Jamie Henn
Online-Organisator, USA, 26
350: Die Bewegung hinter einer Zahl
Indem wir unser Ziel klarer definieren – indem wir es greifbarer und weniger fern erscheinen lassen –, können wir dazu beitragen, dass alle Völker es erkennen, Hoffnung daraus schöpfen und sich unbeirrt darauf zubewegen.
John F. Kennedy
Ich hörte die Demonstration, bevor ich sie sah. Als ich mit meinem Kollegen Jon um die Ecke auf den Times Square bog, erkannte ich sofort die charakteristischen Beats von Jay-Zs »Empire State of Mind«, die wir in der vergangenen Woche ständig gehört hatten. Die Fäuste in die Luft gereckt, beschleunigten wir unseren Schritt, und unsere Augen brannten darauf, die Ergebnisse von über einem Jahr Organisationsarbeit zu sehen. Und dann kamen sie: Bild um Bild der weltweit Tausenden von Klima-Demonstrationen dieses Tages flimmerte über die großen Bildschirme am Times Square.
Auf ein Foto von Hunderten Schulkindern auf den Philippinen folgte ein Bild, das Menschen in Sydney zeigte, die eine riesige 350 vor dem Opernhaus bildeten. Danach kamen Aufnahmen von Demonstrationen in Ghana, Mexiko, den Vereinigten Staaten. An diesem Tag präsentierten die großen Schirme, die normalerweise der Werbung für Wodka oder Geländewagen vorbehalten sind, die pulsierende Geburt der globalen Klimabewegung.
Die Bilder auf den Schirmen am Times Square an diesem 24. Oktober 2009 waren Teil des internationalen Aktionstags gegen den Klimawandel, den ich mit organisiert und koordiniert hatte. An diesem Tag fanden synchron mehr als 5200 Veranstaltungen in über 180 Ländern statt. CNN bezeichnete dies anschließend als »den umfassendsten politischen Aktionstag aller Zeiten«. Bei jeder Veranstaltung, ob in Beijing oder in Bujumbura, demonstrierten Bürger für die Rettung des Klimas, indem sie eine einfache, aber entscheidende Zahl vorführten: 350. Derzeit beträgt die Kohlendioxid-Konzentration in unserer Atmosphäre mehr als 389 Teile pro Million (ppm) und steigt pro Jahr um 2 Teile. Doch Wissenschaftler sind der Auffassung, dass die sichere Höchstgrenze für unsere Atmosphäre bei 350 ppm liegt, was unterm Strich bedeutet, dass wir uns bereits im roten Bereich befinden.
Wie ein derart langweiliger Messwert wie 350 ppm es auf die Bildschirme am Times Square schaffte, ist eine Geschichte, die eng mit meiner Entwicklung zum Klima-Aktivisten zusammenhängt. Als einer der Gründer von 350.org, der Kampagne, die sich hinter dem Aktionstag am 24. Oktober verbirgt, habe ich um die Zahl 350 gekämpft, habe sie verachtet, mit ihr gerungen, sie lieben gelernt. Für mich ist sie zum Symbol für das geworden, was ich an dieser Bewegung liebe: die Kreativität und die Leidenschaft ihrer Organisatoren, der radikale Ehrgeiz ihrer Ziele, die Vielfältigkeit ihres globalen Netzwerks und der Geist der Rücksichtnahme und der Gemeinsamkeit, der alles durchdringt.
Diese Zahl hatte für kaum jemanden größere Relevanz, als sechs College-Freunde, der Umwelt-Autor Bill McKibben und ich die 350.org-Kampagne Anfang 2008 starteten. Wir hatten seit 2005 als Klima-Aktivisten zusammengearbeitet; damals hatte sich eine Gruppe von uns sonntagabends am Middlebury College in Vermont zum Bier getroffen und darüber gesprochen, wie wir zum internationalen Dialog über den Klimawandel beitragen könnten.
Was als wöchentliches Treffen begann, nahm schon bald den größten Teil meiner Zeit in Anspruch. Ich war in einer fortschrittlichen Familie in Cambridge, Massachusetts, aufgewachsen und hatte während meiner High-School-Zeit viele Nachmittage ehrenamtlich in Suppenküchen und anderen Gemeindeeinrichtungen gearbeitet, betrachtete mich aber nicht als einen Aktivisten. Ich liebte die Natur und im Freien zu sein, hatte aber nie an Aktivitäten zu ihrem Schutz teilgenommen. Und nun war ich am College und schaufelte Essensreste auf eine gigantische Waage, um den anderen Studenten zu zeigen, wie groß die Verschwendung in der Mensa war, marschierte in voller Hockey-Montur zum Kapitol des Bundesstaates und forderte den Gouverneur auf, die Emissionen drastisch zu kürzen, um die winterlichen Eishockeyspiele auf den Seen zu sichern, und verbrachte einen ganzen Sommer damit, unter dem Motto »Road to Detroit« die landesweite Tour eines mit Biodiesel laufenden Busses zu organisieren, um für sauberere Autos zu werben. Dieselbe Freundesgruppe engagierte sich 2006 für einen Marsch durch Vermont, an dem sich fast 5000 Menschen beteiligten – nahezu eine Revolution für diesen kleinen Staat.
Im Jahr darauf veranstalteten meine Freunde und ich unsere erste größere Kampagne. Sie hieß Step It Up, verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Vereinigten Staaten und gipfelte am 4. April 2007 mit über 1400 Veranstaltungen in allen 50 Staaten – der größte Aktionstag in Sachen Umwelt seit einer Generation. Den letzten Tag der Kampagne verbrachte ich in einem engen Büro (eher ein Wandschrank), das uns die League of Conservation Voters in ihren Geschäftsräumen in Washington, DC überlassen hatte. Ich hatte meine College-Dozenten überredet, mir eine Woche freizugeben, und versuchte, während ich die Event-Organisatoren anrief, um sie über die Presseveröffentlichungen in Kenntnis zu setzen, nicht an den Berg von Hausaufgaben zu denken, der sich mittlerweile im College vor mir auftürmte. Zu sehen, wie an diesem Nachmittag Hunderte von Bildern aus dem ganzen Land auf unserer Website eintrafen, wog die nachfolgenden schlaflosen Nächte am College, die nötig waren, um den Stoff nachzuholen, mehr als auf.
Step It Up war ein großer Erfolg, aber mir war klar, dass das nicht reichte. Schließlich hieß es nicht ohne Grund »globale« Erwärmung. Daher begann unsere Gruppe Ende 2007, die Möglichkeiten einer internationalen Kampagne auszuloten. Etwa zur selben Zeit hatte Dr. James Hansen, einer der führenden Klima-Spezialisten weltweit, einen Artikel veröffentlicht, der unter Klima-Wissenschaftlern wie eine »geistige Bombe« zündete. Er wies nach, dass die Menschheit unbedingt die Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre von damals knapp 389 ppm auf höchstens 350 ppm reduzieren muss, um »einen Planeten ähnlich dem zu bewahren, auf dem sich unsere Zivilisation entwickelt hat und an den das Leben auf der Erde angepasst ist«. Das waren starke Worte für einen Wissenschaftler. Bill McKibben, der Dr. Hansen seit Ende der 1980er Jahren kannte, schlug vor, das 350-ppm-Ziel zum Symbol unserer neuen Kampagne zu machen.
Ich war eher skeptisch. Teile pro Million? Moment mal. Wer soll das denn verstehen? Je mehr wir darüber diskutierten, desto mehr erwärmten wir uns für unser seltsames neues Symbol. Schließlich gehören die arabischen Ziffern zu den wenigen Zeichen, die überall verstanden werden. Die Zahlenfolge 350 bedeutete auf Kantonesisch dasselbe wie auf Englisch. Sie sollte zum ultimativen globalen Ziel werden: ein klarer Bezugspunkt, der die Botschaft, was wir tun müssen, um die globale Erwärmung zu stoppen, mit drei einfachen Ziffern übermittelte. Es war der Silberstreif am Horizont eines langen, ergebnislosen Kampfes, und er reichte aus, um eine Bewegung darauf aufzubauen.
Im Lauf der folgenden Monate etablierte ich mich in meinem neuen Job als globaler Klima-Aktivist in Vollzeit für 350.org. Da unser Team aus sieben Leuten bestand, verfuhren wir nach dem, was uns am logischsten erschien: Wir teilten die Kontinente unter uns auf und begannen zu arbeiten. Ich wählte Ostasien und schickte als Erstes, wie ich das üblicherweise tat, allen Leuten in dieser Region, die meiner Meinung nach etwas mit Umweltfragen zu tun haben konnten, E-Mails. Jeden Tag fuhr ich in San Francisco mit dem Fahrrad von meiner Wohnung zu dem fensterlosen Büro in einem heruntergekommenen Stadtviertel, setzte mich an den Computer und war die nächsten acht Stunden damit beschäftigt, E-Mails und Kampagnenpläne zu schreiben sowie die losen Fäden zwischen den Aktivisten, die ich in Ostasien sehen konnte, zusammenzuknüpfen. Manchmal gab ich einfach nur Begriffe wie »Kambodscha + Umweltgruppen« bei Google ein und wartete, was herauskam.
Allmählich bildete sich ein Netzwerk. Eines Tages im Frühjahr 2008 erhielt ich eine E-Mail von einer jungen Koreanerin namens Hyujin Jeon mit einem Foto von ihrer Freundin, die in der Innenstadt von Seoul ein großes 350-Schild in der Hand hielt. Ich war begeistert und lief durch unsere gemeinsamen Büros in San Francisco, damit auch jeder das Bild sehen konnte. »Wer ist diese Koreanerin?«, fragten sie. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Ist das nicht erstaunlich?«
E-Mails wie die von Hyunjin hielten mich in den folgenden Monaten aufrecht, als ich immer mehr Zeit im Büro verbrachte. Wenn man tagein tagaus am Aufbauen einer Kampagne arbeitet, kann das eine ziemliche Plackerei sein, und meine Augen brannten, wenn ich stundenlang auf den Laptop starrte. Doch Stück für Stück bekamen wir immer mehr E-Mails wie die von Hyunjin aus Kamerun, China, Chile und vielen anderen Ländern. Die Mundpropaganda zu 350.org setzte ein, und die Räder der Kampagne begannen sich zu drehen. Im Dezember 2008, nachdem wir ein Jahr lang...