PROLOG – TEIL EINS
Tschüs, Schöpfung!
Der sechste Tag
Und Gott sprach: Wir wollen Menschen machen nach unserm Bild uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über das Vieh auf der ganzen Erde, auch über alles, was auf Erden kriecht!
Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; männlich und weiblich schuf er sie.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht!1
Gut dreitausend Jahre nach diesem überlieferten, mehrfach neu übersetzten Text lässt sich getrost feststellen: Das haben wir ganz prima hinbekommen. Wir haben uns die Erde untertan gemacht – zwar noch nicht überall und vollkommen, aber mit recht gutem Erfolg –, wir zerstören Wälder und Wiesen, verschmutzen Flüsse und Meere und vernichten Vögel und Fische in rauen Mengen. Wir bedrohen und gefährden mit allerhand chemischen Wirkstoffen schlicht alles Lebendige auf Erden. Menschliche Wesen nicht ausgenommen. Das ist, wenn man so will, auf eine zynische Weise wenigstens konsequent.
»Artensterben« ist das Schlagwort dazu. Meldungen, Berichte und wissenschaftliche Aufsätze gibt es reichlich, der Begriff hat längst auch den Weg in die Medien gefunden und bewegt so nicht mehr nur Naturschützer, sondern eine breite Öffentlichkeit. Tippt man etwa bei Google »Artensterben« ein, erscheinen 494000 Fundstellen in nur 0,4 Sekunden. Beispielsweise weiß Spiegel Online zu berichten, dass jährlich bis zu 58000 Tierarten sterben.
Natürlich ist diese Zahl eine grobe Schätzung, schon deshalb, weil niemand exakt weiß, wie viele Tier- und Pflanzenarten es insgesamt auf der Erde gibt. »Wir sind erstaunlich ignorant bezogen auf die Frage, wie viele Arten heute tatsächlich auf der Erde leben, und noch ignoranter sind wir gegenüber der Frage, wie viele Arten wir verlieren können, bis die Ökosysteme versagen, die die Menschheit am Leben erhalten«, stellt Robert M. May vom Fachgebiet Zoologie an der Universität von Oxford (Großbritannien) fest.2 Die Forscher geben zunächst mal einen Überblick: Die wissenschaftliche Literatur kennt für die Gesamtzahl der irdischen Arten Größenordnungen mit erstaunlichen Unterschieden, nämlich zwischen 3 Millionen und 100 Millionen. Sofort wird klar, dass es bisher keine verlässliche Datenbasis dazu gibt. Der Biologe Prof. Camilo Mora und sein Team haben sich an der Universität von Hawaii dieser Fragestellung angenommen und mithilfe eines recht einfachen statistischen Verfahrens eine von der Fachwelt hoch angesehene neue Methode der Artenschätzung entwickelt. Das Ergebnis: Es gibt auf dem Globus rund 8,7 Millionen Arten (+/-1,3 Millionen statistischer Fehler), die meisten Arten finden sich an Land, rund 2,2 Millionen (+/-0,2 Millionen statistischer Fehler) im Wasser. Camilo Mora bestätigt in seiner Arbeit noch eine andere Zahl: Rund 15000 Arten werden pro Jahr neu entdeckt.3
Eine ganze Menge Zahlenwirrwarr also für den Anfang eines Buches über das Artensterben. Aber wissen Sie was? Eigentlich ist es egal, wie viele Arten wir genau haben und kennen, wie viele verschwinden und wie viele neu entdeckt werden. Entscheidend ist etwas anderes: Wir müssen uns endlich unser Nichtwissen über die Leistungsfähigkeit der Natur und der damit einhergehenden ständigen genetischen Weiterentwicklung, der Evolution, eingestehen.
Wie ist das zu verstehen? Ein Beispiel: In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts fand der chinesische Agrarforscher Yuan Longping eine wilde Reissorte. Er kreuzte sie in eine bekannte Linie ein und erhielt einen sogenannten Hybridreis, der den Bauern 30 Prozent mehr Ertrag bescherte. Das also ist die Schlüsselbotschaft: Je mehr Arten verschwinden, bevor wir sie entdeckt haben, desto größer ist die Gefahr, nützliche oder gar überlebenswichtige Eigenschaften z. B. von Pflanzen nie zu entdecken.
Es ist in diesem Zusammenhang auch nicht beruhigend, wenn in der Literatur und in den Medien darauf hingewiesen wird, dass Artensterben ja etwas ganz Normales sei; schon immer habe es große Aussterbe-Szenarien gegeben. Das ist zunächst einmal korrekt. Der Paläontologe Norman McLeod beschreibt die wesentlichen erdgeschichtlichen Mechanismen für das Aussterben der Arten:4 Globale Abkühlung mit Eiszeiten als Folge, Änderung des Meeresspiegels etwa durch tektonische Veränderung der Meeresböden, Sauerstoffmangel in den Meeren, Veränderungen der Ozean-Atmosphären-Zirkulation, Veränderung der Sonneneinstrahlung etwa durch Vulkanausbrüche, Einschläge großer Meteoriten mit erheblichen Folgen wie globaler Dunkelheit und gewaltigen thermischen Blitzen mit Buschfeuern im Umkreis von Tausenden Kilometern um die Einschlagstelle. Diese Ereignisse besitzen ein unglaubliches Potenzial, eine geradezu kosmische Zerstörungskraft. Infolgedessen sind jeweils erhebliche Veränderungen der Biosphäre und der Ökosysteme zu erwarten bzw. auch schon eingetreten.
Das aktuell diskutierte Artensterben ist weit von kosmischen Ausmaßen entfernt. McLeod schätzt, dass es bei ungebrochenen Trends noch rund hundert bis fünfhundert Jahre dauern wird, bis man paläontologisch von einem neuen Aussterbeszenario sprechen kann, einem Szenario also, das sich mit anderen großen Aussterbe-Wellen der vergangenen zig Millionen bzw. Milliarden Jahre vergleichen lässt.
Und doch haben wir Anlass zu großer Sorge. Denn das aktuelle Artensterben kommt anders daher, hat andere Ursachen und verläuft ganz anders als die Ereignisse der frühen Erdgeschichte. Ein Grund dafür ist der Hauptakteur: Der Mensch, der sich die Erde untertan machen will.
Allein von 1945 bis 1962 wurden in den Laboratorien der großen Konzerne rund zweihundert neue agrarchemische Ausgangsstoffe hergestellt. Es handelt sich um Spritz- und Sprühmittel, Pulver und Aerosole, die sich besonders fein als Nebel verteilen. Sie werden unter Tausenden unterschiedlichen Handelsnamen verkauft, werden gern als Pflanzenschutzmittel bezeichnet und bewirken doch nur eins: Sie töten. Damit sogenannte Schädlinge, also Insekten, Nagetiere, aber auch Unkräuter auf bequeme Art und Weise entfernt werden können. Festgestellt und aufgeschrieben hat das als eine der Ersten die amerikanische Biologin und Schriftstellerin Rachel Carson. Ihr Buch Silent Spring, in Deutschland unter dem Titel Der stumme Frühling erschienen, sorgte im Erscheinungsjahr 1962 für einen Schock. Die Macht der neuen Chemikalien ist groß. Rachel Carson schreibt: »Sie töten jedes Insekt, die guten wie die schlechten, sie lassen den Gesang der Vögel verstummen und lähmen die munteren Sprünge der Fische in den Flüssen. Sie überziehen die Blätter mit einem tödlichen Belag und halten sich lange im Erdreich – all dies, obwohl das Ziel, das sie treffen sollen, vielleicht nur in ein wenig Unkraut oder ein paar Insekten besteht. Kann jemand wirklich glauben, es wäre möglich, die Oberfläche der Erde einem solchen Sperrfeuer von Giften auszusetzen, ohne sie für alles Leben unbrauchbar zu machen?«5
Das Buch wurde zum Bestseller und zur »Bibel« nicht nur der amerikanischen Umweltbewegung. Und es wurde zum Problem für all die Konzerne, die mit Agrarchemikalien ihr Geld verdienen. Viel Geld. Bis heute ist das so. Allerdings haben sich die Wirkstoffe verändert, sind weiterentwickelt worden, müssen bestimmte Umweltauflagen erfüllen. Dennoch: Pestizide, hergestellt aus immer neuen chemisch-synthetischen Stoffen und Stoffkombinationen, sind ein zentrales Problem beim neuen Artensterben.
Darauf ist unendlich oft hingewiesen worden, vor allem von den Umweltverbänden. Regelmäßig berichten WWF, BUND, NABU, EuroNatur, Robin Wood und Greenpeace über die Umweltverseuchung mit Agrarchemikalien und fordern seit Jahrzehnten ein Umsteuern in der europäischen Agrarpolitik. Bisher ohne nennenswerten Erfolg. Einig sind sie sich mit mächtigen Leuten: In seinem bereits 1993 erschienenen Buch Earth in the Balance greift US-Senator Al Gore6 die von Rachel Carson geschilderte Problematik auf und fügt weitere Beispiele an: So hat ein in Indonesien versprühtes Insektizid nicht nur die Schädlinge umgebracht, sondern auch eine spezielle Wespenart, die wiederum Schadinsekten in den reetgedeckten Dächern in Schach hielt. Die Folge: Nach und nach stürzten die Dächer ein. Das Insektizid war auch tödlich für Katzen, sie verendeten reihenweise. Darauf befiel eine Rattenplage die Dörfer – und mehr noch: Die Ratten übertrugen die Erreger der Beulenpest.
Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, was auf Erden kriecht!
Das Herrschen über alles Lebendige: Mit Pestiziden scheint die Menschheit weit über das Ziel hinauszuschießen. Statt die Schöpfung intelligent zu nutzen, bringen wir lieber Lebewesen um, die uns angeblich irgendwie in die Quere kommen. Warum das so ist und dass es durchaus Alternativen gibt, darüber wird auf den folgenden Seiten mehr zu erfahren sein.
Das neue Artensterben: Schon früh gab es dazu international anerkannte...