1. Kapitel
Steppenwolf, 47, attraktiv
– Frühlingsgefühle –
Immer wenn ich das Wort »Schriftsteller« lese oder schreibe, muss ich an einen Flusskrebs denken. So auch heute wieder, während ich das Wort in die Spalte »Beruf« eintrage, wie es das Profilformular fordert. Ich sitze auf einer Decke auf der Liegewiese vor meinem Haus direkt am Rhein. Eine stark frequentierte Naherholungsanlage, zumal jetzt in dieser Jahreszeit, und doch so etwas wie mein Garten. Es ist kurz vor elf, warm, fast schon heiß und ganz friedlich hier um diese Uhrzeit. Schäfchenwolken wandern über den Himmel, der Wind säuselt mild. Schiffe tuckern im Hintergrund stromabwärts, außer mir sind nur noch ein paar junge Studenten hier, die das tun, was man neudeutsch »chillen« nennt und wofür man offenbar einen Kopfhörer und einen Energydrink benötigt. Die Maisonne scheint, Gänseblümchen blühen, Bienen summen. Es riecht nach Blütenfrische, in die sich aber immer wieder eine störende Note erwärmten Hundekots mischt. Der Frühlingsduft kommt von einem blühenden Jasminstrauch, der Kackgeruch weht von einem Abfalleimer herüber, in dem viele unverschlossene Hundekotbeutel liegen.
Neben mir liegt ein Pärchen auf einer großen roten Wolldecke. Sie knutschen. Ich leider nicht. Aber ich hätte gerne wieder eine Frau an meiner Seite, eine, »kultiviert« und »mit Niveau«, eben eine, wie sie es bei ElitePartner im Angebot gibt. Deshalb werde ich mich heute anmelden und deshalb gebe ich mir auch richtig Mühe beim Ausfüllen meines »Profils«. Um nicht unvorbereitet zu sein, habe ich mir das Profilformular erst einmal ausgedruckt. Und da liegt es jetzt.
Ich nage an meinem Bleistift. Beruf. Ich schreibe zuerst »Journalist«. Streiche das Wort wieder durch. Nein, ich bin doch kein »Journalist«! Ich denke nach. Dann schreibe ich in die Spalte: »Autor, Publizist, Schriftsteller«. Schriftsteller allein wäre vielleicht irreführend. Schriftsteller sind Menschen, die Romane schreiben, die mindestens fünfhundert Seiten umfassen. Ich bin Sachbuchautor. Man könnte auch sagen: Essayist. Aber auch wenn einer wie ich nicht wie Thomas Mann oder Jonathan Franzen dicke Romanwälzer verfasst, darf ich doch sagen, dass ich Schriftsteller bin. Keiner hat bislang festgelegt, dass diese Berufsbezeichnung nur für Personen reserviert ist, die Romane oder Fiktion schreiben, auch wenn sich das so im Sprachgebrauch durchgesetzt haben mag. Deswegen kann ich das sehr wohl schreiben. Zumal in Kombination mit Autor und Publizist. Journalist, das wäre ein Handwerker, Schriftsteller sind Künstler. Ein »Autor, Publizist, Schriftsteller« ist ein handwerklich geerdeter Künstler. Das bin ich, und so will ich rüberkommen bei der Damenwelt. Ich denke, so auch die besten Chancen zu haben, eine zu finden, mit der ich rundum zufrieden sein werde und die ich glücklich machen kann.
Ein Schriftsteller! Ich drifte etwas ab. Ich muss wieder daran denken, wie ich mich einmal während eines vom Land Rheinland-Pfalz finanzierten Schriftstellerstipendiums in Burgund bei einem Sektempfang den anwesenden literarisch interessierten Bürgern mit dem Satz »Bonjour, Mesdames et Messieurs, mon nom est Martin Hecht, je suis un écrevisse allemand!« vorgestellt habe. Ein mir unverständliches Raunen ging damals durch die Menge. Auf jeden Fall weiß ich seit diesem Tag in Vézelay, dass »écrevisse« auf Deutsch »Flusskrebs« heißt und »écrivain« auf Französisch Schriftsteller. Weshalb mir damals auch schlagartig klar wurde, warum mich die Kellner früher immer so konsterniert angeblickt haben, wenn ich in französischen Restaurants als Vorspeise einen »Salat mit Schriftstellern« bestellt habe.
Das Studentenpärchen nebenan knutscht sich immer noch ab. Und lässt sich auch von dem obdachlosen Flaschensammler nicht stören, der auf einem abgehalfterten Damenrad über die Wiese holpert und nach Pfandflaschen Ausschau hält. Ich trage inzwischen wahrheitsgemäß mein Alter ein. 47 Jahre. Bei der Körpergröße schreibe ich 178 cm. Das ist etwas geschummelt. Zu meinen Gunsten. In meinem Personalausweis steht unter Größe 177 cm. Aber ich glaube, bei meiner Musterung damals 1983 im Kreiswehrersatzamt Donaueschingen hat der Amtsarzt 178 cm gemessen und das in den Bescheid eingetragen. Also kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich 178 cm groß bin. Und nicht nur 177. Ich finde, ein bisschen bescheißen ist erlaubt, solange nicht der Kernbestand an Wahrheit verfälscht wird. Und so will ich es halten.
Ich trage nun meinen abgeschlossenen Studiengang ein, wie es das Formular fordert, und dazu die Hochschulen, die ich einst besucht habe. Beim akademischen Grad kreuze ich mit Nachdruck und fester Hand das Kästchen neben »Promotion« an. Soll sich dieser verdammte Doktorhut ruhig mal auszahlen, sage ich mir. Drei Jahre habe ich damals, als ich meine Dissertation geschrieben habe, über Max Webers unverständlicher Wissenschaft gebrütet und mir die Finger wundgeschrieben, jetzt, zwanzig Jahre später, soll sich das endlich lohnen. Dann kommt das Feld »Auszeichnungen, Ehrungen und Ehrenämter«. Ich überlege kurz. Ich habe keine. Aber da fällt mir etwas ein. Jetzt ist der Augenblick gekommen, die potenziellen Anwärterinnen von meiner unschlagbaren Selbstironie zu überzeugen. Ich schreibe: »Siegerurkunde Bundesjugendspiele 1976«. Ich lächle zufrieden. »Sehr gut!«, denke ich. Wer das liest, wird mich sofort toll finden. Ein promovierter Schriftsteller mit Selbstironie. Humorvolles Understatement, unwiderstehlich. Was kann eine Frau noch mehr wollen? Es geht um Selbstdarstellung. Wer bin ich? Und wie möchte ich gesehen werden? Jeder versucht hier, den bestmöglichen Auftritt hinzulegen. Ich auch. Es geht ja um so viel.
Ich muss das Ausfüllen des Formulars unterbrechen, weil immer mehr Ameisen meine Decke bevölkern. Ich stehe auf und schüttle sie aus. Breite sie neu aus, lege mir meinen Spiralblock zurecht und vertiefe mich wieder. Die knutschenden Studenten liegen mittlerweile auf der Seite, sich zugewandt, streicheln sich gegenseitig die Haare und schauen sich verliebt in die Augen. Im Hintergrund macht ein Hund groß. Der Beutel Kot wird unverknotet in den Abfalleimer geworfen.
Familienstand? Verwitwet. Eigenartig. Verwitwet liest sich irgendwie ziemlich hart. Da ist die Leichtigkeit raus für eine Frau, die mein Profil dereinst interessiert durchsieht, denke ich. Aber dann fällt mir ein, dass Witwer auch irgendwie seriös klingt. »Verwitwet« – ich fand es immer bitter, das in ein Formular schreiben zu müssen, etwa bei der Stadtverwaltung oder bei der Steuererklärung. Aber zum ersten Mal empfinde ich »verwitwet« ganz anders. Es scheint mir Gewicht zu geben, Reife, Lebenserfahrung, aber nicht unbedingt Schwere, es umgibt mich mit einem Hauch von Seriosität, ohne zu steif zu sein oder sonst irgendwie abzutörnen. Es verleiht mir einen Orden für eine einwandfreie Lebensführung. Verwitwet bedeutet: Ich bin eben nicht gescheitert wie all die anderen, die hier auswählen können zwischen »getrennt lebend« oder »geschieden«. Nein, ich bin kein Beziehungshasardeur, der abgeschmiert ist, sondern einer, der ein durch und durch erfolgreiches Beziehungsleben führte. Ich habe keine Ehe in den Sand gesetzt, ich habe nichts zerrüttet – mein Singletum ist nicht selbstverschuldet, sondern von höherer Gewalt – und das wird noch einmal für mich sprechen. Es wird mir, denke ich, halbwegs zuverlässig sichern, dass nur ernst gemeinte Anfragen hereinflattern, während zwielichtige Frauen, die nur auf ein unwürdiges Abenteuer aus sind, mir durch dieses traurige Attribut vom Halse gehalten und nur sittlich reife, edle Kandidatinnen ihre ElitePartner-Post an mich richten werden. Und nicht zuletzt: Verströmt, zumal ich noch ein junger Witwer bin, das Wort nicht auch irgendwas Erotisches, das eine Frau entzücken könnte? Ich glaube schon. Der junge Witwer ist eine überaus attraktive Romanfigur – warum sollte es in der realen Welt anders sein?
Langsam nimmt mein Profil Konturen an. Meine Figur? Ich kreuze selbstbewusst »athletisch« an. Schließlich jogge ich dreimal die Woche. Später korrigiere ich auf »schlank«. Dann die Angaben zur äußeren Erscheinung. Zur Auswahl stehen: sympathisch, attraktiv, sehr attraktiv oder äußerst attraktiv. Ich entscheide mich für »attraktiv«. Lieber Tiefstapeln und das Rennen von hinten aufrollen, sage ich mir, statt zu blenden und dann die Quittung zu bekommen.
Und das Foto? Das muss ich noch aussuchen. Es versteht sich von selbst, dass man sich etwas nett herrichtet, wenn man auf Brautschau geht. Spätestens beim ersten Date sollte man geduscht, appetitlich und halbwegs ansprechend rüberkommen. Und beim »Profilfoto« erst recht. Die Frisur ist wichtig. Mein Sohn rät mir zu einem Undercut und einem Haarschnitt wie Julian Draxler. »Hör mal!«, sage ich, »ich bin bald fünfzig! Wer in meinem Alter noch so rumläuft, der macht sich doch lächerlich!« Ich orientiere mich eher an meiner Altersklasse. Also an Jens Riewa oder Jürgen Klinsmann.
Man muss sich ja nicht gleich wie ein Snob aufführen, aber man wird mir doch zugestehen, dass es völlig legitim ist, sich so zu geben, dass einen eine interessierte Kandidatin mehr als nur sympathisch findet. Ganz klar, jeder hat Schwächen, selbst ich, äußerliche, charakterliche. Die Kunst ist es nur, sich ins rechte Licht zu rücken, seine Vorzüge zu betonen und den Rest eher in den Hintergrund treten zu lassen. Das ist völlig okay, solange man die Spielregeln einhält. Dann kommt noch die Rubrik »Ich...