1. Ich blicke mich ein wenig um
Ich behaupte ein relativ kreativer, immer wieder von neuen Ideen aufgesuchter, spontaner und daher wahrscheinlich ein verhältnismäßig freier Mensch zu sein. In mir wohnt eine Seele, die die Ordnung liebt, aber nicht der Ordnung willen alleine. Ordnung an und für sich ist genauso lebendig und nützlich wie ein Stück Papiergeld in einem abgeschlossenen Raum. Erst durch die Phantasie und die Möglichkeiten, die sich durch Denken, was mit diesem abstrakten Geld passieren könnte, auftun, wird es wirklich wertvoll. Wenn das Geld tatsächlich in etwas umgewandelt wird, das wir erleben, essen, besitzen können. Ähnlich verhält es sich mit der Ordnung und den Ordnungsmenschen. Dass Meier ordentlich ist, ist mir egal, erst recht, wenn er unsympathisch ist, nicht mal weiß wie er sich richtig anziehen soll, aus dem Mund riecht und sonst wie nichts mit meinem Leben zu tun hat. Meier übt keine wirkliche Faszination auf mich aus, bloß weil er seine Gewürze alphabetisch geordnet hat, immer weiß, welche Zeit es ist, seine Ferien stets drei Monate im voraus bucht und im Urlaub das Budget nicht überschreitet. Ebenso ist mir einerlei, dass sich in Hochglanzmagazinen 800 m2 große Wohnungen der minimalistischen Zen-Ästhetik hingeben können, weil die Voraussetzungen dank unsichtbaren Reduits, Kellern, Einbauschränken selbst für Sammler optimal sind, wenn ich nun mal in einer 50 m2 Wohnung all mein Hab und Gut unterbringen muss und eine Tendenz zum Sammeln beobachte. Was nützt mir zu wissen, dass die heutigen Schubladensysteme einer neuen Generation angehören und wahre Ordnungswunder sind, wenn ich nun mal Erbin einer alten, quietschenden, überquellenden Schubladenkommode bin, die zu einem Möbelstück gehört, an dem ich emotional hänge. Nun, es ist immer gut einfach mal informiert zu sein, und es ist noch besser, sich zu überlegen, wie man die Informationen für sich evaluiert und verarbeitet.
Informiere dich erstmals rein physisch und finde heraus, wenn du es noch nicht weißt, welche Priorität die höchste für dich sein könnte. Geh in einen gepflegten Stadtpark und genieß die Zeit dort. Vielleicht wird dir der Anblick Lust machen, endlich auch deinen Garten auf Vordermann zu bringen. Blättere in Wohnbüchern, Einrichtungskatalogen oder Wohnzeitschriften. Vielleicht wird dich ein schön aufgeräumtes Schlafzimmer anregen, einen neuen Schrank zu kaufen oder die Farbpalette zu minimieren. Geh in den Keller und finde heraus, ob dir die Kellersysteme deiner Nachbarn besser gefallen und brauchbarer erscheinen als deine eigenen. Geh in eine gut sortierte Papeterie und schau dir die ganzen Systeme genau an: welche machen für dich am meisten Sinn? Ordner oder Hängeregister, Mappen oder schöne Kartonschachteln? Andere Systeme? Lass dich beraten, ohne dich gleich festzumachen und zu kaufen. Es geht nicht darum, dich Hals über Kopf mit neuem Material einzudecken, sondern herauszufinden, was dich am meisten anspricht und was dich kalt lässt. Wenn du die Möglichkeit hast, deine Bekannten oder Arbeitskollegen privat zu besuchen, zögere nicht, dich etwas genauer im Privatbüro umzuschauen oder Fragen zu stellen wie sie den Papierkram bewältigen.
Wenn wir ehrlich sind und tief in uns hineinhorchen, wissen wir im Grunde ganz genau, wo uns der Schuh drückt. Doch frisch informiert zu sein darüber, wo man etwas nachlesen oder kaufen kann, ist deswegen so wichtig, weil dies bereits ein Schritt in eine Richtung ist, den man zu gegebener Zeit nur noch machen muss. Obschon wir wissen, wo es bei uns brennt, tun wir erstaunlicherweise die umgekehrten Dinge, bevor wir uns dem Eigentlichen zuwenden. Das Eigentliche bekommt umso mehr einen Status der Unerreichbarkeit, je länger wir uns vorstellen wie wir es machen oder wann, und bevor wir das tun, bewältigen wir unlogischerweise ganz andere Dinge:
Eine junge Frau putzt immer ihre Fenster, wenn sie eigentlich die Steuererklärung machen müsste. Nachdem sie bereit ist für den bürokratischen Teil ruft sie aber sicherheitshalber noch ein paar Freundinnen an, insgeheim hoffend, dass sie spontan weg muss, was in den meisten Fällen so ist und die Steuererklärung unerledigt bleibt. Oder eine andere Frau sortiert Geschirr um, anstatt sich aufs Rad zu schwingen und etwas für ihre Figur zu tun. Oder ein Mann trödelt im Keller, weil er nicht zum Kartoffelschälen einberufen werden möchte und sich damit zwei Tage lang mit seiner gereizten Frau herumschlagen muss. Es fällt uns kurz und gut schwer Dinge zu tun, die offenbar und klar sind. Lieber verbrauchen wir die Energie für andere Dinge, bis der Zeitradius uns zu anderen Aufgaben zwingt. Wir sind manchmal richtig froh, wenn eine größere Kraft über unseren Willen entscheidet. Wir zögern vieles so lange heraus, bis wir uns keine Rechtfertigung mehr schuldig sind. Wenn das Geschirrsortieren bis Mitternacht dauert, wird sich die Frau keine Sekunde überlegen, halt nachts aufs Rad zu steigen, nein, sie wird ohne schlechtes Gewissen zu Bett gehen, am nächsten Tag wahrscheinlich wieder ans Radfahren denkend.
Dieses ständige Denken aber an Dinge, die man eigentlich tun sollte, aber nicht kann oder wegen gewissen Dingen nicht kann oder erst kann, wenn andere Dinge in Ordnung kommen, verbrauchen viel Energie; der bewussten und der unbewussten. Dies kann zur Folge haben, dass wir uns in eine Spirale drehen und im unbewussten Teil unsere Kreativität einschränken. Je mehr unerledigte, verschobene Vorhaben wir mit uns tragen und uns mit ihnen quälen, desto schlechter wird es uns gehen, weil wir uns mit der Zeit nicht nur belastet fühlen, sondern auch von schlechtem Gewissen geplagt sein werden. Im Extremfall glauben wir sogar an unser Versagen und fühlen uns als Verlierer, als Gefangene unserer eigenen Gedankengänge.
Es ist ein Leichtes, Ausreden zu finden, doch finde ich es schade, das kreative Potential in Entschuldigungsmärchen auszuleben. Es klingt in den Ohren vielleicht interessanter und geheimnisumwitterter zu hören, dass jemand den Abwasch nicht machen konnte, weil er eine ganz verrückte Nacht hinter sich hatte, als wenn jemand sagt, er habe alles wacker und mühelos erledigt: Zähne geputzt, Blumen gegossen, Kleider gebügelt, das Auto in den Service gebracht, vor zwölf eingeschlafen usw. Noch interessanter finde ich es allerdings, wenn man weder über Dinge sprechen muss, die man noch nicht gemacht hat, noch über Dinge, die erledigt sind, sondern die Möglichkeit hat, sich ganz anderen Themen zuzuwenden. Es ist egal, ob es darum geht, über ein einzelnes Wort zu philosophieren, eine Zeitung weniger überfliegen zu müssen, oder sich in den Anblick einer Blüte zu vertiefen. Auch ist es schön, ohne Last und Hast zu schweigen und Raum, für etwas Schönes und Neues entstehen zu lassen.
Ich bin jetzt keineswegs ein „Übermensch“, der bis in die letzte Faser meines Daseins organisiert ist und aufsteht, um Eingebungen zu erhalten und um meine perfekte Arbeit jeweils nichts als flink und perfekt zu leisten. Mein Leben ist voll von Dingen, die noch erledigt, von Plänen, die ausgereift werden müssen, von Träumen, die unvollendet oder utopisch sind, von Lastern, mit denen ich hadere und die mir Zeit und Lust nehmen. Ich umgebe mich, wenn auch temporär, so doch permanent immer mit allem: dem Perfekten, Harmonischen und Aufgeräumten und dem Unvollendetem, dem Unsicheren, dem Chaotischen. Ich bin nicht immer in der Lage alles so zu steuern, wie es am effizientesten ist oder wie es mein Ego möchte, ich muss Umwege auf mich nehmen, muss mich in Geduld üben, muss Dinge verschieben, umorganisieren, unerledigt wegschmeißen, Kompromisse in Kauf nehmen, von vorne anfangen etc. Dies ist der Zustand, in dem wir wohl leben, aber dieser Zustand macht mich nicht fertig, weil ich zwischendurch allemal selbstbestimmend handeln kann und Übersicht habe darüber, was gerade passiert beziehungsweise nicht geschehen ist. Und zwischendurch mache ich kleine Schrittchen, backe kleine Brötchen und sehe, dass Einiges in somma, mal besser, mal schlechter, zu funktionieren scheint.
Nimm dir einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken, was gerade bei dir so läuft, was gut, was harzig und mühsam ist. Sieh dich in deiner privaten Umgebung um und streife kurz Dinge, Personen, Situationen, die dich unglücklich machen und wo es sich nur immer um Missverständnisse dreht und vergegenwärtige dir, wo es reibungslos läuft, wo Abläufe, die Kommunikation funktionieren. Es geht jetzt nicht darum, Thesen zu ziehen oder therapeutische Ansätze zu finden, sondern lediglich um einfach ins Blaue ein paar Gedanken über dich selbst zu denken. Wo bist du gerade, was läuft, was läuft nicht, was war vor einer Wende, was Größeres wird sich nächstens ereignen oder sollte sich einstellen? Wie wird das Jahr zu Ende verlaufen, was ist angedacht, geplant, wie wohl ist dir dabei, was möchtest du auf jeden Fall nicht, was wünschst du dir sehnlich usw. usf.? Für diese Gedanken musst du dich nicht an deinen Tisch setzen. Du kannst dir hierfür eine Fahrt (mit dem Auto, dem Fahrrad oder mit der Bahn) genehmigen, in eine Bar gehen, eine Zigarre...