1 Kardiale Notfälle
1.1 Akutes Koronarsyndrom
Hendrik Bonnemeier, Sebastian Wolfrum
Sie werden zu einem 62-jährigen Mann gerufen. Nachdem die Ehefrau den aschfahlen und schweißnassen Patienten in seinem Arbeitszimmer vorfand, rief sie umgehend die Leitstelle an. Seit dem Nachmittag leidet er unter einer zunehmenden Enge im Brustkorb, die sich seit einer halben Stunde zu einem starken und dumpfen Brustschmerz verstärkt hat. Die Frau lässt die RTW-Besatzung in die Wohnung ein. Der Patient sitzt in seinem Arbeitssessel und gibt stärkste thorakale Schmerzen an, die in den linken Arm und den Unterkiefer ausstrahlen. Er hat Todesangst, ist kurzatmig und klagt über Übelkeit. Laut Ehefrau sei der Patient bislang immer gesund gewesen – allenfalls habe er laut seines Hausarztes einen leichten Bluthochdruck. Sein älterer Bruder sei vor 4 Jahren aufgrund eines Herzinfarkts in der Klinik behandelt worden. Auf dem Arbeitstisch stehen eine Zigarettendrehmaschine und ein großer Beutel Tabak. Die initiale Sauerstoffsättigung unter Raumluft beträgt 95% und der Blutdruck liegt bei 170/95mmHg.
Frage 1 - Check Notfall- / Gefahrensituation
Der Patient präsentiert sich mit dem Leitsymptom akutes Koronarsyndrom (ACS). Welches sind Ihre initialen Maßnahmen?
sofortiges Nachfordern des Notarztes bei Verdacht auf ein ACS
Oberkörperhochlagerung und beruhigender Zuspruch
Vorgehen nach dem ABCDE-Schema inkl. Dokumentation der Vitalparameter sowie Anlegen der EKG-Elektroden für kontinuierliches Monitoring und Schreiben eines 12-Kanal-EKGs, Pulsoxymetrie sowie ggf. automatische und wiederholte nicht invasive Blutdruckmessung.
Applikation von Sauerstoff (Start 2l/min via Nasenbrille)
bei systolischen Blutdruckwerten >100mmHg ggf. 1–2 Hübe Nitroglyzerinspray (entspricht 0,4–0,8mg)
Hier kommen SOP 1–4 ( ▶ Abb. 32.1, ▶ Abb. 32.2, ▶ Abb. 32.3, ▶ Abb. 32.4), 24e ( ▶ Abb. 32.25) und 30 ( ▶ Abb. 32.29) zum Einsatz.
Die beschriebenen Symptome (linksthorakale Schmerzen / Vernichtungsschmerz mit Ausstrahlung in den linken Arm, Kaltschweißigkeit, Dyspnoe, Übelkeit) sind typisch für das ACS.
Als ACS fasst man ein Spektrum von Erkrankungen zusammen, die durch einen vollständigen Verschluss oder ein Verengen der Herzkranzgefäße hervorgerufen werden.
Bei der Arbeitsdiagnose ACS ist grundsätzlich von einer lebensbedrohlichen Erkrankung auszugehen und entsprechend muss obligat ein Notarzt hinzugezogen werden. Ferner ist ein kontinuierliches EKG-Monitoring nötig, da das Risiko von gefährlichen Herzrhythmusstörungen in dieser Situation stark erhöht ist.
Präklinisch lässt sich das ACS einteilen in eines mit und eines ohne ST-Strecken-Hebungen. Diese Unterscheidung ist für die weitere Verbringung und die weitere Therapie des Patienten entscheidend und beruht allein auf der Analyse des 12-Kanal-EKGs.
Frage 2 - Ablaufstrukturen / Algorithmen / Einsatzkonzepte
Warum ist ein 12-Kanal-EKG bei Patienten mit einem ACS essenziell?
Das ACS wird präklinisch durch ein 12-Kanal-EKG differenziert.
Patienten mit einem ST-Strecken-Hebungs-Infarkt (STEMI) sollen umgehend in ein Krankenhaus mit der Möglichkeit einer sofortigen Herzkatheterdiagnostik und -therapie (perkutane Koronarintervention; PCI) gebracht werden. Dies gilt auch für Patienten mit einem neu aufgetretenen Linksschenkelblock. Kreislaufstabile Patienten ohne ST-Strecken-Hebungen oder mit unspezifischen EKG-Veränderungen sind in eine Notaufnahme, eine Chest Pain Unit oder eine Intensivstation eines Akutkrankenhauses zu bringen. Bei diesen Patienten steht im Verlauf i.d.R. ebenfalls eine Herzkatheteruntersuchung an.
Frage 3 - Ablaufstrukturen / Algorithmen / Einsatzkonzepte
Wohin und unter welchen Bedingungen soll der Patient transportiert werden?
Jeder Patient mit einem ACS ist in Begleitung eines Notarztes, unter kontinuierlichem EKG-Monitoring, kontinuierlicher Sauerstoffapplikation und mit Sonderrechten in das nächste Krankenhaus mit der Möglichkeit einer zeitnahen Herzkatheteruntersuchung zu bringen – getreu dem Motto: „time is muscle“. ( ▶ Abb. 1.1, ▶ Abb. 1.2)
STEMI der Vorderwand.
Abb. 1.1 Frühstadium eines ST-Strecken-Elevations-Myokardinfarkts (STEMI) der Vorderwand. Typische ST-Strecken-Hebungen in den Ableitungen I, II, aVL, V1–V6, zudem R-Verlust über den Vorderwandableitungen (V1–V6) sowie deutlich überhöhte T-Wellen (sog. Erstickungs-T).
STEMI der Hinterwand.
Abb. 1.2 Frühstadium eines ST-Strecken-Elevations-Myokardinfarkts (STEMI) der Hinterwand. Typische ST-Strecken-Hebungen und Erstickungs-T in den Ableitungen II, III und aVF. ST-Strecken-Senkungen in den Ableitungen V1–V3.
Frage 4 - Medizinische Diagnostik und Therapie / Lebensrettung
Was sind die Ursachen eines Herzinfarkts?
Durch einen Einriss der Gefäßinnenhaut der Herzkranzgefäße (einer sog. Plaque-Ruptur) kommt es zu einer überschießenden Gerinnung und Thrombozytenaggregation und somit zur Bildung eines Thrombus. Dieser verlegt bereits nach wenigen Sekunden den Strombereich der gesamten Herzkranzader. Hierdurch kommt es in dem durch die betroffene Herzkranzader mit Blut und Sauerstoff versorgten Herzmuskelbereich zu einer akuten Unterversorgung – einer sog. Ischämie.
Frage 5 - Medizinische Diagnostik und Therapie / Lebensrettung
Mit welchen Komplikationen muss man rechnen?
Der Verschluss einer Herzkranzader kann zu lebensbedrohlichen Folgen für den Patienten führen. In der akuten Phase ist das Risiko für ein Kammerflimmern oder eine Kammertachykardie deutlich erhöht.
Auch bradykarde Herzrhythmusstörungen treten gehäuft auf. Ferner ist immer mit dem Entstehen eines akuten kardiogenen Schocks zu rechnen. Dieser entsteht durch die infarktbedingte Einschränkung der linksventrikulären Pumpfunktion, kann aber auch durch infarktbedingte Komplikationen entstehen (z.B. hochgradige Mitralklappeninsuffizienz durch Papillarmuskelabriss, infarktbedingtem Ventrikelseptumdefekt).
Frage 6 - Medizinische Diagnostik und Therapie / Lebensrettung
Sie messen beim Patienten einen regelmäßigen Puls mit einer Herzfrequenz von 90/min, das 12-Kanal-EKG zeigt einen Sinusrhythmus mit signifikanten ST-Strecken-Hebungen über der Vorderwand. Der Blutdruck beträgt an beiden Oberarmen gemessen 170/95mmHg. Bei einer Atemfrequenz von 18/min wird in der Pulsoxymetrie eine Sättigung von 98% unter 2l Sauerstoff/min angezeigt. Mit dem Stethoskop sind beidseits basal grobblasige Rasselgeräusche über den Lungen zu ...