Verlorene Kinder und schwarze Männer oder Panik im Kindergarten
»Was ist dir lieber? Auf dem offenen Meer verloren zu gehen? Dich im Nebel, in einem dunklen Wald oder der Wüste zu verlaufen? Oder doch in einer Menschenmenge deine Eltern aus den Augen zu verlieren?« Diese Frage stammt nicht etwa aus dem berüchtigten Persönlichkeitstest von Scientology, bei dem herausgefunden werden soll, ob man drogen- oder sexsüchtig wird. Diese und andere skurrile, lustige und oftmals schaurige Fragen stellt der Autor John Burningham in seinem Bilderbuch »Was ist dir lieber?«.
Ich besitze dieses großartige Kinderbuch seit meiner Kindheit und setze es gern und oft bei meiner Arbeit ein. Die Kinder lieben den interaktiven Ansatz. Das Sich-klar-entscheiden-Müssen, ohne Wenn und Aber. Bei der oben genannten Frage geht jeweils ein Raunen durch die Kindergruppe. Kleine Hände werden ratlos über dem Kopf zusammengeschlagen, es wird sich eifrig beraten, entschieden und schließlich die gefällte Entscheidung wieder bereut. Es ist aber auch eine harte Frage für ein Kindergemüt: Nebel, Wüste, Meer, Menschenmenge? Ganz allein? Eine der Urängste des Kindes. Das Sichverirren in der großen weiten Welt. Das Verlorengehen, Vergessen- oder Verlassenwerden.
eUmgekehrt wäre es interessant, dieses Buch für angehende Kindergärtner und Erzieherinnen aufzubereiten. Dann jedoch müsste die Frage lauten: »Was ist dir lieber? Ein dir anvertrautes Kind im Schwimmbad, im Einkaufszentrum, auf dem Waldspaziergang oder beim Zoobesuch zu verlieren?« Dazu die passenden Illustrationen einer aufgewühlten Lehrerin, eines schwitzenden Erziehers mit wirren Haaren, die Stimme bereits rau vom stundenlangen Rufen an den Gestaden eines Sees, zwischen dunklen Tannenbäumen oder neben dem Löwengehege. Daneben mit flottem Strich gezeichnet die anderen Kinder der Gruppe, die sich ängstlich um das pädagogische Wrack scharen und fragen: »Werden wir Kevin je wiederfinden? Und wird seine Mama nicht böse sein, wenn wir ihn nicht zurückbringen?« Des Erzieherischen kundige Leserinnen und Leser werden beim Überfliegen dieser letzten Zeilen bereits schweißnasse Hände bekommen, alle anderen stellen sich bitte einen Piloten vor, der zur Notlandung eines vollbesetzten Jumbojets mit brennendem Triebwerk ansetzt. Oder einen Bombenspezialisten, der gleich den roten oder blauen Draht durchknipsen muss, bevor die halbe Stadt pulverisiert wird. Sollten diese beiden Experten gleichzeitig noch unter Dauerbeschuss eines Scharfschützen stehen und das Krabbeln einer entlaufenen Vogelspinne auf der Schulter spüren, während sie ihre Heldentat ausführen, hat der Laie ungefähr eine Ahnung davon, auf welchem Stresslevel sich ein Erzieher befindet, der soeben die Kindergruppe durchgezählt hat und erkennen muss, dass einer der Knirpse verloren gegangen ist.
Zuerst versucht man natürlich Ruhe zu bewahren – wird schon nicht vom Erdboden verschluckt sein, unser Kevin. Der Schlawiner hat sich sicher wieder beim Durchzählen hinter Osim versteckt. Haha. So einer ist das nämlich. Also lässt man die Kinder selbst nochmals zählen. Im bereits leicht aufkommenden Stress hat man jedoch vergessen, dass bei den meisten Kindern das Zahlenverständnis kaum bis zehn reicht. Daher muss man selbst nochmals ran: Eins, zwei, drei, vier, fünf … Der Schweiß beginnt zu fließen, man bekommt bereits ein flaues Gefühl im Magen, und in ein paar Minuten fährt der Bus … siebzehn, achtzehn, neunzehn … Verdammt! Kevin fehlt tatsächlich! Adam Riese irrt bekanntlich nie. Ruckartig reißt man den Kopf von links nach rechts und wieder zurück, um die gesamte Umgebung in den Blick zu nehmen. Die Nackenwirbel knacken. »Huhuu! Huhuu!« Die Kinder beginnen zu kichern und imitieren den Ruf einer Eule. Auch wenn Humor in solch einer verfahrenen Situation entschärfend wirken kann, hier ist er fehl am Platz! Ein harsches »Ruhe jetzt!« bringt die Meute zum Schweigen und die umstehenden Leute zum Glotzen: Wieder einer dieser überforderten Erzieher! Typisch Mann! Eben doch nicht so nah am Kind dran wie eine Frau. Ein »Das gilt auch für euch! Ruhe jetzt!« in Richtung der Passanten lässt diese kopfschüttelnd den soeben angekommenen Linienbus besteigen. Exakt jenen Bus, den man unbedingt erreichen wollte. Jedoch mit der ganzen Klasse im Schlepptau. Kurz, ganz kurz nur überlegt man, ob man trotzdem zusteigen soll. Es wäre so einfach. Warum sich einen Kopf machen? Die Punkband U. S. Bombs hat unzählige Male ihren desolaten Sänger Duane Peters zurückgelassen, wenn der es wieder einmal mit dem Feiern übertrieben hatte. Die Konzerte ohne ihn seien sogar besser gewesen, heißt es. Der Unterschied zwischen den U. S. Bombs und einem Kindergarten ist jedoch offensichtlich: Duane Peters’ Mutter wartete nicht am nächsten Auftrittsort und verlangte ihren Sohn zu sehen. Und genau der Gedanke an die zu Hause wartenden Eltern ist es, der Adrenalin in den Blutkreislauf des bedauernswerten Erziehers pumpt. Elektrischen Entladungen gleich werden Signale an seine Leber gesendet, mit dem Befehl, vermehrt Glukose herauszurücken. Energie muss her! Der ganze Körper wird nun in Alarmbereitschaft versetzt, der Blutzuckerspiegel steigt. Das Herz beginnt zu rasen. Bronchien und Pupillen weiten sich. Das vegetative Nervensystem übernimmt die Kontrolle. Jetzt kann der Erzieher spüren, wie das flaue Gefühl aus der Magengegend in die Kehle aufsteigt, dort die Mundhöhle austrocknet und sich schließlich zu einem nervösen Kribbeln unter dem Scheitel zusammenzieht. Alle Sinne sind geschärft und nur auf die Lösung der einen und einzigen, in diesem Augenblick zentralen Frage fokussiert: »Kriegen wir noch ein Eis?« Aurelia zieht ungeduldig am Rucksack des am Rande des Wahnsinns taumelnden Kindergärtners. Den aber beschäftigt natürlich nur Folgendes: »Wo zur Hölle steckt Kevin?«
Aufgrund meiner exakten Beschreibung der psychischen wie physischen Vorgänge, die im Inneren der Lehrperson während eines solchen drastischen Vorfalls wüten, kann man sich denken, dass ich selbst bereits derartige dramatische Erfahrungen machen musste. Genauso ist es. Und das nicht nur einmal. Bevor ich mich aber daranmache, diese Ereignisse zu schildern, möchte ich darauf hinweisen, dass diese brenzligen Situationen stets gut ausgingen. Bisher sind alle meine verlorenen Kinder wieder wohlbehalten aufgetaucht, haben oftmals gar nicht richtig bemerkt, dass sie vermisst wurden, und steckten diese Erlebnisse eigentlich ganz gut weg. Ähnlich wie der Sänger der U. S. Bombs, der es fast immer wieder irgendwie schaffte, seine Band einzuholen, und am selben Abend ins Mikrofon bellte, als wäre nichts gewesen. Bei mir selbst jedoch hat jedes vermisste Kind, das sich in meiner Obhut befand, ein kleines Trauma ausgelöst. Daher möchte ich Folgendes noch einmal schriftlich festhalten:
Die nun folgenden Texte beruhen auf wahren Ereignissen. Alle hier beschriebenen Handlungen und Dialoge haben sich genau so abgespielt. Gegendarstellungen und Beanstandungen nimmt der Autor gern entgegen. Er wird aber so oder so nicht von seiner Meinung über den Verlauf dieser Geschichte abweichen. Sein Erinnerungsvermögen mag ihn hin und wieder im Stich lassen, die hier geschilderten Erlebnisse haben ihn jedoch in einer solchen Art und Weise bewegt, schockiert und geprägt, dass sie sich unwiderruflich in sein Gedächtnis eingebrannt haben.
Noch nach über zwanzig Jahren schreckt der Autor dieser Zeilen des Nachts aus dem Schlaf hoch, verfolgt von den damaligen Geschehnissen, die ihn in seinen Träumen heimsuchen. Mit dem Niederschreiben der traumatischen Geschichten versucht er nun, endlich die Geister von gestern zu bannen und mit der Vergangenheit seinen Frieden zu machen. Die Namen aller Beteiligten wurden geändert, um den Persönlichkeitsschutz zu gewährleisten. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind jedoch beabsichtigt.
Hier ist sein Bericht.
Das spurlose Verschwinden des stillen Osim
Es war einer jener schwierigen Vormittage. Ich hatte morgens nur widerwillig das Haus verlassen. Zu sehr steckte mir noch der gesellige Vorabend mit ein paar Freunden in den Knochen. Aber im Kindergarten-Business ist es nun mal egal, wie es dir als Erzieher geht. Du kannst es dir nicht erlauben, für ein paar Stunden fünfe grade sein zu lassen und den Betrieb so ein wenig dahinplätschern zu lassen. Schlussendlich fällt alles auf dich zurück. Der Bäcker hingegen kann auch mal weniger schwungvoll die Hörnchen biegen, die Programmiererin eine halbe Stunde nur den Bildschirmschoner anstarren, der Polizist in der Asservatenkammer aufräumen. Sogar der Lehrer kann hin und wieder »Hefte raus!« proklamieren und einen Aufsatz schreiben lassen, um nach einem etwas härteren Vorabend wieder in die Spur zu kommen. Davon wird die Welt nicht untergehen.
Eine ganz andere Sache ist es, wenn man eine Bande Fünfjähriger in Zaum halten soll. Das Kindergartenkind kann es förmlich wittern, wenn du deine Aufsichtspflicht aus energiehaushaltstechnischen Gründen nicht konzentriert wahrnehmen kannst. Es merkt sofort, wenn die Zügel etwas durchhängen, und lässt diese Gelegenheit nicht ungenutzt. Ehe man es sich versieht, steht da...