1 Einleitung
Mit dem ersten Band dieses Lehrbuchs zur Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung verfolgen wir eine mehrfache Zielsetzung:
- Es soll deutlich werden, dass die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin der Sonderpädagogik1 (alternativ: Heilpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik, Förderpädagogik) keine ausschließlich mit dem Gegenstand der Behinderung bzw. des sonderpädagogischen Förderbedarfs befasste Pädagogik ist, obwohl die allgemeinen Theorien der Sonderpädagogik dies nahezulegen scheinen. Vielmehr wollen wir zeigen, dass wir es in der Sonderpädagogik häufig auch mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu tun haben, die nicht von einer Behinderung betroffen sind, sondern aufgrund sozial bedingter Bildungsungleichheiten benachteiligt sind. Mit dieser Zielsetzung ist der Vorschlag verbunden, die Fachbezeichnung ‚Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung‘ in den fachlichen Diskurs einzuführen. Eine solche Fachbezeichnung drängt sich auf, zumal im nachschulischen Handlungsfeld der beruflichen Rehabilitation bereits seit geraumer Zeit – nicht nur auf der Ebene der Sozialgesetzgebung – zwischen (Schwer-)Behinderung und Benachteiligung unterschieden wird.
- Die Fachbezeichnung ‚Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung‘ soll verdeutlichen, dass wir es in dieser Teildisziplin der Erziehungswissenschaft nicht mit einer ‚besonderen‘ Personengruppe oder Klientel (den ‚Behinderten‘ und ‚Benachteiligten‘) zu tun haben, sondern mit gesellschaftlich relevanten (Handlungs-)Situationen. In Bezug auf Behinderung beziehen wir uns dabei auf die mehrdimensionale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), welche die Dimension der physischen bzw. sensorischen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen von einzelnen Menschen nicht ausklammert, aber die soziale Dimension der Partizipation bzw. Partizipationseinschränkung in den Vordergrund rückt, in dem sie nicht Personen, sondern Situationen klassifiziert. Analog kann Benachteiligung als „herkunftsbedingt ungleiche Bildungsteilhabe“ (Brake/Büchner 2011) beschrieben werden. Erst durch ein solches Begriffsverständnis können Behinderungs- und Benachteiligungssituationen auch als strukturelles Unrecht in Form von gesellschaftlicher Diskriminierung und Exklusion adressiert und einer sozial- und bildungspolitischen Bearbeitung zugänglich gemacht werden.
- Wenn Behinderungen und Benachteiligungen (Handlungs-)Situationen darstellen, die im Sinne eines ‚Behindert- oder Benachteiligtwerdens‘ wirken, dann ergibt sich daraus für eine Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung, dass sie die unterschiedlichen gesellschaftlichen Barrieren in den Blick nehmen muss, die Personen in Behinderungs- und Benachteiligungssituationen an der vollen und wirksamen Partizipation an der Gesellschaft und an der gleichberechtigten Inklusion in die Gesellschaft hindern. Um aus einer solchen Barrierenanalyse ableiten zu können, wie die Partizipation und Inklusion behinderter und benachteiligter Menschen2 unterstützt und gefördert werden soll, ist allerdings eine wissenschaftliche Reflexion des normativen Geltungshorizonts der zugrunde liegenden moralischen und politisch-rechtlichen Grundsätze (Partizipation und Inklusion) nötig. Eine weitere Zielsetzung bildet daher die Darstellung der ethischen Grundannahmen einer Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung, die wir mit der Formulierung von Handlungsprinzipien und Kriterien pädagogischer Qualität konkretisieren und abschließend in eine Reflexion professionellen pädagogischen Handelns einmünden lassen.
- Die übergreifende Ausrichtung des Bandes besteht im Sinne dieser Zielsetzungen vor allem darin, für den pädagogischen Handlungsansatz bei Behinderung und Benachteiligung herauszuarbeiten, dass die Achtung der Menschenwürde und die Neuinterpretation grundlegender Menschenrechte (assistierte Freiheit, Diskriminierungsverbot und Barrierefreiheit, gesellschaftliche Inklusion) den Ausgangspunkt bilden, um zu einer menschenrechtsbasierten Praxis des Umgangs mit Behinderung zu kommen, die sich analog auf den Umgang mit Benachteiligung anwenden lässt. Ausgehend von dem im Dezember 2006 verabschiedeten ‚Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen‘ der Vereinten Nationen (kurz: UN-Behindertenrechtskonvention bzw. UN-BRK) lässt sich die Zielsetzung einer solchen Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung formelhaft zusammenfassen in dem Motto „unterstützte Autonomie durch gleichberechtigte Inklusion, womit die Trias der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – eine aktualisierte Lesart erfährt“ (Bielefeldt 2011, 126).
Die Zielsetzungen dieses Buches lassen erkennen, dass wir uns hinsichtlich des Verständnisses von Behinderung und Benachteiligung und bezüglich der Formulierung von ethischen Grundannahmen pädagogischen Handelns – wie in der deutschsprachigen Sonderpädagogik zunehmend üblich – an der internationalen Fachdiskussion orientieren.
Zum weiteren Aufbau des Buches
Das zweite Kapitel des Buches beschäftigt sich mit den grundlegenden Begriffen einer Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Dabei widmen wir uns zunächst der Frage nach der Funktion (sonder-)pädagogischer Grundbegriffe. Anschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Behinderung. Dieser Abschnitt nimmt den meisten Raum innerhalb dieses Kapitels ein, weil wir auch auf die pädagogisch-anthropologische Kritik an der immanenten Sonderanthropologie traditioneller Begriffsauslegungen eingehen und unterschiedliche Theorieperspektiven gegenüberstellen. Ein weiterer Abschnitt, der auch die international-vergleichende Perspektive mit einbezieht, beschäftigt sich mit dem schulpolitischen Legitimationsbegriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs, gefolgt von einer Darstellung des Begriffs der Benachteiligung aus ungleichheitssoziologischer und aus pädagogischer Sicht. Dabei zeigen sich begriffstheoretische Parallelen zu den aktuellen Bestimmungen des Behinderungsbegriffs, die sich an den strukturellen Merkmalen der Relativität und Relationalität festmachen lassen und auf die gesellschaftliche Konstruktion beider Begriffe verweisen. Den Abschluss bildet ein kurzer Exkurs, in dem die drei international einflussreichsten bildungstheoretischen Ansätze vorgestellt und hinsichtlich ihrer Bedeutung für politische Entscheidungs- und Handlungsoptionen diskutiert werden.
Das dritte Kapitel befasst sich mit den ethischen Grundannahmen einer Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung, wobei auch politisch-rechtliche Konsequenzen angesprochen werden. Die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen besitzt seit mehr als zwei Jahrzehnten einen hohen Stellenwert in unserer erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin und löste die Sonderanthropologie als jahrzehntelang gültiges normatives Bezugssystem ab. Im Einzelnen geht es hier um Fragen des Lebensrechts und der Menschenwürde und Fragen des Menschenrechts auf Bildung und der staatlichen Sicherstellung von Freiheit und Gleichheit im Bildungs- und Schulwesen (Bildungsgerechtigkeit). Zudem werden Fragen einer würdevollen und humanen Gestaltung des gesellschaftlichen Umgangs mit behinderten und benachteiligten Menschen behandelt, die durch die Rezeption der sozialanthropologischen und -ethischen Theorie der Ankerkennung (Honneth) eine Beantwortung finden. Ausgehend von der anthropologischen Prämisse der ‚anerkannten Abhängigkeit‘ (McIntyre) bieten derzeit insbesondere die anerkennungstheoretischen Ansätze der feministischen Care-Ethik und der kommunitaristischen Ethik der Solidarität konkrete Anknüpfungspunkte für die Reflexion von Handlungsprinzipen und Zielperspektiven wie Normalisierung, Integration/Inklusion oder Selbstbestimmung.
Folgerichtig reflektiert das vierte Kapitel diese zentralen Handlungsprinzipien und Zielperspektiven der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung. Dabei ist zunächst zu klären, inwiefern pädagogische Aufgaben mehrdimensional zu legitimieren sind und welche gesellschaftlichen Instanzen an der Entwicklung von Handlungsprinzipien und Zielperspektiven für das konkrete professionelle Handeln beteiligt werden müssen. Erst danach können aktuelle Handlungsprinzipen und Zielperspektiven, die die Fachdiskussion und Praxis prägen, im Überblick dargestellt werden. Weil sich dabei sehr schnell zeigt, dass die Handlungsprinzipen und Zielperspektiven der Integration und der Inklusion im schulischen wie im außerschulischen Bereich Wirkung entfalten, werden sie etwas ausführlicher dargestellt. Die übrigen Prinzipien (Normalisierung, Selbstbestimmung, Empowerment, Lebensqualität, Sozialraumorientierung, Teilhabe) wurden insbesondere im außerschulischen Feld und häufig in Bezug auf erwachsene Menschen mit dauerhaftem und umfangreichem Unterstützungsbedarf wirksam. Bereits dieser Überblick macht deutlich, dass sich diese programmatischen Handlungsprinzipen und Zielperspektiven zu einem großen Teil überschneiden.
Im fünften Kapitel wird der in den vorherigen Kapiteln ausgearbeitete handlungstheoretische Ansatz der Pädagogik bei Behinderung und Benachteiligung mit der aktuellen Frage nach der Sicherung und Entwicklung pädagogischer Qualität verbunden. Der erste Abschnitt dieses Kapitels intendiert eine Klärung des Begriffs der pädagogischen Qualität. Anschließend gehen wir der Frage nach, was Qualität in unterschiedlichen Handlungsfeldern...