EINLEITUNG: STECKT IN
PARADOXIEN DER WURM?
In einer englischen Science-Fiction-Krimiserie mit dem passenden Titel Paradox behauptet ein Astrophysiker, Bilder einer künftigen Explosion zu besitzen, die vielen Menschen das Leben kosten wird. Nachdem sie sich diese Zukunftsbilder angesehen hat, muss die arme, gestresste Polizistin Rebecca Flint alles daran setzen, zu verhindern, dass diese Vision wahr wird. Aber wenn Flint Erfolg hat, wären diese »Zukunftsbilder« dann nicht falsch? Wenn sich das schlimme Unglück, das sie vorhersagen, nie ereignen würde, und sei es dank Flints Eingreifen, in welchem Sinn könnte man diese Bilder dann noch als verlässlich betrachten? Das rätselhafte Wesen der Zeit hat viele philosophische Paradoxien aufgeworfen. Neben solchen Problemen wie Flints, wo es darum geht, die Zukunft auf Grundlage unseres Vorauswissens über sie zu ändern, gibt es auch solche, die mit der Vergangenheit zu tun haben, wie das Großvaterparadoxon, das die Frage aufwirft, ob eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit denkbar wäre, um den eigenen Großvater umzubringen, bevor dieser die Großmutter kennenlernt. Wenn das wirklich ginge, wäre es zugleich unmöglich, weil man dann ja niemals existiert hätte: Ein eigenes Elternteil wäre nie geboren worden, also wäre man auch selbst nie zur Welt gekommen, und folglich könnte man nicht in der Zeit zurückreisen, um den eigenen Großvater um die Ecke zu bringen, bevor dieser mit der Großmutter anbandeln kann.
Sehr großzügig definiert kann eine Paradoxie alles sein, von einem kniffligen Problem über eine der Intuition widerstrebende Meinung oder Schlussfolgerung bis hin zu einem visuellen Zaubertrick. Bei einer Internetsuche des Begriffs »Paradox« finden sich unter den Treffern zum Beispiel die verschachtelten, berückend schönen Grafiken des niederländischen Künstlers M. C. Escher; das Bild eines Glasaschenbechers, auf dessen Boden das Symbol »Rauchen verboten« aufgedruckt ist; die dem englischen Naturforscher Robert Boyle zugeschriebene Zeichnung eines sich selbst leerenden Glases, das sich mittels einer Röhre in seinem Boden unablässig selbst auffüllt (Abbildung 1); und ein Wikipedia-Artikel, der zahllose Paradoxien auflistet, darunter das oben erwähnte Großvaterparadoxon. Die bei Wikipedia angeführten Paradoxien stammen aus so unterschiedlichen Gebieten wie Statistik, Astronomie, Wirtschaft, Biologie und Logik. Was also, macht sie alle zu Paradoxien?
Sehr großzügig definiert kann eine Paradoxie alles sein, von einem kniffligen Problem über eine der Intuition widerstrebende Meinung oder Schlussfolgerung bis hin zu einem visuellen Zaubertrick.
Abbildung 1: Boyles sich selbst füllendes Glas (Grafik aus Wikimedia, s. a. Donald M. Simanek, »Perpetuum Futiliy. A short history of the search for perpetual motion«, unter: http://www.lhup.edu/~dsimanek/museum/people/people.htm)
Die Philosophen sind sich alles andere als einig darüber, wie man ein Paradox richtig definiert, allerdings weist jede maßgebliche Definition auf ein wichtiges Merkmal von Paradoxien hin. Nach einer verbreiteten Definition besteht eine Paradoxie aus einer Reihe von wechselseitig widersprüchlichen Behauptungen, von denen jede einzelne wahr ist.2 Nehmen wir Flints heikle Aufgabe, ein Ereignis in der Zukunft zu verhindern. Es lassen sich eine Reihe von Sätzen formulieren – nennen wir sie Aussagen –, die ihre Situation beschreiben. Nehmen wir, erstens, an, dass die Bilder der künftigen Explosion verlässliche Vorhersagen eines künftigen Geschehens darstellen. Wenn dies, zweitens, der Fall ist, wird offenbar nichts, was Flint unternimmt, den Gang der Ereignisse ändern können, da wir ja angenommen haben, dass sie zutreffen. Doch scheint Flint, drittens, die Freiheit zu besitzen, so zu handeln, dass sie die künftige Explosion verhindern kann. Wenn es Flint also, viertens, wirklich gelingt, die Explosion zu vereiteln, waren die Bilder von der künftigen Explosion nicht wahr. Man beachte, dass die vierte Aussage der ersten widerspricht, die wir als gegeben angenommen hatten. Wenn die Bilder verlässlich sind, lässt sich an der Explosion nichts ändern. Aber weil Flint eine außerordentliche Handlungsfreiheit besitzt, kann sie etwas unternehmen, was die Explosion verhindern würde. Wenn das jedoch der Fall ist, haben die Bilder die Zukunft nicht verlässlich vorausgesagt. Jede Aussage sieht für sich genommen akzeptabel aus, aber zusammengenommen ergeben sie einen Widerspruch:
Kästchen 1
Flints Paradox
1. Die Bilder über die künftige Explosion sind zuverlässig (Annahme).
2. Nichts, was Flint unternehmen kann, wird die Explosion verhindern (folgt aus 1).
3. Flint besitzt die Freiheit, durch ihr Eingreifen die Explosion zu verhindern.
4. Es könnte sich erweisen, dass die Bilder der künftigen Explosion nicht verlässlich waren (folgt aus 3; widerspricht 1).
Dieses Beispiel veranschaulicht, was für Paradoxien charakteristisch ist: Unter Aussagen, an denen zumindest oberflächlich nichts falsch ist, hat sich irgendeine Art von Widerspruch geschmuggelt. Darum taucht wohl bei unserer Internetsuche des Wortes »Paradox« unter den Treffern ein Bild von einem Aschenbecher mit einem »Rauchen verboten«-Zeichen auf. Für sich genommen handelt es sich bei dem Aschenbecher und dem Symbol um ganz alltägliche Dinge. Verschmelzen sie jedoch zu einem einzigen Gegenstand, entsteht eine Spannung zwischen dem Objekt, das zu dem Zweck hergestellt wurde, dass geraucht wird, und dem Symbol, das es verbietet. Sowohl beim Aschenbecher für Nichtraucher als auch beim Großvaterparadoxon springt der Widerspruch ins Auge, und dies umso mehr, als uns kein einzelnes Glied der widersprüchlichen Kette von Aussagen für sich genommen offenkundig falsch erscheint. Ein Widerspruch unter scheinbar harmlosen Elementen, ist also ein wesentlicher Bestandteil dessen, was wir unter einer Paradoxie verstehen.
Andere Definitionen lenken das Augenmerk auf die Argumentationsweise von Paradoxien. Für den Philosophen John Mackie zum Beispiel ist eine Paradoxie ein Argument mit einem scheinbar schlüssigen Gedankengang und wahren Prämissen, jedoch einem offenkundig falschen Schluss.3 Wieder andere wie Mark Sainsbury meinen, ein Paradoxon sei »eine scheinbar unannehmbare Schlussfolgerung, die durch einen scheinbar annehmbaren Gedankengang aus scheinbar annehmbaren Prämissen abgeleitet ist«.4 Argumente sind Gedankengänge, bei denen eine Aussage (die Schlussfolgerung) von anderen Aussagen gestützt wird (die Voraussetzungen oder Prämissen). Ist die Argumentation schlüssig, ergeben sich aus wahren Prämissen stets wahre Schlussfolgerungen. In Paradoxien scheint jedoch der Wurm zu stecken, etwas scheint bei ihnen schiefgelaufen zu sein, insofern wahre Prämissen und triftige Gedankengänge bei ihnen im Gegenteil zu offenkundig falschen oder widersprüchlichen Schlüssen führen. Im Fall Flints nahmen wir an, dass die Bilder einer künftigen Explosion wahr sind, kamen dann aber zu dem Schluss, dass, falls ihr die Verhinderung der Explosion gelänge, die Bilder gar nicht wahr gewesen sein konnten. Unsere Folgerung widerspricht also dem, was wir als gegeben angenommen hatten. Oder nehmen wir die Haufenparadoxie, die nach dem griechischen Wort für »Haufen« vielfach auch Sorites-Paradoxie genannt wird. Sie ist ein frühes und berühmtes Paradoxon über Vagheit, weil sie uns vor Augen führt, dass wir dort, wo wir Wörter nicht klar voneinander abgrenzen können – etwa »kahlköpfig« von »nicht kahlköpfig« oder »reich« von »nicht reich« –, zu offenkundig falschen Schlüssen gelangen. Die Haufenparadoxie lässt sich, hier am Beispiel einer mehr oder minder geschwundenen Haarpracht, wie folgt ausdrücken:
Kästchen 2
Haufenparadoxie
1. Eine Person mit 0 Haaren auf dem Kopf ist kahlköpfig.
2. Für jede Zahl n gilt: wenn eine Person mit n Haaren kahlköpfig ist, dann ist auch eine Person mit (n + 1) Haaren kahlköpfig.
3. Folglich ist eine Person mit 1 000 000 Haaren kahlköpfig.
Beim Haufenparadox bilden die Punkte 1 und 2 die Prämissen und Punkt 3 die Schlussfolgerung des Arguments. Die erste Prämisse, die feststellt, dass eine Person mit null Haaren kahlköpfig ist, beschreibt den paradigmatischen Fall der Kahlköpfigkeit. Diese Prämisse ist offensichtlich wahr, denn wenn eine Person kahlköpfig zu nennen ist, so gewiss diejenige mit den wenigsten möglichen Haaren auf dem Kopf (0). Die zweite Prämisse ist, auch wenn sie auf den ersten Blick vielleicht nicht so eingängig wirkt, ebenfalls intuitiv sehr einleuchtend. Sie besagt,...