und machte auf Hotel: Morgens lockte ein Frühstücksbuffet mit Obst und frischen Brötchen, Wurst und Käse, Müsli und selbst gepressten Säften. Catering fürs Personal.
Immer seltener frühstückte Steinke zu Hause, seine Freundin saß morgens allein am Tisch. »Das lag auch am firmeneigenen Fitnesscenter«, sagte er. »Es war rund um die Uhr geöffnet, dort trainierte ich jetzt morgens vorm Frühstück. Mein bisheriges Fitnessstudio habe ich gekündigt, meine Freundin ging dann alleine hin.«
In der jungen Firma gab es ein »Work-Life-Balance-Team«, das nur eine Aufgabe hatte: den Mitarbeitern Privates vom Hals zu halten. Man konnte sein Auto in die Werkstatt bringen, Einkäufe erledigen oder Wäsche bügeln lassen – alles wurde von der Firma organisiert. Sogar ein Friseur kam ins Büro.
Gunar Steinke fühlte sich wie ein König, ließ sich bedienen und widmete seine gesparte Freizeit einem guten Zweck: der Arbeit. Immer länger blieb er abends in der Firma, für Abwechslung war gesorgt: Mal spielte er am Tischkicker auf dem Flur, mal nutzte er einen der Massagesessel. Und mal tobte er sich draußen auf dem Beach-Volleyball-Feld aus. Die Firma war ein großer Freizeitpark.
Mittlerweile hatte er das Morgentraining im internen Fitnessstudio durch eine »Abendrunde« mit seinem Teamkollegen ergänzt. Nur blieb die Entspannung aus, wie er erzählte: »Wir wollten Sport machen, um abzuschalten. Aber nach spätestens fünf Minuten diskutierten wir unsere Projekte. Privat kannten wir uns nur oberflächlich.«
Dabei entstanden Ideen. Wer sich aus dem Sattel des Ergometers erhob, nahm neue Aktionen mit. Das Büro war nur ein paar Schritte entfernt, nichts wie hin. Ein Gedanke wollte festgehalten, eine Mail geschrieben, ein Versäumnis des Tages nachgeholt sein. Mal wurde es 22, mal 23 Uhr.
Zum Schlafen war Gunar Steinke viel zu aufgedreht: »Oft habe ich mit den Kollegen noch einen After-Work-Gutschein genutzt. Jedes Team durfte einmal pro Woche abends ausgehen, drei Getränke pro Person.« Und wieder gab es nur ein Thema: die Arbeit.
Gunar Steinkes Beziehung zerbrach – ausgerechnet im Fitnessstudio lernte seine Freundin ihren Neuen kennen. Seine Freunde riefen nicht mehr an, nachdem er sie mehrfach wegen der Arbeit versetzt hatte. Übrig blieb nur seine Ersatzfamilie: die Firma.
Eines Abends, schon nach 23 Uhr, riet ihm ein Kollege: »Drüben im ›Wohlfühl-Raum‹ auf den Massageliegen kann man prima übernachten – sofern noch eine frei ist.« Fortan schlief Steinke bis zu dreimal pro Woche in der Firma. Zu Hause erwartete ihn niemand mehr, hier war für alles gesorgt: Dusche, Waschraum, frisches Frühstück.
Dieses Spiel ohne Arbeitsgrenzen hielt er 1 ½ Jahre durch. Dann wollte er eines Morgens aufstehen, aber kam nicht mehr aus dem Bett. In der Klinik wurde festgestellt: Körperlich war alles in Ordnung, seelisch nicht. Er litt an schwerem Burnout. Am Ende hatte Steinke bis zu 16 Stunden pro Tag gearbeitet, auch an Wochenenden.
Viele Firmen tun alles, um die Grenze zwischen Privat- und Berufsleben zu verwischen.
Die Mitarbeiter sollen sich bei der Arbeit so wohl fühlen, dass sie nicht auf blöde Ideen kommen – etwa die, Feierabend zu machen.
Bitte erklären Sie mir:
Warum bietet eine Firma Frühstück an? Aus Großherzigkeit? Nein, damit die Leute früher zur Arbeit kommen.
Warum kümmert sich eine Firma um private Besorgungen, von Einkauf bis Autoreparatur? Aus Fürsorge? Nein, damit die Leute all ihre Energie auf die Arbeit verwenden.
Und was soll das firmeneigene Fitnessstudio bewirken? Dass die Mitarbeiter Freizeitspaß genießen? Nein, dass sie seltener krank werden – und in Reichweite der Arbeit bleiben.
Mitarbeiter sollen sich mit ihrer Arbeit identifizieren, heißt es. Aber wie weit darf diese Ehe mit der Firma gehen, ohne dass ein Mensch sich selbst verliert oder seine wahre Ehe scheitert? Wenn sich eine Firma als Familie des Mitarbeiters ausgibt, macht sie ihm seine wahre Familie abspenstig. Dahinter steckt ein Kalkül: Ein Frühstück kostet nur ein paar Euro, eine unbezahlte Überstunde des Mitarbeiters kann 50 Euro wert sein – wer macht hier das Geschäft? Aber die Firmen schaden sich selbst:
Erstens bildet sich ein Sog, der Menschen ihrem Privatleben entreißt – doch diesen Ausgleich brauchen sie, um kreativ und leistungsfähig zu sein. Privat- und Arbeitsleben widersprechen sich nicht, sondern können sich befruchten.
Zweitens werden Menschen infantilisiert. Es passt schlecht zusammen, wenn einer bei der Arbeit initiativ sein soll – aber die Firma ihm privat die Initiative fürs Einkaufen und Naseputzen wegnimmt. So viel Fürsorge macht Mitarbeiter zu großen Babys. Wer im Privatleben Verantwortung übernimmt, trainiert diese Fähigkeit auch für seinen Beruf und entwickelt sich charakterlich weiter.
Und drittens ist es eine moralische Unflätigkeit, dass Firmen ihre Finger so tief ins Privatleben der Mitarbeiter schieben. Damit wird die Würde der Menschen, ihre Autonomie verletzt. Solche Firmen erinnern an Sekten, die ihre Mitglieder rund um die Uhr kontrollieren und mit ihrer Ideologie beschallen wollen.
Gunar Steinkes erste Krankmeldung für drei Tage wurde noch wohlwollend aufgenommen: Die Firmenfamilie wünschte gute Besserung. Doch als er beim zweiten Mal ankündigte, für den nächsten Monat nicht verfügbar zu sein, zückte sein Vorgesetzter die emotionale Keule: »Du weißt genau, wie viel Arbeit deine Kollegen schultern. Du willst sie jetzt doch nicht hängenlassen!« Die Sekte forderte Gehorsam ein. Steinke verweigerte sich und wurde zum Appell in die Personalabteilung bestellt. Dort hieß es, die Vertrauensbasis für die Zusammenarbeit sei zerstört. Man bot ihm einen Aufhebungsvertrag an. »After Work« bekam für ihn eine neue Bedeutung. Die Zusammenarbeit war vorbei. Am Ende fühlte es sich wie eine Befreiung an.
| Der Durchdreh-Reim Wer Arbeit hat, der schau gut hin, ob er sie hat oder sie ihn. |
Das Fließband läuft im Kopf
Treten Sie ein, kommen Sie näher, genießen Sie die beste aller Arbeitswelten! Knochenjobs werden Sie hier nicht mehr finden, die sind abgeschafft. Niemand muss mehr 14 Stunden unter Tage schinden, jeder Arbeitsplatz gleicht einer Oase, hell und wohltemperiert. Und längst haben Chefs humanere Führungsinstrumente als Peitschen entdeckt, zum Beispiel Duz-Freundschaften bei Facebook.
Lange Arbeitszeiten? Ach was, nach acht Stunden ruft der Gesetzgeber: »Feierabend!« Zwang zu Überstunden? Papperlapapp, das Gesetz lässt sie nur aus zwingenden Gründen zu, etwa wenn die Firma brennt. Und harte Arbeitsbedingungen? Quatsch, moderner Arbeitsschutz erinnert an ein Fünf-Sterne-Hotel: Wie groß ein Bildschirm, wie hell ein Raum oder wie lang eine Pause sein muss – alles vorgeschrieben.
Offiziell darf es keine Ausbeutung mehr geben, deshalb wurden die Fließbänder in die Köpfe der Mitarbeiter verlegt. Der Chef befindet sich immer in Rufweite, das Handy ist zur modernen Sklavenkette geworden. Und wer abends seinen Laptop aufklappt, öffnet die Büchse der Pandora. Laut einer Studie des Digitalverbandes Bitkom sind sieben von zehn Mitarbeitern sogar im Urlaub erreichbar.[19]
Es ist mittlerweile leichter, eine langjährige Liebesbeziehung zu beenden als einen Arbeitstag; denn immer funkt etwas dazwischen:
Wer springt für den kranken Kollegen ein?
Wer schickt noch rasch das überfällige Angebot raus?
Wer übernimmt die Eilkorrektur des Kunden?
Wer macht die Urlaubsvertretung?
Wer boxt das verspätete Projekt raus?
Wer räumt das Chaos des Tages auf?
Wer schreibt noch rasch das Protokoll des Abendmeetings?
Und erst die Termine! Der langjährige Unternehmensberater Ewald F. Weiden schreibt, dass Deadlines »gerne auch willkürlich festgelegt« und »als Druckmittel eingesetzt« werden – was »48-Stunden-Arbeitstage« heraufbeschwöre.[20] Mit solchen unrealistischen Vorgaben treibt die Chefetage die Beschäftigten wie Schlittenhunde vor sich her.
Plötzlich fragt man sich beim Blick in den Terminkalender: »Kann ich denn einfach so Urlaub nehmen, nur weil mir Urlaub zusteht?« Jeder dritte Arbeitnehmer lässt Urlaubstage verfallen, häufigster Grund laut Umfragen: Angst vor Jobverlust. Am meisten Urlaub verschenken diejenigen, die pro Woche am längsten arbeiten.[21]
Und da es mit der Wirtschaft so schön aufwärtsgeht, wollen die Beschäftigten mitmischen: Auch sie haben eine Steigerung von 86 Prozent in zehn Jahren zu bieten –...