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E-Book

Peacemaker

Mein Krieg. Mein Friede. Unsere Zukunft.

AutorSimon Jacob
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451812729
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Simon Jacob reist für das Projekt 'Peacemaker' seit Jahren durch Syrien, Irak und Iran. Als Angehöriger eines bedeutenden Clans aus der Region kommt er an Orte und zu Menschen, die für andere Menschen aus dem Westen unerreichbar sind. In seinem Buch nimmt er den Leser mit auf eine faszinierende Reise, voller Abenteuer und Schrecken, aber auch Mut, Hoffnung und Aufbruch. Sein emotionaler Erfahrungsbericht fängt den Leser ein und gibt ihm intime Einblicke in Jacobs ganz persönliche Entwicklung. Zugleich kann er Zusammenhänge erklären, die in Europa nicht verstanden werden und die entscheidend sind für die Frage nach der Zukunft - nicht nur dort, sondern auch bei uns. Simon Jacob, der auch Vorsitzender des Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland ist, verbindet Analysen und Lösungsansätze mit Erfahrungen und Begegnungen und schafft ein einzigartiges Buch mit klarer Botschaft: 'Frieden im Nahen Osten ist möglich und ich glaube auch daran - gerade weil ich in all diesen Ländern war.' Im Zentrum des Buches stehen seine Reisen und Erfahrungen, vor allem auch das Projekt 'Peacemaker': Als Simon Jacob von einer Nahostreise zurückkam, war er geprägt von traurigen Momenten, Gewaltexzessen, Klagen und Weinen. Zugleich beunruhigten ihn die europaweiten Erfolge der Rechtspopulisten. Jacob fasste einen Plan, die Idee war simpel: Er wollte sich mit Kamera, Smartphone und jeder Menge Improvisationstalent auf den Weg machen, um Menschen, einfache Menschen, im Nahen Osten zu treffen. Solche, die trotz allem noch an den Frieden glauben. Er wollte zeigen, dass der Nahe Osten viel mehr ist als Terrorismus, dass die interkulturelle und interreligiöse Grenze überwunden werden kann. Allein von September 2015 bis März 2016 legte er 40.000 Kilometer zurück, reiste über Antakya und die türkisch-kurdischen Gebiete nach Georgien, Armenien, Syrien, den Irak und Iran, machte mehrere Tausend Bilder, veröffentlichte über 180 Artikel, führte unzählige Interviews und Gigabytes an Videointerviews. Er sprach mit Menschen, lauschte ihren Nöten und ihrem Leid, brachte Bildung und förderte den interreligiösen Dialog. Er sah Leid, aber auch Lebensfreude und Hoffnung. Sein Projekt 'Peacemaker' begann, Wellen zu schlagen. In diesem Buch berichtet er von seinen Erlebnissen und Abenteuern, davon, wie nah Grausamkeit und Hoffnung beieinander liegen und er schildert die Veränderungen, die er gemacht hat. Seine ganz persönliche Geschichte, die über seinen eigenen Krieg und Frieden erzählt, darüber, wie er seinen christlichen Glauben und den Glauben an die Menschlichkeit wiedergefunden hat. Und die auch einen anderen Blick auf die Welt zulässt und zeigt, dass und wie Frieden möglich ist und warum er so fest daran glaubt. 'Nach meiner Rückkehr nach Deutschland erhielt ich einen verzweifelten Anruf der Mutter, die ich besucht hatte. Der Vater war nach Syrien gereist, um Pässe zu besorgen und nicht mehr zurückgekommen. Die Mutter rief mich nachts an, verzweifelt, weinend, schreiend und bat mich darum, den Kindern und ihr zu helfen. Die Erinnerung an den herzzerreißenden Anruf und andere Bilder lassen mich seitdem nachts immer wieder aus dem Schlaf hochschrecken. Und doch sind es nicht nur die Toten, die mich beschäftigen. Oder die machthungrigen und fanatischen Verbrecher. Es sind die Lebenden, besonders die Mütter und Kinder. Für sie müssen wir Frieden schaffen! Als Akt der Menschlichkeit - und in der Hoffnung, dass sie eine Zukunft haben.'

Simon Jacob ist für das Projekt Peacemaker durch den Nahen Osten gereist, auf der Suche nach Frieden. Er war in der Türkei genauso wie in Armenien, in Iran wie im Libanon, aber eben auch lange im Irak und Syrien. Die Gegend kennt er schon lange, weil er zwar Deutscher ist, aber aus einem Clan im Tur Abdin stammt, der beste Vernetzungen im Irak und in Syrien hat. Er ist außerdem Vorsitzender des Zentralrates Orientalischer Christen in Deutschland.

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Leseprobe

Keine Heimat mehr


Ende der Siebzigerjahre befand sich die Welt noch mitten im Kalten Krieg. Die Türkei, der Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, galt – und gilt immer noch – als geopolitische Pufferzone zwischen Kleinasien, dem Nahen Osten und Europa. Ebenfalls sollte, zumindest bis weit in die Nullerjahre des neuen Jahrtausends hinein, der stabilisierende Faktor der einst laizistisch-kemalistischen Republik nicht außer Acht gelassen werden. Heute verabschiedet sich der Laizismus aus der vorher modernen Türkei, der politische Islam hat Einzug gehalten, und was zunächst wie eine funktionierende Versöhnung und Harmonisierung zwischen Islam und Demokratie betrachtet wurde, sieht heute ganz anders aus. Die Türkei ist gespalten zwischen einem immer noch westlich orientierten Teil und einem religiös erwachten Südostanatolien, in dem eine Art Bürgerkrieg mit den Kurden aufgeflammt ist, der bereits Ende der 70er meine Familie dazu zwang, die angestammte Heimat zu verlassen.

Die Stadt Nusaybin liegt an der syrischen Grenze und klebt fast förmlich an Qamishli, ihrer Schwesterstadt, von der sie nur durch einen Zaun getrennt ist. Noch vor dem Syrienkrieg passierten Syrer und Türken diese Grenze, die eigentlich nur ein einfaches Tor ist, um direkt von einer Stadt in die andere zu kommen. Laut der Erzählungen meiner Eltern gab es früher noch nicht einmal einen Grenzzaun. Der moderne Nationalstaat, so wie er für uns als selbstverständlich erscheint, ist eine recht junge Entwicklung. Und manche Großeltern erinnern sich noch an die alte Zeit, in der sie sich in ihrer Jugend frei und ohne Hindernisse bewegen konnten, in der Schafhirten ein riesiges Territorium ohne künstliche Grenzen durchschreiten konnten, so wie es ihr Clan seit Jahrhunderten gewohnt war. Im Laufe meiner Erzählungen wird man verstehen, warum gerade diese Freiheit so wichtig ist und ihr Beschneiden für so viele Konflikte sorgt und weiter sorgen wird. Wer die Clans nicht versteht, versteht die Konflikte nicht.

Ich selbst stamme aus einem Clan, der dort seit Jahrhunderten lebt. Ich kam 1978 in Nusaybin, in eben jener alten Königsstadt, deren Wurzeln bis in das Zeitalter der Assyrer zurückreichen und die eine der ältesten Universitäten der damals bekannten Welt beherbergte, zur Welt. Der heilige Ephrem, Schüler des heiligen Jakobs und einer der großen Kirchenlehrer der christlichen Welt, wurde um 306 n. Chr. hier geboren. Heute ist die Stadt leider zu einem umkämpften Ort verkommen, in der sich junge Kurden und das türkische Militär Scharmützel liefern; der letzte Christ hat die Stadt 2015 verlassen, kurz nachdem ich ihn noch besucht und ein letztes Mal die Ausgrabungen der alten Universität und die uralten Gemäuer der Kirchen des Heiligen Jakob, im Westaramäischen Mor Jakob genannt, besichtigt hatte.

Die Geburt war für meine Mutter eine Tortur, wie vieles damals. Es hatte bei der Schwangerschaft Komplikationen gegeben. In einer Zeit, in der man in Europa religiöse Konflikte als überwunden ansah, wurde meiner Mutter die Behandlung im örtlichen Krankenhaus verweigert. Als »Urchristen« betrachtete man uns damals als Menschen zweiter Klasse. Teilweise ist das heute noch so. Und als Mensch zweiter Klasse wurde auch meine Mutter behandelt, mit dem ungeborenen Kind im Leib. Ich wurde im Haus der Großeltern geboren, meine Mutter kämpfte um ihr Leben, ich auch. Schließlich brachte mein Vater mich in eine nahegelegene Kirche und legte mich am Altar ab. Am nächsten Tag kam er zurück und ich hatte die Augen geöffnet, so erzählt er es.

1980 entzündete sich der Konflikt zwischen der kurdischen Guerilla und dem türkischen Militär immer mehr. Dazwischen wurden die Suryoye oder auch Suryanis, so bezeichnet man die Christen heute noch in der Türkei, aufgerieben. Nachts verlangten die kurdischen Partisanen Unterschlupf und Versorgung. Tagsüber kam das Militär und bezichtigte die Christen der Kollaboration mit den kurdischen Revolutionären. Hinzu kamen Erniedrigungen durch feudale Stammesführer, die sich mal als Beschützer eines christlichen Dorfes betrachteten, dann dieses wiederum attackierten. Die vermeintlichen Beschützer erhielten, wie als Selbstverständlichkeit, einen Teil der Ernte als Bezahlung für die Gewährleistung, in Sicherheit leben zu dürfen. Denn der türkische Staat vermochte es nicht, den Schutz der christlichen Bevölkerung, deren Population durch den Genozid von 1915 von 20 Prozent auf 0,1 Prozent dramatisch geschrumpft war, sicherzustellen. Und so wählten auch meine jungen Eltern, wie viele andere Familien, die aus dem Tur Abdin kamen (Tur Abdin heißt aus dem Westaramäischen übersetzt »Berg der Knechte Gottes« und bezieht sich auf die Stammesregion der syrischen-orthodoxen Christen im südostanatolischen Raum), die Migration.

Das Ziel war Deutschland, oder besser gesagt »Alemanya«, so der im Türkischen verwendete Begriff. Ich sage das bewusst, weil sich meine ersten Erinnerungen daran knüpfen, dass in dem Viertel, in dem wir die ersten Jahre verbrachten, kaum ein Wort Deutsch gesprochen wurde. Das Aramäische war meine Basissprache und ansonsten hörte man auf dem Spielplatz alles Mögliche. Jedenfalls klebte ich bis zu meinem vierten Lebensjahr immer an den Lippen meiner älteren Schwester, die bereits eingeschult war. Ich glaube, die ersten Worte, die ich erlernte, waren »Eis« und »Saure Zunge«. Beides gab es für ein paar Pfennige, die ich ab und zu von Helmut, unserem Nachbarn, bekam, in der Bäckerei um die Ecke. Helmut, der Sohn polnischer Einwanderer, war ein liebenswerter Kerl, der dem Bier nicht abgeneigt war. Und soweit ich mich erinnern kann, bekam man für eine Flasche Bier im nächsten Wirtshaus zehn Pfennig Pfand. So gingen wir mit Helmut die perfekte Symbiose ein. In einer kleinen Gang mit Halbwüchsigen entschieden wir, Helmuts Bierflaschen untereinander aufzuteilen, die seiner Besucher kamen später noch dazu, um uns vom hart verdienten Pfandgeld mit Süßigkeiten einzudecken, eben mit Eis und »Sauren Zungen«. Natürlich galt es für die uns Kindern überlassenen Pfandflaschen eine Gegenleistung zu erbringen. Helmut drückte uns die Geldmünzen in die Hand, für die wir ihm neues Bier holen sollten. Wir Kinder hatten damit unsere Süßigkeiten und Helmut einen günstigen Bierlieferservice. Damit waren wir alle glücklich.

Allerdings selbst in Alemanya spürten wir auf dem Spielplatz mit türkischen Kindern die Differenzen zwischen uns. Misstrauisch beäugten wir uns gegenseitig, und Freundschaften waren damals nur schwer möglich. Hinzu kam, dass wir ohnehin eine kritische Haltung gegenüber allem einnahmen, was muslimisch war. Heutzutage sehe ich viele Dinge natürlich anders. Doch muss man bedenken, aus welcher konfliktreichen Region wir damals kamen, in der bis zum heutigen Zeitpunkt, inzwischen sogar wieder verstärkt, Christen und andere religiöse Minderheiten in ihren Rechten beschnitten werden. Das prägt und wurde auch von Generation zu Generation weitervermittelt.

Deutschland leben, Deutschland verstehen


Als ich vier Jahre alt war, schaffte es mein Vater, und er kämpfte hart dafür, bei der nächstgelegenen katholischen Gemeinde, in der wir auch unseren Gottesdienst zelebrieren durften, einen Kindergartenplatz für mich zu sichern. Immer wieder, selbst jetzt, da ich nahe der Vierziger bin, erklärt mir mein Vater, wie wichtig dieser Schritt für ihn war. Wir konnten uns theoretisch keinen Kindergartenplatz leisten. Doch die Gemeinde stellte Migrantenkindern einige Plätze kostenlos zur Verfügung, und ich war einer der Glücklichen. Da mein Vater nichts annehmen wollte, ohne dafür auch eine Gegenleistung zu erbringen, begann er, kostenlos den Rasen der Gemeinde zu mähen und den Garten instand zu halten. Vieles erschien mir damals so seltsam. Mein Vater zwang mich anfangs förmlich, in den Kindergarten zu gehen. Ich weigerte mich zunächst und weinte die ersten Tage, weil ich einfach niemanden verstand. Außer Bierflaschen, Pfand und die Bezeichnung einiger Süßigkeiten kannte ich kein anderes deutsches Wort. Nun, bald erlernte ich dank meiner Erzieherinnen mein nächstes: »Pudding«.

Eines Tages, es war Sommer, spielte ich mit anderen Kindern im Innenraum des Kindergartens, an den der Garten angrenzte. Vom Garten selbst waren wir durch eine große Panoramascheibe getrennt. Und an diesem Tag sah ich draußen einen Mann, stark schwitzend, den Rasen mähen. Es war mein Vater. Als mein Vater sah, wie ich ihn durch die Scheibe beobachtete, blieb er kurz stehen, lächelte mich für ein paar Sekunden an und setzte seine Arbeit fort. An diesen Tag holte er mich selbst vom Kindergarten ab (inzwischen konnte ich eigentlich eigenständig den Weg zur Einrichtung gehen) und sagte mir etwas, was ich damals, kurz vor der Einschulung, nicht verstand. Er sagte zu mir, dass ich einer der Wenigen sei, der in den Genuss käme, einen Kindergarten zu besuchen. Und dass es ihm sehr wichtig sei, dass ich Deutsch lerne und mit anderen Kindern, mit deutschen Kindern, zusammenkomme.

Heute denke ich sehr oft nach über die vorausschauende Tat dieses Mannes, der in der Türkei nicht zur Schule gehen konnte, weil er als Ältester für die Familie verantwortlich gewesen war. Der als junger Schafhirte tagelang in der Natur seine Zeit verbracht und sich durch das Studieren von Zeitungen das Lesen und Schreiben selbst beigebracht hatte.

Mit sechs Jahren wurde ich eingeschult. Kurz darauf ereignete sich etwas, was mein späteres Leben definitiv prägte und weiterhin prägt. Ich weiß nicht, was geschehen war. Jedoch sagte mein Vater zu mir, dass wir nun in einem freien Land leben würden. Hier dürfte...

Blick ins Buch

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