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Eine Familie, in der niemand lächelt
»Über die erste Begegnung zwischen meinem Vater und meiner Mutter weiß ich nichts. Die einzige Spur, die mir dabei helfen könnte, das Geheimnis meiner Geburt zu entziffern, ist ein Satz meiner Mutter: ›Dieser Hut voller Kirschen war an allem schuld.‹« Es war genau diese Einzelheit, die Oriana als Kind aus all den Erzählungen ihrer Familie am meisten geliebt hatte: ein leuchtend roter Hut, wie eine Flagge geschwenkt, nach dem viele Jahre später, als er vom Kopf der Mutter auf den einer Vorfahrin gewandert ist, ein posthum erschienener Roman benannt werden wird: Un cappello pieno di ciliege1. Mehr wissen wir nicht. Wir können nur versuchen, es uns vorzustellen.
Es muss an einem Spätsommertag des Jahres 1928 gewesen sein, auf einer Straße in Florenz, an einem der sonnigen Tage, die dazu einladen, sich im Freien aufzuhalten. Edoardo Fallaci ist vierundzwanzig Jahre alt und knapp bei Kasse. Er arbeitet als Holzschnitzer und lebt bei den Eltern. Sein Traum ist es, nach Argentinien auszuwandern und dort sein Glück zu suchen. Er ist nicht sehr groß, hat jedoch ein gut geschnittenes, kantiges Gesicht und freche blaue Augen. Tosca Cantini ist zweiundzwanzig. Die Tochter eines Bildhauers und Anarchisten hat schon früh die Mutter verloren und arbeitet seit ihrer Kindheit bei zwei Schneiderinnen, die sie ins Herz geschlossen haben und sie wie ein kleines Fräulein aufwachsen lassen. Sie haben sogar eine Kundin für sie gefunden, die bereit ist, sie als ihre Gesellschaftsdame mit nach Paris zu nehmen. Doch an diesem Septembertag beschließt Tosca, einen auffallenden, mit roten Früchten geschmückten Hut zu tragen, der ihre gleichmäßigen Gesichtszüge mit den ausgeprägten Wangenknochen besonders gut zur Geltung bringt. »Was für schöne Kirschen«, schmeichelt ihr Edoardo. Oriana muss kurz darauf gezeugt worden sein, bei einem Ausflug auf den Monte Morello.
»Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass sie mich gar nicht haben wollte, als sie schwanger wurde. Und da man damals Bittersalz trank, um abzutreiben, nahm sie es bis zum vierten Schwangerschaftsmonat jeden Abend ein. Eines Abends jedoch, als sie gerade das Glas mit der bitteren Lösung zum Mund führte, drehte ich mich in ihrem Bauch. Wie um ihr zu sagen: ›Ich will auf die Welt!‹ Und – zack! – goss sie das Glas Bittersalz in eine Blumenvase. ›Und so kamst du dann zur Welt‹, sagte sie.«
Denn eigentlich hat Tosca einen ganz anderen Traum, was ihr Leben angeht. Sie will die Welt sehen, mit Künstlern verkehren. Sie hat viele Freunde in der Bohème von Florenz, allen voran den Maler Ottone Rosai, der ihr den Hof macht. »Sie sagte, er sei ein richtiges Mannsbild gewesen. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der klein und schmächtig war.«
Als die Schwangerschaft unübersehbar wird, stellt Edoardo Tosca seinen Eltern vor. Seiner Mutter Giacoma, die für ihren aufbrausenden Charakter bekannt ist, ist Tosca nicht willkommen; Giacoma setzt alles daran, ihr das Leben schwer zu machen. Antonio, der Vater, begegnet ihr freundlich, was die Sache alles andere als besser macht. Schon bald wird Tosca zu einer Art Aschenputtel im Hause Fallaci: »Eine der ersten Erinnerungen meines Lebens ist, wie meine Mutter weinend an einem Becken steht und wäscht.« Diese kluge Frau, die gezwungen wird, für die ganze Familie die Dienstmagd zu spielen, prägt von Anfang an das Leben des kleinen Mädchens. Oft erinnert sich Oriana in Interviews, es sei ihre Mutter gewesen, die sie dazu angespornt habe, ehrgeizig zu sein. »Meine Mutter war es, die oft – unter Tränen – zu mir sagte: ›Mach es bloß nicht wie ich! Lerne, schau dir die Welt an, studiere!‹ Und ich wollte es meiner Mutter nicht nachtun – ich wollte sie rächen.« 1977, als Oriana den Ehrendoktortitel am Columbia College in Chicago entgegennimmt, wird sie bei der Verleihung in ihrer Dankesrede sagen: »Ich widme diesen Ehrentitel meiner Mutter Tosca Fallaci, die nicht die Universität besuchen durfte, weil sie in einer Zeit, in der arme Frauen nicht studieren durften, arm war und eine Frau.«
Gleich bei ihrer Geburt am 29. Juni 1929 wird das kleine Mädchen auf den Namen Oriana getauft. Für die damalige Zeit ist das ein sehr ungewöhnlicher Name. Die Eltern, die zwar ein karges Leben fristen, aber begeisterte Leser sind, wählen ihn in Gedanken an Prousts Herzogin von Guermantes. »Du warst nicht rot und runzlig wie andere Neugeborene, sagte meine Mutter immer. Du warst weiß und glatt und wunderhübsch. Und du hast nie geweint. Alle Kinder weinen. Du nie. Du warst immer still. Du schautest und schautest, hast alles um dich herum betrachtet und gabst keinen Mucks von dir. Und so bekam ich es am achten Tag nach deiner Geburt mit der Angst zu tun. Ich dachte, vielleicht seist du ohne Stimmbänder geboren, und so brachte ich dich zum Arzt, der sagte: Nein, nein. Die hat sie schon. Dann zwickte er dich in die Füße, und du musstest schrecklich lachen.«
In dem Haus an der Via del Piaggione, wo Oriana auf die Welt kommt, leben alle zusammen: die Eltern, die Großeltern, die unverheirateten Schwestern des Vaters. Als Erwachsene wird sich Oriana an allerhand kleine Dinge aus diesem Haus erinnern und sie, Stück für Stück, mit sich nehmen: Ein bemaltes Möbelstück kommt nach New York, das elterliche Ehebett und der gläserne Bücherschrank nach Florenz, der Wohnzimmertisch in ihr Haus auf dem Land. Von den Fenstern aus sieht man die ganze Stadt, weiter vorne Brunelleschis Kuppel und Giottos Campanile, dahinter ein Meer von Dächern und Brücken – Florenz. In einem Zimmer steht noch die Werkbank des Großvaters, eines Schusters, der die Schuhe der ganzen Familie richtet. Stundenlang schaut ihm Oriana bei der Arbeit zu und hilft ihm gern. Sie hat es gelernt, der immer wütenden Großmutter Giacoma aus dem Weg zu gehen, der leicht die Hand ausrutscht, und betrachtet das Kämmerchen von Großvater Antonio als eine Art Refugium. »Großvater war sehr liebevoll. Stets nahm er mich in Schutz, und er lächelte immer – in einer Familie, in der nie gelächelt wurde.«
Nach Oriana kommen noch zwei Töchter zur Welt, Neera im Jahre 1932 und Paola 1938. Später, 1964, als die Mädchen erwachsen sind, wird ein weiteres Mädchen, die Waise Elisabetta, adoptiert. Kein einziger Stammhalter in der Familie. Edoardo betrachtet Oriana sofort als den jungen Mann im Haus. »Mein Vater war verzweifelt, als ich geboren wurde und kein Junge war. Also hat er mich auf die Jagd mitgenommen.« Edoardo bringt seiner Tochter das Schießen bei und weicht ihr kaum von der Seite. Wenn Drosselzeit ist und ganze Schwärme dieser Singvögel unterwegs sind, verschanzt er sich zusammen mit seiner ältesten Tochter in dem kleinen Schuppen und wartet auf seine Beute. Noch Jahre später erinnert sich Oriana in allen Einzelheiten an diese Tage. An die beißende Kälte am Morgen, die in den Himmel gerichteten Blicke, das Flüstern. »›Wenn die Drossel von links kommt, gehört sie mir. Die von rechts sind deine. Wenn ein ganzer Schwarm kommt, schießen wir beide. Eins, zwei, drei, dann geht’s los.‹ ›Alles klar, Papa.‹«
Edoardo Fallaci ist ein wortkarger Mann, er fordert sich selbst und andere. Seine Erstgeborene lässt er aufwachsen wie einen Soldaten. Eine von Orianas lebhaftesten Kindheitserinnerungen hängt mit dieser Härte zusammen. Damals ist sie fünfzehn Jahre alt und geht an der Seite des Vaters durch eine Straße von Florenz, als sie von einem Fliegeralarm überrascht werden und im Inneren eines Hauses Zuflucht suchen. Draußen wird der Flugzeuglärm ohrenbetäubend. Oriana wagt es trotz ihrer Angst nicht, den Vater zu umarmen. Sie hockt zusammengekauert in einer Ecke. Als die ersten Bomben fallen und Boden und Wände zum Beben bringen, bricht sie in Schluchzen aus. Die Ohrfeige kommt überraschend und nimmt ihr den Atem. Ein Mädchen weint nicht, zischt der Vater. Oriana wird diese Begebenheit noch oft erzählen und behaupten, damals habe sie beschlossen, es so weit wie möglich zu vermeiden, in der Öffentlichkeit zu weinen. Sie wird in ihrem Leben reichlich Veranlassung zum Weinen haben und es auch tun – »Es tut gut zu weinen, weil man sich den Schmerz aus der Seele kotzen kann« –, doch nur selten in Anwesenheit anderer.
Und noch ein Mann aus der Familie spielt eine entscheidende Rolle in ihrem Leben – Bruno Fallaci, der ältere Bruder des Vaters, den alle im Haus nur Settecervelli, also »Siebenhirn«, nennen. Bruno ist der Intellektuelle der Familie und gehört einer Welt an, wie sie weiter entfernt von Orianas Eltern nicht sein könnte – der Welt der Schreibenden. Er ist mit der Schriftstellerin Gianna Manzini verheiratet und erfolgreicher Journalist: Zunächst verantwortlich für die Kulturseite der florentinischen Tageszeitung La Nazione und dann Herausgeber von Epoca. Er ist der erste – und vielleicht auch einzige – Lehrmeister von Oriana, die ihr ganzes Leben lang seine Ratschläge zitieren wird: »Wenn er die Grundregeln des Journalismus aufzählte, donnerte er: ›Vor allem eins: Den Leser NIEMALS langweilen!‹«
Tosca geht oft zum Putzen zu ihrem Schwager und nimmt ihre Tochter mit. Gianna Manzini sitzt mit einem Buch auf dem Sofa und raucht eine ihrer parfümierten Zigaretten, die auf einer langen schwarzen Spitze stecken. Gelegentlich streckt sie, ohne dabei ihre Lektüre zu unterbrechen, die schöne, beringte Hand nach einer Glasbonboniere aus, die mit Nougatpralinen gefüllt ist. »Wehe, wenn du sie anbettelst!«, ermahnt Tosca Oriana jedes Mal, bevor sie die Wohnung betreten. Später wird sich Oriana in einem Buch an die Demütigung erinnern, der reichen Tante dabei zusehen zu müssen, wie sie genüsslich...