Sternstunde
An einem Sonntag im April der 40er-Jahre, mitten im Krieg, um genau 23 Uhr und 55 Minuten kam Ella schreiend im schönen Rheinland zwischen Rhein und Sieg auf die Welt. Sie hat so laut gerufen »Hier bin ich!«, dass ihr Leben fortan wie ein Kaleidoskop schicksalhaft, chaotisch und bunt war. Sie wurde auf einen gewundenen Weg geschickt. Großvater Ferdinand und sein »Kollege« Josef waren über ein Mädchen zunächst enttäuscht, aber dann überraschten sie die Kleine mit fünf Namen, einer schöner als der andere, besonders schön war Ella als Erinnerung an die schon verstorbene Großmutter väterlicherseits, die unglücklicherweise 1935 beim Versuch, die Vorratskammer aufzusuchen, die Kellerstiege heruntergestürzt war. Das war ihr persönliches kleines Schicksal, durch das ihr aber viel Schlimmes erspart geblieben war. Und wahrscheinlich nicht nur ihr. Doch Ella will sich nun selbst erinnern und erzählen …
Die erste Musik, die ich hörte, war Mozarts »Kleine Nachtmusik« von einer Schellackplatte auf einem alten Grammophon mit großem Trichter, das von Opa Josef gerettet werden konnte. Mozart sollte mich fortan in meinem Leben immer begleiten. Wann immer Musik heimlich erklang, tobte draußen der Schrecken des Krieges. Und er erklang dort, wohin der Krieg die Familie gebracht hatte: in einer Holzbaracke, das Haus der Großeltern gab es nicht mehr.
Die Baracke bestand eigentlich nur aus einem Zimmer, aber meine Mama Frieda war praktisch veranlagt und trennte den Raum mit einer Bretterwand, sodass zwei Räume entstanden: eine Wohnküche und ein Schlafraum. Der Herd in der Wohnküche heizte die Räume und war gleichzeitig Kochstelle. Sie hatte ihn gegen einen Anzug aus guter Kaschmirwolle eingetauscht, den ihr Ehemann von einer Asienreise mitgebracht hatte und jetzt nicht mehr brauchte, da er ja eine Uniform bekommen hatte, und die sogar umsonst.
Im Schlafraum standen zwei Betten von 1,00 x 2,00 m, dazwischen stand ein Schrank von 1,50 m, das war’s. Also war der Raum gerade mal 3,50 x 2,00 m und die Wohnküche 3,50 x 3,00 m groß mit je einem Fenster und einer einzigen Tür nach draußen. Der jungen Familie standen somit noch nicht einmal 18,00 m2 zur Verfügung. Trotzdem hatten wir ein Zuhause, ein Dach über dem Kopf. Die Holzbaracke war unser Nest und bot viel Nestwärme.
Opa Josef trennte den Hof vor unserem Barackeneingang mit einem Zaun ab, sodass wir einen eigenen Spielplatz hatten mit Schaukel und Kindermobiliar aus besseren Zeiten. Das Mobiliar – Tischchen, Stühlchen, Bank – und anderes Spielzeug wurde an schönen Tagen rausgestellt, die übrige Zeit befand es sich in einem Schuppen, denn in der Wohnung war kein Platz. Kinder aus der Nachbarschaft schauten oft durch den Zaun. Ob sie manchmal mitspielen durften, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Sicher haben sie uns beneidet. Ich kann sie nicht mehr fragen.
Da Vater Willi sich bereits im Krieg befand und in Rommels Armee versuchte, das Deutsche Reich noch größer zu machen, »von der Etsch bis an den Belt«, hatte jeder ein Bett für sich. Nach seinem Besuch der kleinen Familie sollte sich ein Jahr später ein zweites Kind einstellen, ein Junge. Er wurde Wilfried genannt, eine Verschmelzung von Wilhelm und Frieda. Sohni war sein Kosename, ein Sonnyboy. Fortan mussten wir zwei Kleinen uns ein Bett teilen. Das war im Winter schön warm. Besonders dann, wenn die Fenster mit Eisblumen verziert waren und wir nicht mehr rausschauen konnten. Oft hingen auch Eiszapfen an der Dachrinne. Eisblumen an Fensterscheiben kennt man heute gar nicht mehr, eigentlich schade. Eine Toilette gab es nicht, aber Töpfchen für die Kleinen, im Baracken-Milieu oft auch Pisspott genannt, und einige Meter vom »Haus» entfernt ein Plumpsklo mit in Stückchen gerissenem Zeitungspapier, das auf einem rostigen Nagel steckte. An sonnigen Tagen habe ich als Schulkind dieses Plumpsklo aufgesucht und oft gedacht, dass ein Kind durch das Loch fallen könnte – wie furchtbar. In einer späteren Zeit, als die Vergangenheit aufgearbeitet wurde, sah ich einen Film, der in Polen spielte. Dort hatten sich Kinder vor dem Abtransport ins Vernichtungslager in so einer Jauchegrube versteckt. Erst in der Dunkelheit verließen sie das Versteck wieder. Was müssen diese armen Kinder ausgestanden haben? Aber es sind wohl einige gerettet worden, denn sonst hätten sie dieses Erlebnis nicht weitererzählen können. Die Hölle auf Erden. Einmal im Jahr wurde die Jauchegrube abgepumpt und als Dünger auf die Felder geleert. Es stank fürchterlich und förderte Wurmerkrankungen, besonders bei Kindern. Ich war einmal davon betroffen.
Das Wasser mussten wir an einer Pumpe holen, aber es war sauber und trinkbar. Eine Lampe hatten wir auch an der Decke, immerhin. So viel Luxus haben die Leute in der Dritten Welt heute immer noch nicht.
Kinder trinken aus kleinen Flaschen mit einem Sauger. In den Kriegsjahren war es nötig, solche Dinge zu beantragen und bei Abholung im Familienbuch registrieren zu lassen. Allein das amtlich verfügte Familienbuch hatte schon 60 Reichspfennige gekostet. Vorschrift ist Vorschrift. Und dann das noch: »Ein Sauger erhalten am 7. 5., Lebensmittel – Drogerie Gehlen.« Das war für Mutti Grund genug, nie wieder irgendetwas zu beantragen, das Familienbuch hätte zudem verraten können, dass wir leider nicht ganz arisch waren. Der Arier-Nachweis fehlte. Großmutter Ella war Jüdin mosaischen Glaubens, aus der Gruppe der Aschkenasim, und Deutsche. Sie lebte zwar nicht mehr, aber auch als Tote hätte sie alle in Gefahr bringen können.
1942, Sauger, Erhalt musste im Stammbuch notiert werden.
Es gibt so viele Dinge, die ein Säugling braucht, ohne Hightech kommt ein Kind heute gar nicht mehr zurecht. Und wenn eine Familie da nicht mithalten kann, spricht man von Kinderarmut. Das Wort gab es damals noch nicht. Es lag vielleicht daran, dass alle arm waren, nicht nur die Kinder.
In den 40er-Jahren waren die Menschen froh, wenn sie nachts durchschlafen konnten und nicht in den feuchten Erdbunker mussten, wo gelegentlich die Ratten auf den Holzstreben entlangliefen. Aber Ratten sind auch Tiere, sie werden heute sogar als Haustiere und Schmusetierchen gehalten. Damals landeten sie gelegentlich auch im Kochtopf, ebenso Katzen. Das weiß ich genau, weil im Karneval oft gesungen wurde: »Die Wienands han nen Has im Pott, miau, miau, miau.« Das Lied war von Willi Ostermann, den Opa Josef sehr verehrte. Herr Ostermann wusste genau, wie es damals war.
Es war eine aufregende Zeit, niemand wusste, was der nächste Tag bringt. Um bei Fliegeralarm keine wertvolle Zeit zu verlieren, wurden wir Kinder abends angekleidet ins Bett gebracht, nur Schuhe und Mütze lagen nebenan. Gab es dann Alarm, wurden wir zwei aus dem Bett gerissen, aus dem Schlaf sowieso, Schuhe an, Mütze auf den Kopf und dann raus in den Erdbunker, eigentlich Erdstollen. Ich an Muttis und Sohni an Oma Berthas Hand. Für jeden Erwachsenen stand dort ein Stuhl, die Kinder wurden auf den Schoß genommen. Dann hieß es stundenlang Ruhe bewahren und abwarten. Abwarten und Tee trinken ging nicht, Tee hatten wir ja nicht.
Dann kam eine Masernwelle und auch ich und Sohni wurden krank. Ich wurde fiebernd in Decken eingepackt und auf zwei Stühle gelegt, wenn die Erwachsenen nach draußen mussten, um etwas Essbares zu besorgen und nachzusehen, was passiert war. Die kräftigsten Kinder packten die Masern gut, ich packte sie nicht so gut und als später noch eine Keuchhusten-Epidemie grassierte, geschah es: Ich bekam durch das ständige Husten einen Lungenriss. Das hatte gerade noch gefehlt. Der Lungenriss sollte meine ganze Kindheit, ja, mein ganzes Leben beeinflussen. Deshalb wurde ich auf dem Gebiet der Medizin fast zur Expertin. Ich hustete und hustete, die anderen hielten Abstand. Hätte es damals schon das Guinness-Buch der Rekorde gegeben, ich hätte an der Spitze gestanden. Wer hustet, dem ist mit Vorsicht zu begegnen, man könnte sich ja anstecken. Krankheiten wie Tuberkulose und Schwindsucht waren allgemein bekannt, auch bei denen, die nicht lesen konnten. Wie sich das äußert und zu Ende geht, wusste jeder. Das arme Kind.
Trotz allem war ich ein aufgewecktes Kind, doch auch sehr ruhig, für mein Alter viel zu nachdenklich, aber immer hilfsbereit, voller Ideen, und hatte angeblich einen scharfen Verstand. Den späteren Humor hatte ich wohl vom Papa geerbt, die deutsche Disziplin von Opa Ferdi und meine Liebe zu Büchern und mein Kunstinteresse von Mutti. Ich war naturverbunden, liebte alle Blumen und Pflanzen. Tiere weniger, die stinken, machen Dreck und sind gefährlich, wie ich dachte. Ich wusste, dass ich hübsch war, das hatten andere oft genug gesagt, um mich zu trösten, natürlich. Ich hatte schöne kastanienbraune Haare wie Oma Ella und Mutti, das bewunderte Opa Ferdi oft und strich mir dann übers Haar. Es kam, wie es kommen musste, ich entwickelte mich zur Einzelgängerin oder vielmehr zur »Solistin« und wurde früh selbständig. Eigentlich sollte ja jeder alleine gehen können, aber bei mir war es auffallend und früh. Alles wurde hinterfragt, musste hinterfragt werden.
Im Sommer 1944...