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E-Book

Nur weil ich Hypochonder bin, heißt das ja nicht, dass ich nichts habe

Eine Anamnese

AutorAndreas Wenderoth
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783104901565
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
*** Bekenntnisse eines Hypochonders*** 'Ich leide sehr viel an Krankheiten, die ich nicht habe. Und bin damit nicht allein. Friedrich der Große, Charlie Chaplin, Woody Allen - vor allem meine Geschlechtsgenossen sind betroffen. Und es sind meist die Frauen, die unsere hypochondrischen Züge erdulden müssen. Dieses Buch widmet sich den weitverbreiteten Ängsten vorm Kranksein in ihren vielfältigen Erscheinungsformen und lotet ein Phänomen aus, das in seiner Auswirkung auf die Partnerschaft - insbesondere seine Fähigkeit, sie schnell und zielsicher an ihre Grenzen zu führen - bislang weitgehend unterschätzt wurde.' Ein sanftironischer Leitfaden für Frauen mit einem hochsensiblen Partner.

Andreas Wenderoth, geboren 1965, bekennender Hypochonder, volontierte bei der 'Berliner Zeitung' und wurde danach freier Reporter. Für seine erste Reportage bekam er den Theodor-Wolff-Preis. Er schreibt Reportagen und Porträts u.a. für 'GEO', 'SZ-Magazin', 'mare' und 'Die Zeit'. Im Frühjahr 2016 erschien sein vielbeachtetes Buch 'Ein halber Held' - die besondere Geschichte einer Demenz.

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Leseprobe

Das Universum der Hypochondrie


Ist das der Anfang vom Ende oder nur ein vorübergehender Zustand?

Gustave Flaubert

Ich schaue in einen grauschweren Winterhimmel und sehe drohendes Ungemach und biblische Plagen. Zu wenig Licht in der Luft und zu viel, was in ihr herumschwirrt: ein furchterregender Cocktail aus Viren, Mikroben und Bakterien, der offenbar direkt in der Hölle gemixt wurde. Hustende Menschen, schlechtgelaunt, die Großstadt an ihrem Tiefpunkt. Die Zeitungen berichten bereits seit Tagen von der Grippewelle, die nun in Berlin eingetroffen sei, die Wartezimmer überfüllt, und so richtig machen dagegen kann man nichts. Dieses Ausgeliefertsein und die Angst, man wähnt sich ans Bett gefesselt, wochenlang, Tage, die zäh und sinnlos verstreichen, man weiß, wie es kommen kann, wenn die Krankheit nach einem greift.

 

Ich könnte mir auf die Schulter klopfen, denn fast immer kommt es so, wie ich glasklar vorhersagte. Wenn man denkt wie ich, kann man eigentlich nie verlieren, weil man in seinem Glauben an die schlechteste mögliche Variante ja leider meist recht behält. Und dennoch ist es schwer, sich dabei als Gewinner zu fühlen. Schon deshalb, weil es natürlich immer auch gewisse Verluste gibt.

Gestern Abend zum Beispiel, dieser schreckliche Geburtstag, den ich mit meiner Freundin Alexandra besuchte (die ihn ganz anders wahrgenommen hat und allenfalls mich schrecklich fand). Etwa ein Drittel der Gäste war schwer erkältet: Mein Gegenüber hustete praktisch ununterbrochen, ein anderer Gast nieste, ausgerechnet als er die Salatschüssel herumreichte. Der traurige Höhepunkt des Abends war erreicht, als eine Frau ihr Taschentuch direkt auf den Esstisch legte (was man ja auch erst mal bringen muss). Ich hielt es für eine grobe Rücksichtslosigkeit, dass hier ein Fest gefeiert werden sollte, bei dem fahrlässig mit der Gesundheit von Gästen umgegangen wurde, die man doch vorgab zu schätzen (warum sonst hätte man uns eingeladen?). Wieso kam im Winter überhaupt jemand auf die Idee, ohne Not Menschen in einem engen Raum zu versammeln (schon ab Spätherbst vermeide ich normalerweise jede Einladung)? Warum versuchte man nun, in gespielter Heiterkeit mit prickelndem Sekt in der Hand über den Ernst der Lage hinwegzutäuschen? War ich ausschließlich von Stumpfsinnigen umgeben? Nein, die anderen hatten nur kein Problem damit. Das Problem lag offenbar ausschließlich auf MEINER Seite.

In solchen Fällen orte ich sofort die betroffenen Personen und setze mich möglichst ans andere Tischende. Dumm, wenn sich auch dort jemand breitmacht, der gerade erzählt, dass er bis gestern noch fest im Bett lag. Oder, die abgeschwächte, aber keineswegs weniger furchteinflößende Variante, von den beiden Kindern, die immer noch Fieber hätten. »Warum um Gottes willen bist du denn nicht im Bett geblieben?«, liegt mir dann jedes Mal auf der Zunge zu fragen. Wieso hältst du es für eine gute Idee, ahnungslose Mitmenschen zu gefährden, nur weil du glaubst, dass die Runde ausgerechnet von deiner Anwesenheit profitieren könnte? Wenn der oder die dann auch noch erwähnt, die leckere Tarte Tatin mit Bananen stamme übrigens von ihr (in Wahrheit stammt sie natürlich aus »Jamies Kochschule«), ist wohl klar, was ich ganz sicher nicht anrühren werde.

Schon beim Eintreffen überschlug ich, wie viele Drinks ich herunterkippen müsste, um mich so weit zu beruhigen, dass dem Abend vielleicht noch etwas Positives abzugewinnen wäre, kam aber rasch zu dem Ergebnis, dass die Alkoholbestände dafür vermutlich nicht ausreichten. Natürlich hatte ich aus Gründen des Selbstschutzes niemandem die Hand gegeben, und vielleicht hätte man mir das noch irgendwie durchgehen lassen. Aber dass ich auch konsequent jedes Gespräch zu vermeiden suchte, eckte dann doch ein bisschen an. Ich setzte mich in eine Ecke, gab vor, die Bücherregale sehr genau nach ihren Titeln zu untersuchen, blieb lange auf dem Balkon und machte meiner Freundin schon nach einer halben Stunde Zeichen, langsam an Aufbruch zu denken.

Sie ihrerseits gab Zeichen, die ich so deuten musste, als zweifle sie an meinem Verstand (das tut sie in der Tat, aber damit ist sie nicht allein). Im Grunde stimme ich ihr völlig zu, nur dass dies an der Situation leider nichts ändert. Ich bin nämlich Hypochonder. Sie wissen nicht, was das ist?

 

Ich werde es Ihnen erklären.

 

Meistens fängt es so an: Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel und befühle die Lymphknoten an meinem Hals. Ich stelle mir Fragen. Bilde ich mir ein leichtes Ziehen ein, ein unbestimmtes Kribbeln gar in der Nase, das auf einen fernen Anflug einer Erkältung hindeuten mag? Eigentlich ist nichts zu spüren. Aber das muss natürlich nicht heißen, dass da nichts ist. Als Fachmann für Leiden aller Art weiß ich, wenn man nur lange genug sucht, wird schon irgendetwas sein. Und ich bin durchaus geübt im Suchen. Dabei sehne ich mir keine Krankheiten herbei. Im Gegenteil, nichts fürchte ich mehr als sie. Ich finde eben nur, dass man sie nicht gleich ausschließen sollte, nur weil im Moment vielleicht eher mehr gegen als für sie spricht.

Eigentlich bin ich eher rational, allerdings hat die Vernunft bei mir einen schweren Stand. Sie muss sich nämlich gegen die Angst behaupten. Meist verliert sie das Duell. Das liegt natürlich daran, dass die Angst die besseren Waffen hat. Es ist so, als würde man einen Panzer gegen einen Reiter mit Pfeil und Bogen antreten lassen. Der Reiter hat eigentlich nur dann eine Chance, wenn dem Panzer das Benzin ausgeht. Oder alle Panzerinsassen so vollständig betrunken sind, dass sie ihn übersehen. Es müssen also schon relativ viele günstige Umstände zusammenkommen, damit der Reiter einigermaßen gesund davonkommt. Das in etwa ist meine Situation.

Wie die meisten Bundesbürger leide ich zuweilen an Krankheiten, die ich nicht habe. Unspezifische Symptome sind dabei von Vorteil, weil sie breiter zu deuten sind. Sie lassen mir deutlich mehr Spielraum in meinen Befürchtungen als das einschnürende Korsett des klar Nachweisbaren. Was bedeuten die Lichtblitze, die manchmal auftauchen, wenn ich aus dem Sessel aufstehe? Deuten Bauchschmerzen nicht fast immer auf Magenkrebs hin? Und was, bitte schön, mögen wohl die roten Flecken auf meiner Haut bedeuten?

Als Hypochonder weiß ich: stets das Schlimmste! Die Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation WHO geben mir dabei die nötige Rückendeckung: »Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.« Wer, bitte schön, kann sich so gesehen schon als gesund betrachten?

 

Wenn wir sind, was wir fühlen, habe ich ein bisschen Angst um mich. Zwar sehe ich, wie mir von wohlmeinenden Menschen zuweilen bestätigt wird, immer noch etwas jünger aus, als ich bin, fühle mich allerdings deutlich älter. In letzter Zeit würde ich mich selbst, sagen wir mal so, irgendwo in den Mitsiebzigern ansiedeln. Ich sehe mich also eher auf der Auslaufbahn des Lebens als in seinem vitalen Zentrum und bin der festen Überzeugung, dass ich es nur dann vielleicht noch etwas verlängern kann, wenn ich nicht allzu viele Runden drehe. Ich schleiche mich im Schongang durchs Leben, weil ich der möglicherweise irrigen Meinung bin, die Risiken damit zu reduzieren.

Mein Leben ist wie ein Güterzug, der einen steilen Berg bewältigen muss. Leider ist die Lok etwas schwach ausgelegt, um auch nur einigermaßen vernünftig ans Ziel zu gelangen. Wenn es stimmt, dass der Weg das Ziel ist, würde ich den Zug gern wechseln. Aber aus dem eigenen Leben kann man natürlich nicht einfach abspringen. Also fahre ich einfach weiter mit.

Wenn ich nicht schreibe, sorge ich mich auf dramatische Weise um meine Gesundheit. Wenn ich schreibe, tue ich das selbstverständlich auch. Die Sorge lässt mich nie los. Ich möchte mir auch nicht einreden lassen, meine Sorge sei überflüssig, denn bisher haben sich bereits viele meiner Befürchtungen erfüllt. Ich kann meinen Körper nicht mit dem naiven Zutrauen der Jugend betrachten, denn ich halte es für keineswegs selbstverständlich, dass er funktioniert. Und er bedeutet mir, dass er das ähnlich sieht. Ich habe gelernt, darauf zu achten, was mir mein Körper sagt. Denn ich höre ihm mehr oder weniger ununterbrochen zu.

Alexandra sagt, sie sei nicht sicher, ob die Beschäftigung mit diesem Buch mir wirklich guttue. Sie fürchtet, es könnte einige ohnehin angelegte Tendenzen noch deutlicher hervortreten lassen. Sie sehnt den Zeitpunkt herbei, wenn es endlich beendet ist. Bis dahin werde ich ihr einige schwere Stunden bereiten. Aber danach, so ihre stille Hoffnung, kann sie anderen zeigen, wie es um mich bestellt ist. Und um sie. Ich glaube, sie erwartet ein bisschen Mitgefühl. Sie hat es nicht ganz leicht mit mir. Aber zu ihrer Tröstung sei gesagt, noch schwerer habe ich es ja selbst mit mir.

Es ist keineswegs so, dass ich alles gutheiße, was in mir geschieht. Nicht gedanklich. Und körperlich natürlich erst recht nicht. Beide, Körper und Geist, machen im Grunde, was sie wollen. Und meistens ganz entgegengesetzte Dinge. Natürlich versuche ich immer wieder, zu ihnen vorzudringen, ihnen dieses oder jenes vorzuschlagen. Aber entweder sie hören mir nicht richtig zu. Oder sie machen bewusst das Gegenteil von dem, was ich sage. Wir sind uns immer ein bisschen fremd geblieben.

Das heißt nicht, dass ich keinen Einfluss auf mich hätte. Nur würde ich es nicht als guten Einfluss bezeichnen. Ich kann zum Beispiel jederzeit das gesamte System durcheinanderbringen. Vegetativ, organisch und seelisch. An guten Tagen schaffe ich den kompletten Absturz. Mit der Selbstberuhigung habe ich...

Blick ins Buch

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