I. Das Wesen der Angst
1. Was ist Angst und worin besteht ihr Sinn?
Angst ist zunächst einmal ein ganz „normales“ menschliches Gefühl, genauso wie z.B. Liebe, Freude, Wut oder Traurigkeit (1), wobei die Angst wahrscheinlich „das grundlegendste unserer Gefühle“ (2) ist. Die Fähigkeit, Angst zu empfinden, ist dem Menschen angeboren und gehört somit zu seinen natürlichen Dispositionen. Angst ist daher ein Gefühl, das jedem Menschen vertraut ist, auch wenn wir es am liebsten aus unserem Alltag verbannen würden, weil es in aller Regel als ein unangenehm empfundenes Gefühl von Bedrohung beschrieben werden kann. Angst ergreift immer den gesamten Menschen, denn sie belastet Seele und Körper gleichermaßen. Wenn wir „richtig“ Angst haben, fühlen wir uns sehr unbehaglich, Herzklopfen, feuchte Hände, Zittern usw. stellen sich ein und wir verlieren, zumindest für einen Moment, unsere gewohnte Sicherheit (3). Wir fühlen uns nicht mehr getragen, sondern unsicher und existentiell bedroht. Angst ist jedoch mehr als ein unliebsames Gefühl, sie ist vor allem „eine für das individuelle Überleben notwendige biologische Mitgift, vergleichbar der Schmerzreaktion“ (4). Während Schmerz uns vor Schädigungen des eigenen Organismus warnt, greift Angst über das Individuum hinaus und richtet sich auf Gefahren aus der Außenwelt. Angst bewahrt uns als „universelles Warnsystem und Fluchtsignal“ (5) davor, dass wir uns in lebensgefährliche Situationen begeben, sie veranlasst uns darüber hinaus zu lernen, mit Risiken umzugehen und uns für das richtige Verhalten zu entscheiden (6). Immer „wenn Ereignisse und Situationen als bedrohlich, ungewiss und unkontrollierbar eingeschätzt werden“ (7), nimmt Angst von uns Besitz und bewirkt eine automatische Alarmreaktion des Körpers, um ihn blitzschnell auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. „Wissenschaftlich wird die plötzliche oder kurz andauernde Angst daher auch als ‚Kampf-Fluchtreaktion‘ bezeichnet“ (8). Diese unbewusste Alarmreaktion schützt uns, weil sie uns zuverlässig und schnell warnt, schneller als wir denken können. Das muss auch so sein, denn in Gefahrensituationen ist es dringend erforderlich, unverzüglich zu reagieren, z.B. flugs zur Seite zu springen, wenn ein Auto auf uns zufährt oder auf der Stelle wegzurennen, wenn ein zähnefletschender Hund sich nähert. Ohne Angst hätte die Menschheit sicherlich nicht überlebt, denn sie bietet Überlebensschutz seit Millionen von Jahren (9). Völlige Angstfreiheit kann also keineswegs ein erstrebenswertes Ziel sein.
Angst hilft uns jedoch nicht nur mit der notwendigen Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft adäquat auf drohende Gefahren zu reagieren, sondern sie kann auch ein Motor sein, um unsere Leistungsfähigkeit zu fördern. Bereits Anfang des 20.Jahrhunderts fanden der amerikanische Psychologe Robert M. Yerkes und sein Student John D. Dodson heraus, „dass ein Zuviel an Angst bestimmte Leistungen verschlechtert, während mittelgradige Angst die Menschen zu Bestleistungen antreiben kann.“ (10). Ein richtig dosierter Angstlevel kann unsere Wachheit, Aufmerksamkeit, intellektuelle und motorische Leistungsbereitschaft in Prüfungssituationen oder bei anderen persönlichen Herausforderungen aufs höchste steigern, er kann die treibende Kraft sein, die uns zu schöpferischem Handeln anregt und unsere Phantasie und Kreativität steigert (11). Balint hat diese ängstliche Spannung, die unsere Konzentration erhöht und durchaus noch als lustvoll erlebt wird, als „Angstlust“ bezeichnet (12). Man denke dabei an das Lampenfieber, wenn Menschen eine wichtige Prüfung absolvieren müssen oder vor einem großen Publikum eine Rede halten sollen. Aber auch talentierte und anerkannte Schauspieler, Politiker, Maler, Schriftsteller, Sportler, Komponisten oder Wissenschaftler schöpfen nicht selten aus ihrer zumeist unterschwelligen Angst vor dem Versagen, vor dem Abgewertetwerden, vor der Mittelmäßigkeit die enorme Energie, die zum Erreichen ihrer großartigen Leistungen vonnöten ist.
Somit erfüllt Angst als eine eher unerwünschte Grundbefindlichkeit des menschlichen Seins zwei ganz wesentliche Funktionen: sie schützt uns und vermag uns zu großen Leistungen anzuspornen.
2. Körperliche Veränderungen während der Angstreaktion
Unser Gehirn umfasst zwei Teilbereiche: Das „uralte“ Gehirn (das limbische bzw. emotionale Gehirn, das unsere Emotionen steuert) und das „neue“ Gehirn (der „Neokortex“, der für Sprache und Denken zuständig ist), das sich erst im Verlauf von Jahrmillionen der Evolution um diesen uralten Stamm herum gebildet hat. Paul Broca, der große französische Neurologe des 19. Jahrhunderts, beschrieb dieses „uralte Gehirn“, das als ein Gehirn tief im Innern unseres eigentlichen Gehirns zu verstehen ist, als erster und gab ihm auch den Namen „limbisches Gehirn“. (13). „Die so genannten limbischen Bereiche sind bei allen Säugetieren gleich und bestehen aus Nervengewebe, das sich von dem der für Sprache und Denken verantwortlichen Hirnrinde unterscheidet. Das limbische System ist für Gefühle und Überlebensreaktionen zuständig. Ganz zuunterst befindet sich der ‚Mandelkern‘, die Amygdala, von der alle Angstreaktionen ausgehen “ (14).
Das Gefühl der Angst kommt dann zustande, wenn ein durch die Sinnesorgane an das Gehirn weitergeleiteter Reiz als angstbesetzt eingestuft wird. Für diese Bewertung sind die limbischen Strukturen (insbesondere die Amygdala) verantwortlich, die diese Wertungen aufgrund angeborener, aber auch erlernter Programme bzw. gespeicherter Erfahrungen vornehmen. Sie entscheiden sich daraufhin in Bruchteilen von Sekunden für die passenden Reaktionen. Das Gehirn schlägt Alarm noch ehe uns die Gefahr bewusst wird und gibt die notwendigen Befehle an den Hypothalamus weiter, der sofort alle vegetativen und hormonellen Anpassungen im Körper einleitet und steuert. „Zum einen werden hier Stresshormone ausgeschüttet, zum anderen wird das sympathische Nervensystem aktiviert“ (15), was zu einer Reihe von automatischen körperlichen Veränderungen führt. So befiehlt der Hypothalamus den Nebennieren, die Hormone Adrenalin und Noradrenalin auszuschütten. Während Adrenalin für die Erhöhung der Muskeldurchblutung und -spannung, die Steigerung des Blutdrucks, die Beschleunigung des Atems und Pulses sowie die Erhöhung des Stoffwechsels sorgt, kontrolliert und reguliert Noradrenalin diese Aktivierung und bringt den Körper dazu, alle anderen Aktivitäten zu vermindern, um einen unnötigen Energieverbrauch zu verhindern. Des Weiteren sorgen beide Botenstoffe dafür, dass der aktiveren Muskulatur genügend Brennstoffe zur Verfügung stehen, damit sie optimal arbeiten kann. Darüber hinaus schüttet der Hypothalamus das Hormon „Corticotropin Releasing Hormone“ (CRH) aus, welches die Hirnanhangdrüse aktiviert. Diese Drüse, die auch Hypophyse genannt wird, setzt das Stresshormon „Adrenocorticotropes Hormon“ (ACTH) frei, was zu einer Aktivierung der Nebenniere und damit zur Ausschüttung von Cortisol führt. Cortisol hat im Wesentlichen drei wichtige Aufgaben: „Erstens soll es die Bereitstellung von Energie für den Körper in Form von Zucker gewährleisten. Zweitens dämpft es das Immunsystem, woraus eine Entzündungshemmung resultiert. Drittens steigert es die Wirkung der anderen Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin, die aus dem Nebennierenmark ausgeschüttet werden“ (16).
Bei Angst aktiviert der gesamte Körper auf diese Weise in Sekundenbruchteilen alle seine Kräfte und bündelt sie zu einer erfolgreichen Abwehr, die entweder durch einen blitzschnellen Angriff oder aber durch die Flucht erfolgen kann. Unter dem uns allen bekannten Begriff „Schrecksekunde“ ist genau diese kurze Zeitspanne gemeint, die das Gehirn braucht, um eine Gefahr zu identifizieren und den Körper für eine erfolgreiche Reaktion zu mobilisieren. Der Mensch reagiert im Grunde wie ein primitives Tier, das gar nicht über den Verstand verfügt, eine Gefahrensituation angemessen zu beurteilen, sondern immer auf Autopilot geschaltet hat. Dieser automatische Ablauf im menschlichen Körper auf eine angstvoll erlebte Situation ist dabei immer gleich, unabhängig davon, ob die erlebte Gefahr real und objektiv vorhanden ist oder ob es sich um eine unnötige, falsche und vollkommen übersteigerte Angst handelt wie das z.B. bei der Panikstörung der Fall ist (17).
Luczak, Hania in: Geo Nr. 4/April 1996, S. 86
3. Die drei Ebenen des Angsterlebens
Angst ist ein kompliziertes Zusammenspiel, das aus einer Kombination von drei Komponenten besteht: einem körperlichen, einem kognitiven (Gedanken und Gefühle) und einem Verhaltensanteil. Wenngleich diese Anteile in der Regel zusammenhängen, so müssen sie dennoch nicht immer gleichzeitig oder gleich intensiv auftreten. So nehmen manche Menschen eher die körperlichen Anteile der Angst wahr, während bei anderen eher die kognitiven oder Verhaltensanteile im Vordergrund stehen. Alle drei spielen jedoch eine Rolle sowohl bei der Entstehung als auch bei der Aufrechterhaltung von Angst. Sie sollen im Folgenden kurz beschrieben werden (18):
Körperlicher Anteil: Bei Angst steigt die Erregung des sympathischen Nervensystems, welches ein Teil des „autonomen Nervensystems“...