Vorwort
Berlin, November 2013: Ich sitze in einem Hubschrauber und fliege in einigen hundert Metern Höhe über unsere Hauptstadt. Einwohnerzahl: 3,5 Millionen. Meine Aufgabe: Ich soll mit meinen Körpersprache-Kenntnissen für den Fernsehsender RTL eine Person finden, die sich in Berlin versteckt hält. Neben mir befindet sich eine hübsche junge Frau. Sie kennt als Einzige das Versteck der Person, die ich gerade suche. Fliegend. Einziger Anhaltspunkt für das Gelingen dieses Experiments sind mein Wissen über unbewusste Körpersignale und meine Beobachtungsgabe. Kann ich die Signale, die meine Flugbegleiterin sendet, richtig deuten?
Schon blöd: Da sitze ich bei strahlendem Sonnenschein in einem Hubschrauber über Berlin, habe eine nette Mitfliegerin und darf kein Wort mit ihr reden. Schließlich geht es um Körpersprache, und jedes gesprochene Wort wurde mir von dem Fernsehsender verboten. Das ist der Versuchsaufbau. Plötzlich meldet sich das automatische Warnsystem des Helikopters, eine weibliche Computerstimme sagt: «Attention, obstacle ahead! Achtung, Hindernis!» Zu aller Aufregung und Höhenangst auch das noch. Der Pilot zieht den Helikopter lässig steil nach oben. Mir wird langsam wirklich mulmig zumute. Worauf habe ich mich da schon wieder eingelassen?
Tokio, Juli 2012: Ich sitze in einem Hubschrauber und fliege in einigen hundert Metern Höhe über die Stadt. Hier leben über dreizehn Millionen Menschen. Meine Aufgabe: Ich soll für den japanischen TV-Sender Fuji Television eine Person finden, die sich unter all diesen Menschen aufhält. Neben mir eine hübsche junge Frau. Sehr hübsch sogar, sie ist eines der angesagtesten Models im asiatischen Raum. Und sie ist die Einzige, die weiß, wo sich die gesuchte Person in Tokio befindet. Ich bin auf mein Wissen als Körperleser angewiesen, um sie aufzuspüren. Zwar darf ich mit meiner Flugbegleiterin Worte wechseln, aber sie spricht weder Englisch, Französisch, Deutsch noch Saarländisch. Ich habe alles versucht, keine der vier Sprachen wurde von ihr verstanden. Mein einziger Anhaltspunkt bleiben daher die stummen Signale meiner Mitspielerin.
Heusweiler (Saarland), Dezember 1986: Ich, gerade vierzehn geworden, stehe im Pfarrheim vor rund dreißig Senioren. Weihnachtsfeier. Ein Kinderballett hat eine «Nussknacker»-Version aufgeführt, nun bin ich an der Reihe. Meine Aufgabe: Der Pfarrer, der für das Seniorenheim zuständig ist, hat im Raum vor aller Augen (nur nicht vor meinen) einen roten Ball versteckt. Den soll ich jetzt finden, mit Hilfe eines Mitspielers. Ich habe noch kein bewusstes Wissen über Körpersprache, aber monatelang habe ich dieses Spiel geübt. Wenn ich jetzt den falschen Mitspieler aussuche, bin ich blamiert. Ich entscheide mich für einen netten älteren Herrn aus der zweiten Reihe. Ich hätte auch einen älteren Herrn aus einer anderen Reihe nehmen können. Oder eine ältere Dame. Meine Auswahl war nicht wirklich groß – das Kinderballett war ja schon weg …
Ich stelle den von mir ausgewählten Mann neben mich, diese Position darf er auch während des Spiels nicht verlassen. Ich gebe ihm nun den Auftrag, in die Richtung zu denken, in die ich gehen soll. Auf diese Weise will ich zu dem Versteck kommen, das jeder hier im Raum kennt. Außer mir. Er denkt nach links – ich gehe dennoch nach rechts. Irgendetwas stimmt nicht. Ich spüre meinen Puls an der Stirn pochen. Gut, ich schlage die andere Richtung ein. Aha, mein großväterlicher Mitspieler ist nun entspannt, wie ich mit einem Blick zu ihm hin bemerke. Es scheint die richtige Richtung zu sein. Ich gehe weiter. Plötzlich habe ich den Eindruck, ich soll stehen bleiben. Ich schaue meinen Mitspieler an, er steht da wie ein Felsen. Das ist neu, vorher haben seine Füße immer in die Richtung gezeigt, in die ich gehen sollte. Jetzt ist etwas anders. Er steht so, als wolle er nicht mehr weitergehen. Also bleibe ich auch stehen. Ich befinde mich, wie ich feststelle, vor einem Blumentopf. Ich schaue den Topf an, dann die Zuschauer. Mein Mitspieler nickt unbewusst und fast unmerklich. Aha! Ich schaue im Topf nach: Dort liegt der rote Ball, den der Pfarrer Minuten zuvor versteckt hatte.
Es waren nur dreißig Senioren, aber der Beifall klingt in meiner Erinnerung wie die applaudierende Menge bei einem Rihanna-Konzert in der Münchner Olympiahalle. Oft werde ich nach einem Schlüsselmoment gefragt. Jenem Moment, in dem ich wusste, dass ich Menschen unterhalten möchte und mich mit Körpersprache beschäftigen will. Das ist einer davon. Ohne diese Senioren in Heusweiler im Dezember 1986 hätte ich mich vielleicht anders entschieden. Und hätte ich möglicherweise den falschen Mitspieler ausgesucht – eine Person, deren Signale ich nicht hätte lesen können, eine mit zu gutem Pokerface –, würde ich jetzt vielleicht als Übersetzer oder Dolmetscher in Monterey oder Paris arbeiten. Habe ich aber nicht. Ich bin Körperleser geworden.
Nicht nur den roten Ball habe ich gefunden, auch habe ich die Person in Tokio gefunden. Und die in Berlin. Außerdem einen Schlüssel in Wien und unzählige Stecknadeln in Theatersälen in ganz Europa. Immer? Nein, aber fast immer.
Nach meinem Erlebnis bei den Senioren wollte ich unbedingt weiter auftreten. Und das tat ich dann auch, zuerst in sämtlichen Kneipen des Saarlands, auf Straßenfesten, Hochzeiten und Geburtstagen, danach kamen Firmenfeiern und glamouröse Galas hinzu. Wo auch immer sie stattfanden, eines haben all diese Auftritte gemeinsam: Um gut zu sein und zu überzeugen, muss ich die richtigen Leute ansprechen. Aber wie findet man für seine Tricks die richtigen Mitspieler? Wie findet man genau die Personen in einer Menge, die wirklich sehen wollen, was man mit einem Kartenspiel, einem Fingerring, einem Geldschein oder einer Zitrone alles so machen kann? Die einem unbewusst mitteilen, wo im Raum ein roter Ball versteckt ist? Ganz einfach: durch das Lesen körperlicher Signale, die von den Zuschauern ausgehen.
Stellen Sie sich folgende Situation vor: ein Dinner in einem vornehmen Hotel. Hunderte von Gästen an großen, runden Tischen. An jedem Tisch sitzen zehn Personen. Ich gehe zu einem, stelle mich vor und frage, ob ich kurz etwas Verblüffendes zeigen dürfe. In den nächsten Sekunden entscheidet sich, wie mein weiterer Auftritt verlaufen wird. Diese Sekunden muss ich nutzen, um alle Gäste an dem Tisch zu scannen. Wer verändert seine Körpersprache zuerst? Meine Erfahrung: Fast immer sind es die Frauen. Also checke ich sie als Erstes. Welche der Frauen am Tisch ändert ihre Körperhaltung? Aha! Eine hat kurz genickt, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander. Das muss aber noch lange kein Zeichen von Ablehnung sein, ganz im Gegenteil. Jetzt kommt der nächste Schritt nach der Beobachtung und der Veränderung der Körperhaltung und der noch nicht ganz klaren Bedeutung der neuen Position: Ich muss prüfen. Und das geht folgendermaßen: Ich schaue, ob die Mehrheit am Tisch diese neue Haltung spiegelt und sich ähnlich hinsetzt. Das ist alles. Wenn nämlich die meisten jetzt ihre Körperhaltung anpassen, dann weiß ich, wer gerade die Gruppe leitet und wen ich überzeugen muss.
Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich muss ich alle überzeugen, das ist klar. Es geht hier nur um den allerersten Impuls. Es geht um das Kräftespiel in der Gruppe und darum, es zu durchschauen. Sie selbst können das in Ihrer Familie genauso beobachten. Eine Familie, die zusammensitzt, kann Ihnen als angehendem Körperleser genaue Einblicke in die Struktur der Gruppe liefern, indem Sie schauen, wer führt. Wenn zum Beispiel die Mutter die Arme verschränkt und die anderen Mitglieder ihr folgen, hat sie eindeutig die Führung übernommen. Nicht anders funktioniert es in der Geschäftswelt. Auf den Firmengalas war es übrigens fast immer die Frau vom Chef …
Irgendwann habe ich damit begonnen, diese Signale und ihre Bedeutungen in meine Tricks zu integrieren. Dadurch verschob sich der Fokus meiner Bühnenarbeit im Lauf der Zeit. Statt nur noch Tricks aneinanderzureihen, begann ich, meinem Publikum immer mehr über Körpersprache zu erzählen, zeigte, wie Hypnose funktioniert und wie man sich viele Informationen schnell und sicher merken kann. Eigentlich sind das alles Randgebiete der Zauberkunst. Nun war es genau umgekehrt: Die Zauberkunst fand nur noch am Rande statt. Aus dem Zauberkünstler wurde schließlich der Körperleser.
Gleichzeitig wurde mein Interesse für Kommunikation immer größer. Ich wurde Diplom-Übersetzer, wohl wissend, dass ich in dem Beruf nicht arbeiten würde, aber ich lernte im Studium viel über Sprache, Kommunikation und Auftreten. Es schulte auch mein Gedächtnis (Dolmetscher haben ein Elefantengedächtnis), und ich beschäftigte mich ebenso mit Sprachwissenschaften (Hypnose beruht zu einem großen Teil auf dem richtigen Einsatz von Sprache und deren Struktur). Irgendwann saß ich am Sprachinstitut in Monterey in der Dolmetscherkabine – und alles kam zusammen. Ich hatte auf einmal den Eindruck, genau zu wissen, was der Redner als Nächstes sagen würde. Ich wusste, wann er das Thema wechseln, wann er einen Witz reißen, wann er alles noch einmal zusammenfassen würde. Alles immer einen Bruchteil, bevor es tatsächlich geschah. Eine Mitstudentin, der ich das vorführte, war völlig irritiert. «Wie hast du das gemacht?», fragte sie. Und das war ein weiterer Schlüsselmoment. Diese Frage hörte ich sonst immer nur nach Auftritten, doch nun auch im Studium. Da war mir klar: Das wollte ich miteinander verbinden. Diese Frage in einer Dolmetscherkabine in Monterey war rückblickend wohl die Geburtsstunde des Körperlesers in mir.
Beim...