ANNÄHERUNG ANS THEMA I
BONDO. BANGLADESCH. BARBUDA
Am 23. August 2017 löst sich eine Felsnase von der Nordflanke des Piz Cengalo auf der schweizerisch-italienischen Grenze. Drei Millionen Kubikmeter Fels stürzen auf den Cengalogletscher und bringen große Mengen Gletschereis zum Schmelzen. Das Gemisch aus Fels und Schmelzwasser rast als Murgang durch das unbewohnte Val Bondasca und begräbt acht Wanderer metertief unter sich, ergießt sich ins Haupttal des Bergells und zerstört Teile des Dorfs Bondo. Weil die Bewohner rechtzeitig evakuiert wurden, gibt es im Dorf keine Todesopfer, und der Schaden fällt nicht schlimmer aus, weil die Gemeinde einige Jahre zuvor ein Auffangbecken gebaut hat – gegen Widerstand wegen der hohen Kosten, doch in der reichen Schweiz konnte man es sich leisten.
Bergstürze gab es schon immer; 1618 begrub ein Bergsturz wenige Kilometer von Bondo entfernt ein ganzes Dorf unter sich. Immer spielen mehrere Ursachen zusammen. Im Falle von Bondo kamen aber zwei Faktoren dazu, die es nicht immer schon gab. Über 2400 Metern über Meer ist der Boden ganzjährig gefroren. Dieser sogenannte Permafrost zieht sich nun zurück, weil es wärmer wird. Und der Cengalogletscher schrumpft wie fast alle Alpengletscher. Er hat bisher die brüchige Felswand des Piz Cengalo gestützt.
Der Bergsturz von Bondo berührte mich besonders, weil ich geplant hatte, wenige Wochen später durch das Val Bondasca zu wandern. Die Weltmedien wurden im späten August 2017 aber von anderen Ereignissen dominiert. Über dem Golf von Mexiko braute sich der Hurrikan Harvey zusammen. Ein tropischer Sturm, nichts Außergewöhnliches in dieser Gegend. Aber weil das Wasser des Golfs von Mexiko wärmer geworden ist, werden Hurrikane tendenziell heftiger und die wärmere Luft nimmt mehr Wasser auf. Am 25. August traf Harvey bei Houston auf Festland – als hätte der Hurrikan mit Sinn für Symbolik gerade die Stadt gewählt, die wie kaum eine zweite für eine ressourcenverschwenderische Lebensweise steht: mit Erdölgeld in ein Sumpfgebiet gebaut, von Autobahnen durchzogen und mit riesigen Einfamilienhausquartieren ins Umland wuchernd, jeden entmutigend, der sich zu Fuß fortbewegen will. Teile der Küstenregion von Texas und Louisiana wurden von ungeheuren Regenmengen überflutet.
Und vielleicht deshalb, weil das Wetter in den USA gerade für Schlagzeilen sorgte, fiel der Blick der Weltmedien auch auf den indischen Subkontinent. Dort wütete ein außergewöhnlich heftiger Monsun. Bereits im Mai waren aus Sri Lanka Todesopfer gemeldet worden. Im August fielen den Überschwemmungen in Indien, Nepal, Pakistan und Bangladesch 2000 Menschen zum Opfer.
Wenig später braute sich der nächste Wirbelsturm im Atlantik zusammen: Irma, der heftigste Hurrikan über dem Atlantik seit Messbeginn. Er raste auf die Karibik zu; auf der kleinen Insel Barbuda zerstörte er über neunzig Prozent aller Gebäude. Aber die Augen der Weltmedien waren auf Florida gerichtet. Wettermodelle sagten vorher, zu welcher Stunde Irma dort auf Festland treffen würde. Die angekündigte Katastrophe wurde mittels Live-Berichterstattung zum Spektakel gemacht (und ging dann etwas glimpflicher aus als befürchtet). Auf Irma folgten im September noch zwei starke Hurrikane in der Region, die vor allem auf den Inseln der Antillen weitere Schäden anrichteten und Todesopfer forderten, Jose und Maria.
Ungefähr zur selben Zeit forderte ein Erdrutsch nach außergewöhnlichen Regenfällen nahe Freetown in Sierra Leone Hunderte von Todesopfern. Auch in anderen Teilen Afrikas rutschte die Erde, derweil große Teile Südeuropas unter einer ungewöhnlichen Dürre litten und die landwirtschaftlichen Erträge dramatisch einbrachen. Und in Grönland hatte im Juli die Tundra gebrannt, wie man es in diesem Ausmaß noch nicht beobachtet hat. Auch hier war es ungewöhnlich heiß und trocken gewesen. Die brennende Vegetation setzte auch den ausgetrockneten Torfboden in Brand. Solche Brände sind ein Schulbuchbeispiel für einen sich selbst verstärkenden Rückkoppelungseffekt des Klimawandels: Weil es zu viele Treibhausgase in der Luft hat, wird es wärmer. Weil es wärmer wird, gibt es mehr Wald-, Busch- und Torfbrände. Diese Brände setzen CO2 frei, das als Treibhausgas wiederum die Erwärmung verstärkt.
Am Ende des Jahres wusste man: 2017 war das im globalen Durchschnitt zweitwärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Das wärmste war das Vorjahr gewesen.
Endspiel
Wenige Wochen vor all diesen Ereignissen publizierte das New York Magazine unter dem Titel »Unbewohnbare Erde« eine lange Recherche des Journalisten David Wallace-Wells, die weltweit große Beachtung fand. Wallace-Wells hatte mit zahlreichen Klimaforschern gesprochen. Sein Artikel beginnt mit den Worten »Ich verspreche, es ist schlimmer, als Sie denken.«5
Die Chance, dass die Erwärmung auf zwei Grad über vorindustriellem Niveau begrenzt werden kann, schätzt Michael Oppenheimer von der Princeton University, ein Pionier der Klimaforschung, im Interview mit Wallace-Wells auf zehn Prozent – vor der Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten, so Oppenheimer, hätte seine Schätzung noch bei zwanzig Prozent gelegen. Als es auf der Erde das letzte Mal zwei Grad wärmer war, habe der Meeresspiegel sechs bis neun Meter höher gelegen als heute.6
Wenn aber die Treibhausgasemissionen wie bisher ungebremst weiter steigen, könnte sich das Klima laut wissenschaftlichen Modellen bis im Jahr 2100 auch um drei, vier oder fünf, nach Extremszenarien sogar um acht Grad erwärmen. Eine Klimaerwärmung um fünf Grad gab es schon einmal: vor 252 Millionen Jahren an der Perm-Trias-Grenze. Damals starben laut Schätzungen 90 bis 95 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten aus. Dabei erstreckte sich die damalige Erwärmung über einen viel längeren Zeitraum, verlief also viel langsamer als die gegenwärtige.7
Ich fragte mich nach der Lektüre von Wallace-Wells’ Artikel: Wie würde sich ein Science-Fiction-Autor das Endspiel ausmalen? Vielleicht so: Immer mehr und immer heftigere Extremwetter richten immer größere Schäden an und fordern immer mehr Todesopfer, riesige Waldflächen brennen; die landwirtschaftlichen Erträge brechen ein, Hungersnöte und Massenmigration sind die Folge. Die Katastrophen – zumindest jene in den reicheren Weltgegenden – werden medial flächendeckend begleitet, man sieht Fernsehreporter, sich an Fahnenstangen festklammernd, aus dem Innersten der Stürme berichten. Die Ursachen sind wissenschaftlich bestens erforscht, dennoch gibt es lange Debatten darüber, ob das nun bereits der Klimawandel sei – oder vielleicht doch noch nicht. Wer ungeschönt auf den Ernst der Lage verweist, gilt als Alarmist. In den Feuilletons fragen Kulturwissenschaftler in feingeistigen Essays, woher die Faszination des Apokalyptischen kommt, und mokieren sich über menschliche Kontrollfantasien, wenn jemand fordert, die Katastrophen nicht einfach hinzunehmen.
Wir sind mittendrin
Im späten August 2017 schien das Gedankenspiel Realität zu werden. In der Regierung jenes Landes, das von den Unwettern zwar nicht am heftigsten getroffen, über dessen Schäden aber weitaus am meisten berichtet wurde – der USA –, sitzen Leute in den wichtigsten Ämtern, die den vom Menschen verursachten Klimawandel leugnen. Eine Internetsuche, die ich am 4. September unternahm, fand zum Stichwort »Hurricane Harvey« 88 Millionen Treffer; nur in drei Prozent dieser Treffer kam auch der Begriff »Climate Change« vor, wobei hier der zuerst angezeigte Treffer den Titel trug »Der Klimawandel ist nicht für Hurrikan Harvey verantwortlich«.
In Deutschland war der Klimawandel in der einzigen Fernsehdebatte zwischen den beiden Spitzenkandidaten der Bundestagswahlen 2017, Angela Merkel und Martin Schulz, im September kein Thema. In Schweizer Zeitungen erschienen Kommentare, die mahnten, die Ereignisse von Bondo bis Houston seien keine Beweise des Klimawandels. So schrieb der Zürcher Tages-Anzeiger, unter Laien gelte es »längst als ausgemacht, dass die Ereignisse in Bondo und Houston Folge des menschengemachten Klimawandels sind«. Fachleute seien »vorsichtiger: Einen direkten Zusammenhang mag kaum einer herstellen. Naturkatastrophen gab es schon lange, bevor wir CO2 in die Luft zu blasen begannen.«8
Natürlich gab es Naturkatastrophen schon immer, aber mag tatsächlich kaum eine Fachperson einen Zusammenhang zwischen den Katastrophen und dem Klimawandel herstellen, wie der Kommentator behauptet? Nein. Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung teilte mit, Hurrikan Harvey sei zwar nicht vom Klimawandel ausgelöst worden, aber seine verheerenden Folgen seien »sehr wahrscheinlich« mit dem Klimawandel zu erklären. Zum Extrem-Monsun in Südasien schrieb das selbe Institut: »Computersimulationen (…) erfahren nun eine traurige Bestätigung durch die gegenwärtigen verheerenden...