Den schreckt der Berg nicht, der darauf geboren.
II. Nur wer widerstandsfähig ist, gewinnt.
Die Resilienz darleben
Sobald du dir vertraust,
sobald weißt du zu leben.
Mephisto
Wer gewinnen will, muss meistens etwas wagen. Wer etwas wagt, geht ein Risiko ein; Risiken verursachen Stress. Die Erfahrung beständiger Kompetenz, mit Stress positiv umzugehen, mildert ihn. Die menschliche Befähigung zur Resilienz nimmt dem Risiko seinen Schrecken, das Netzwerk psychischer Widerstandsfähigkeit wird dadurch immer fester und haltbarer. Das alte Wort „darleben“ bedeutet: sich verwirklichen und etwas durch seine Lebensführung anschaulich machen. Wie sich eine resiliente Lebensgestaltung anfühlen und auswirken kann, möchte ich Ihnen auf den folgenden Seiten veranschaulichen.
Sind Sie Madonna-Fan? Nein? Ich auch nicht. Aber ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass ich als junger Mann 1984 einen Bericht über sie und ihren ersten Hit „Holiday“ sah, in dem sie sagte, sie wolle die größte Sängerin des Universums werden. Ja, klar, dachte ich: Popsternchen, träum weiter. Hätte ich damals mehr über sie und ihr bisheriges Leben gewusst, ich hätte es ihr vielleicht zugetraut. Ihr, die es in 30 Jahren wie keine Zweite geschafft hat, sich im Showbusiness nicht nur zu halten, sondern da-raus gar nicht wegzudenken ist. Sie hat das Unternehmen Madonna zu einem der erfolgreichsten Amerikas gemacht. Inzwischen ist sie eine der reichsten Amerikanerinnen, deren Vermögen auf 125 Millionen Dollar geschätzt wird. Man kann sie mögen oder nicht, aber eins ist klar: Sie ist eine der Größten. Und sie ist zäh. Was hat dazu geführt?
Aus dem Leben gegriffen: Madonnas Story
Mit fünf Jahren wird sie Halbwaise. Ihr Vater, italienischer Einwanderer und einfacher Automechaniker, beschäftigt für seine sechs Kinder wechselnde Kindermädchen, heiratet ein paar Jahre später wieder, bekommt noch zwei Kinder. Die Familie führt ein enges Leben mit wenig Geld, kleiner Wohnung, strengen katholischen Regeln sowohl des Familienoberhaupts als auch der konservativen Mädchenschule, die Madonna besucht.
Ihre Geschichte liest sich wie ein Märchen: Am Anfang steht ein emotional vernachlässigtes Mädchen, das ein schlechtes Verhältnis zur Stiefmutter hat. Da scheint Auflehnung die logische Konsequenz. Ihre Geschwister gehen diesen Weg in gewisser Weise klassisch vorprogrammiert: Drogen, Konflikte mit dem Gesetz oder Heilssuche in einer Sekte. Doch Madonna Louise Ciccone beißt sich in der Schule durch, entdeckt dort ihr tänzerisches und musikalisches Talent und zieht 1978 mit nur 235 Dollar in der Tasche nach New York. Sie hält sich mit Kellnerjobs über Wasser. Doch dann wird der amerikanische Traum wahr: Sie wird einige Jahre später entdeckt, hat 1984 ihren ersten Hit und verfolgt ihr Ziel, zur Königin des Musik-Universums zu werden, mit großen Schritten.
Menschliche Resilienz
Mit Resilienz wird die psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken bezeichnet. Anders als etwa der Erfolg zeigt sich die Resilienz erst unter ungünstigen bis widrigen Umständen. Sie wird dann erkennbar, wenn eine risikoträchtige Situation positiv bewältigt wird. Madonna ist das perfekte Beispiel für einen resilienten Menschen. Sie widerstand vielem und überwand Hürden, sie entwickelte ihre Potenziale in eine außerordentlich positive Richtung.
Anders ausgedrückt: Resilient ist nicht derjenige, dessen Glas immer halb voll ist, sondern derjenige, der es versteht, das Glas wieder ganz zu füllen! Und das betrifft nicht nur die kleinen Stolperfallen des Alltags, sondern auch massive Ein- oder Rückschläge im Leben. Bei diesen Menschen geht das Leben auch in Härtefällen nicht nur weiter, sondern sie gestalten es weiterhin. Sie nehmen die Dinge hin und an, verfallen nicht in Lethargie und sehen diese Zeiten als Herausforderung. Dabei tragen sie das volle Glas Wasser sogar über hinter ihnen zusammenbrechende Brücken. Daraus lässt sich Kraft schöpfen für neue Wege!
Im Grunde vereinigt ein resilienter Mensch die positiven Eigenschaften eines Cholerikers und eines Sanguinikers in sich. Ein Choleriker hat etwas Gutes an sich? Ja. Er ist häufig mutig, willensstark, energisch und einfallsreich. Dass er im Auftreten mindestens genauso häufig über das Ziel hinausschießt und eine weitere eigentlich gute Eigenschaft, die Hartnäckigkeit, mit seiner hitzköpfigen und egozentrischen Art konterkariert, lassen wir mal außer Acht. Genauso die Naivität und die Oberflächlichkeit des Sanguinikers. Stattdessen betrachten wir dessen überzeugende, fröhliche, sehr optimistische, lebhafte und meist überschwängliche Eigenschaften. Wir haben es mit einem mitreißenden Mensch zu tun, der durchs Leben tänzelt. Mixt man diese beiden Temperamente, kommt eine Person heraus, die Krisen gekonnt meistert und sich durch nichts so leicht aus der Bahn werfen lässt. Im Gegenteil: Sie lernt sogar daraus.
Begrifflich bezeichnet das lateinische Wort „resilio“ („abprallen“, „zurückspringen“) physikalische Vorgänge elastischer Stoffe, die sich verformen, aber auch wieder in ihre ursprüngliche Form zurückführen lassen. Dennoch sind resiliente Menschen keine Gummipuppen, keine seelenlosen Geschöpfe, die ihre Wut, Trauer, den Schmerz oder anderes Leid einfach leugnen und wegdrücken. Dieser Weg wäre auch nicht sinnvoll, denn er führt sehr leicht in das Gegenteil: Verdrängung, die zu Gleichgültigkeit führt, die in Selbstverleugnung mündet. Resilienz bedeutet etwas ganz anderes, und durchaus auch, zu leiden. Es geht darum, die Tragödie, die jemandem widerfährt, wahrzunehmen und als solche zu empfinden. Sie gerade nicht zu negieren, sondern zu akzeptieren. Misserfolge und Desaster gehören zum Leben, sich etwas schönzureden macht alles meist nur schlimmer. Ihnen aus dem Weg zu gehen, daran ist überhaupt nichts verkehrt. Aber deshalb ellenlange Umwege in Kauf zu nehmen oder Lebensziele komplett außen vor zu lassen, das kommt nicht infrage. In solchen Momenten gilt das Motto: Ich gehe da durch und ziehe mich aus eigener Kraft heraus, notfalls an den eigenen Haaren – unter der Prämisse: Ich kann das.
Wie entwickelt sich Resilienz?
Resiliente Menschen haben ohne Frage ein sehr großes Selbstvertrauen. Dabei ist nicht von aufgeblasener Selbstgefälligkeit die Rede, sondern von Selbstbejahung, die – nicht hierarchisch installiert, sondern auf einem festen Fundament stehend – ohne Arroganz auskommt. Wollen wir dieses Fundament nicht dem Zufall oder einer gewissen genetische Disposition überlassen, sondern Einfluss darauf nehmen, lehrt uns die Resilienzforschung, dass wir die Entwicklungsphasen eines Kindes von Anbeginn sehr ernst nehmen müssen. Es geht darum, schon mit einem Baby nicht nur feinfühlig, sondern respektvoll umzugehen. Um viel, sehr viel und ruhig noch ein bisschen mehr Körperkontakt mit Mutter und Vater, um gelebte Freude an und mit dem Baby. Zu berücksichtigen ist auch die Erkenntnis, dass Kleinkinder noch das unfehlbare Wissen um die eigenen Bedürfnisse in sich tragen. Volles Vertrauen in die Kompetenz des Kindes, ohne es ständig den ängstlichen Impulsen der Erwachsenen auszusetzen – ja, ein Krabbelkind kann eine Treppe selbstständig bewältigen und ein Kleinkind mit einem Küchenmesser umgehen.
In den ersten sechs Jahren seines Lebens erwirbt ein Kind alle Fähigkeiten, die es in seinem weiteren Leben braucht, um schwierige Lebenssituationen zu bewältigen. Die in diesem Zeitraum erfahrene Zuwendung der Eltern oder anderer wichtiger Bezugspersonen ist die Basis für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Wer Kinder nicht nur als wertvolle Mitglieder der eigenen Familie, sondern auch von vorneherein der Gesellschaft ansieht, nimmt eine Grundhaltung ein, die sich im Alltag mit dem Kind garantiert auswirkt. Dessen Potenziale können sich dadurch entfalten, sodass es dann als Erwachsener viel davon zurückgeben kann und vor allem will. Erwachsene können vorleben, wie es ist, wenn auch ein Mann mal weint. Dass die Verrichtung von Arbeit durchaus Spaß machen kann. Und dass das Wort „Stress“ ein Fremdwort ist oder man zumindest nicht jede Tätigkeit damit belegen muss!
Im Grundschulalter rückt der Realitätssinn des Kindes in den Vordergrund. Märchen und Geschichten werden immer differenzierter betrachtet und verstanden. Das soziale Lebensumfeld ist nicht nur Heimat, sondern auch Ausgangspunkt für Vergleiche mit anderen. Das Bedürfnis danach, immer mehr Bereiche autonom zu besetzen, konkurriert mit dem Wunsch, Teil einer Gemeinschaft zu sein und dazuzugehören. Erfolgserlebnisse als solche zu benennen und zu feiern stärkt das Selbstbewusstsein weiter. Die Vermittlung von Geborgenheit bleibt sehr wichtig für eine stabile Entwicklung. Auf diesen Prozess können jedoch bei, im wahrsten Sinne des Wortes, aller Liebe etliche Risikofaktoren einwirken, die eine stringente Entwicklung hemmen, es kommen biologische, psychologische oder psychosoziale Einflüsse infrage. Letzteren wird ein prägnanter und starker Einfluss zugesprochen. Wenn die Familie auseinandergerissen wird, sei es durch Scheidung oder den Tod eines Elternteils, oder in prekären Einkommensverhältnissen lebt, wirkt sich dies besonders nachhaltig aus. Nicht jeder Risikofaktor hemmt eine normale Entwicklung, aber häufig sind es gerade die psychosozialen Gegebenheiten, die gehäuft auftreten. Je länger sie andauern, umso stärker sind die bis dahin erlernten Bewältigungsstrategien des Kindes...