»Bigger and Better« war ziemlich abgefahren
Es war die beste Idee aller Zeiten: Bigger and Better, größer und besser. Da war was dran. »Bigger and Better« war ein Spiel, eine Mischung aus Schnitzeljagd und dem »Süßes, sonst gibt’s Saures«-Spiel an Halloween. Man fing mit einem kleinen Ding an, ging von Tür zu Tür und fragte, ob jemand das Ding gegen etwas Größeres und Besseres tauschen möchte. Sobald man getauscht hatte, klingelte man beim Nächsten und versuchte, dieses Ding wieder gegen etwas Größeres und Besseres einzutauschen. Wenn man richtig gut war, hatte man irgendwann etwas in der Hand, das wirklich sehr viel größer und besser war als das, mit dem man angefangen hatte.
Man fing beispielsweise mit einem Löffel an. Man ging damit zu den Nachbarn, und die gaben einem dafür vielleicht einen einzelnen Stiefel. Mit dem Stiefel ging man dann noch ein Haus weiter, und dort sagten sie garantiert: »Das ist ja toll, ich kann einen Stiefel gebrauchen, ich habe nämlich letzte Woche aus Versehen einen aus dem Autofenster geworfen, als ich ihn nur auf die Rückbank legen wollte. Ich habe da eine alte Mikrowelle. Willst du den Stiefel gegen die Mikrowelle tauschen?«
Dann nickte man, nahm die Mikrowelle, rannte so schnell wie möglich zu seinen Freunden und gab damit an. Man konnte dann eine tolle Geschichte über die Mikrowelle erzählen und starrte von da an auf jeden einzeln am Straßenrand herumliegenden Stiefel und fragte sich, ob es der Stiefel war.
Ein paar Wochen später hatte man dann seine Mutter im Zimmer stehen: »Sag mal, ich kann meinen antiken Löffel nicht finden, hast du ihn vielleicht gesehen?« Man schüttelte den Kopf, und sie fragte noch: »Und weißt du vielleicht, wie diese stinkende alte Mikrowelle in unsere Garage kommt?«
»Bigger and Better« war richtig abgefahren.
Ich bin in Kanada aufgewachsen, in Port Moody, einem Vorort östlich von Vancouver. Meine Freunde auf der High School erzählten aufregende Geschichten von »Bigger and Better«. Eine Gruppe hatte mal mit einem Penny angefangen und so lange getauscht, bis sie noch am selben Nachmittag eine Couch hatten. Andere begannen mit einer Wäscheklammer und hatten am Abend einen Kühlschrank. Es ging auch das Gerücht um, dass in einem Nachbarvorort ein paar Kinder morgens mit einem Zahnstocher losgezogen waren und am Abend desselben Tages ein Auto erhandelt hatten. Ein Auto! Natürlich wusste niemand genau, ob diese Geschichten wirklich alle stimmten, aber das machte nichts. Vorortlegende hin oder her, jeder wusste, dass es im Grunde möglich war. Alles war möglich. Und wir konnten es kaum erwarten, was alles möglich sein würde.
Wir waren 16 und hatten gerade den Führerschein gemacht. Es juckte uns in den Füßen, auf ein Gaspedal zu treten. Wir hatten nur das eine im Kopf: Autos. Wir wollten sein wie Marty McFly aus »Zurück in die Zukunft«. Wir wollten einen frisch gewachsten, schwarzen Toyota Pick-up Baujahr 1985 schräg in der Garage einparken und dabei die Räder eingeschlagen lassen, um Sportlichkeit zu zeigen. Wir wollten am Wochenende mit Jennifer zu einer großen Party am See fahren. Fast alles schien möglich. Irgendwann in der Zukunft würde ein durchgeknallter Wissenschaftler ein Flügeltüren-Auto mit einem Durchflusskondensator erfinden und aus Versehen in die Vergangenheit zurückgeschickt werden, um alle falschen Entscheidungen, die wir im Leben getroffen hatten, zu revidieren und uns die Möglichkeit zu geben, unseren Traum auszuleben und, sagen wir, Science-Fiction-Autor zu sein.
Es war möglich.
Eines Abends sahen wir uns an und nickten uns zu. Es war der optimale Abend. Es würde klappen. Wir würden es schaffen. Wir würden so lange »Bigger and Better« spielen, bis wir ein Auto bekamen. Heute noch. Wir brauchten nichts weiter als einen Zahnstocher. Wir fanden keinen Zahnstocher, deshalb »fanden« wir das Nächstbeste: einen Tannenbaum vom örtlichen Tannenbaumverkauf.
Wir nahmen den Baum und trugen ihn zu einem Haus, in dem noch Licht brannte. Wir klopften. Dann hörten wir Schritte. Wir sahen uns an: Wir waren kurz davor, ein Auto zu bekommen. Ein Schatten kam zur Tür und griff nach der Klinke. Ein Auto, noch ehe der Tag zu Ende war! Die Tür ging auf. Ein Mann trat heraus, sah uns mit dem Tannenbaum dastehen, verzog abschätzend das Gesicht und fragte: »Ja?« Wir erzählten rasch, dass wir »Bigger and Better« spielten und erklärten voller Erwartung, dass wir noch heute Abend ein Auto erhandeln wollten. Er musste nichts weiter tun, als uns etwas für den Baum zu geben. Irgendetwas. Er sah den Tannenbaum an, lachte kurz und sagte: »Tut mir leid, Jungs, ich würde euch gerne helfen, aber ich kann leider keinen zweiten Tannenbaum gebrauchen.« Er drehte sich um und deutete auf einen Tannenbaum, der so kunstvoll verziert war, wie wir noch keinen zuvor gesehen hatten. Er strahlte glänzend weiß. Ein Traum von einem Tannenbaum. Wir besahen unser ärmliches Bäumchen, ließen die Köpfe hängen und spürten, wie sich unser Traum von einem Auto in Luft auflöste. Er zuckte mit den Schultern und sagte zum Abschied: »Vielleicht probiert ihr’s mal nebenan? Viel Glück!«
Wir sahen unseren Baum an und entschieden, dass es für heute schon zu spät sei, um noch »Bigger and Better« zu spielen. Morgen würden wir es nebenan versuchen. Ja, morgen war ein guter Tag dafür. Morgen würde ein guter Tag sein, um ein Auto zu erhandeln.
Aber wir spielten an keinem nächsten Tag mehr »Bigger and Better«.
Wir hörten damit auf, weil es nicht so einfach war, wie wir es uns vorgestellt hatten.
Das war zehn Jahre her. Zehn Jahre waren seit diesem Abend vergangen, an dem wir »Bigger and Better« gespielt hatten. Inzwischen war eine Menge passiert. Ich hatte meinen High-School-Abschluss gemacht, war gereist, hatte neue Leute kennengelernt, verschiedene Jobs gehabt und einiges erlebt. Ich hatte sogar Al Roker, dem Wettermann der NBC-Today-Show, die Hand geschüttelt. Aber das »Bigger and Better«-Spiel von damals habe ich nie weiter gespielt. Trotzdem hielt ich es noch immer für die beste Idee aller Zeiten.
Ich blickte in die Ferne und überlegte, welche Möglichkeiten ich hatte. Ein Auto für einen Zahnstocher. Das war grundsätzlich möglich. Ich dachte darüber nach, wie man heutzutage ein Auto für einen Zahnstocher bekommt, setzte ein selbstbewusstes Gesicht auf und blickte weiter in die Ferne, als ob das etwas helfen würde. Es wäre eine tolle Szene für einen Abenteuerfilm gewesen, nur dass in der Ferne nicht die Sonne über den Überresten einer soeben ausgelöschten, bösartigen Zivilisation oder über dem sturmumtosten Vorsprung in der Steilwand eines bis dahin unbezwungenen Gipfels unterging. Die Ferne war eine unverputzte Wand, keine eineinhalb Meter von mir entfernt. Diese Wand gehörte zu der Ein-Zimmer-Wohnung, in der ich mit meiner Freundin Dominique in Montreal wohnte.
Im Sommer zuvor war ich mit Dom nach Montreal gezogen, weil sie dort einen Job als Flugbegleiterin bei einer Fluggesellschaft bekommen hatte, die jedoch inzwischen längst pleite war. Sie hatte aber ziemlich bald einen neuen Job in der Ernährungsberatung eines Krankenhauses. Wir waren seit drei Jahren zusammen. Dom arbeitete, während ich in die Ferne blickte und in Erinnerungen an jugendliche Abenteuer schwelgte. Dom hatte Arbeit, während ich »Arbeit suchend« war. Ich suchte seit fast einem Jahr Arbeit und überbrückte die Zeit damit, hin und wieder für Freunde Produkte auf Messen zu promoten.
Aber es gab nicht viele solcher Messen, und ich war bloß ein ganz normaler Kerl. Was tat ich da? Ich hatte fast eine Stunde lang die Wand angestarrt. Beinahe einen ganzen Nachmittag verplempert. Mir fiel die Bewerbung wieder ein. Der Lebenslauf, das Anschreiben, meine Zukunft, mein Versuch, einen Job zu bekommen.
Bald war die Miete fällig, und ich konnte Dom nicht noch weiter auf der Tasche liegen. Das hatte ich schon einige Monate getan. Das musste aufhören. Jetzt war ich dran mit dem Geldverdienen. Ich las meinen Lebenslauf auf dem Computer durch.
Unser Wirtschaftslehrer in der Schule hatte mal eine Motivationspredigt gehalten. Er sagte: »Ich müsst euch an potenzielle Arbeitgeber nur richtig verkaufen! Ihr müsst eure Fähigkeiten richtig darstellen!« Dann zeigte er uns auf dem Overhead-Projektor die fünf Geheimnisse des idealen Lebenslaufs. Und dieser ideale Lebenslauf funktionierte wirklich. Binnen einer Woche hatte jeder von uns einen Job bei irgendeiner Fast-Food-Kette. Vor zehn Jahren war ein Stapel Burger umsonst eine ziemlich tolle Angelegenheit. Wenn ich meinen Lebenslauf nicht bald schrieb, würde Dom mich irgendwann abservieren. Ich musste mir etwas ausdenken. Sehr bald. Ich stellte mir selbst eine einfache Frage: Wollte ich die fünf Geheimnisse des idealen Lebenslaufs wirklich anwenden, oder wollte ich etwas anderes?
Ich wollte mich an niemanden verkaufen. Ich wollte irgendetwas machen. Ich wollte etwas herausfinden. Ich wollte leben. Heute war ich kein kleiner Punk mehr, der sich einen Tannenbaum »auslieh« und noch bei seinen Eltern wohnte. Ich war ein arbeitsloser 25-Jähriger, der froh sein konnte, eine Freundin zu haben, die beide Anteile der Miete zahlte, während er »Arbeit suchend« war.
Ich hatte es satt, anderen auf der Tasche zu liegen, ich hatte es satt, »Arbeit suchend« zu sein, und ich wollte keine schönfärbenden Umschreibungen für meine Arbeitslosigkeit mehr. Eigentlich wollte ich nur eines: Ich wollte für meinen Lebensunterhalt selbst sorgen. Ich wollte Brötchen verdienen. Ich wollte diesen Teufelskreis durchbrechen. Dom arbeitete hart für ihr Geld und schaufelte es...