Einführung
In dieser Arbeit liegt der Schwerpunkt auf Traumatisierungen durch sexuellen Kindesmißbrauch (speziell der innerfamiliäre Mißbrauch). Fischer (1998, S.260) vergleicht den sexuellen Mißbrauch mit der aggressiven Mißhandlung und der Vernachlässigung von Kindern. Er bezeichnet den mißbräuchlichen Umgang mit Kindern als Verhaltensweisen der „Bindungsfiguren“, die nicht auf die Entwicklungsbedürfnisse des Kindes abgestimmt sind, sondern primär der Bedürfnisbefriedigung der Erwachsenen dienen. Aus seiner Sicht ist der emotionale „Kindesmißbrauch“ der am häufigsten vorkommende, aber gleichzeitig der am schwierigsten zu objektivierende Mißbrauch. Für Fischer geht jedem sexuellen Kindesmißbrauch ein Beziehungs- und/oder Orientierungstrauma voraus, das zu traumatischen Beziehungsverzerrungen aufgrund langanhaltender, unangemessener Beziehungserfahrungen führt. Die basalen Orientierungsbedürfnisse des Kindes (Orientierungsschema wie freundlich/unfreundlich, sicher/unsicher, sozial erwünscht/unerwünscht) werden beeinträchtigt und durch die Verwirrung dieser Schemata bricht beim Kind die logische Orientierung zusammen. Diese spezifischen Kennzeichen finden sich in den Erfahrungen von den in der Kindheit sexuell mißbrauchten Frauen wieder.
Die zahlreichen Symptome posttraumatischer Störungen werden in drei Hauptkategorien unterteilt:
Übererregung (ständige Erwartung einer Gefahr),
Intrusion (die unauslöschliche Prägung durch das traumatische Geschehen, das sich zu ungewollt aufdrängenden Erinnerungen und Gedanken an das traumatische Ereignis verselbständigt) und
Konstriktion (psychische Erstarrung, emotionale Anästhesie und Vermeidung von Situationen, die als bedrohlich empfunden werden).
Ein weiteres wichtiges Symptom ist der unbewußte Wiederholungszwang, bei dem betroffene Menschen eine traumatische Erfahrung wiedererleben.
Das Selbstschutzsystem des Menschen scheint sich nach einem traumatischen Ereignis in einem ständigen Alarmzustand zu befinden, dazu gehört: leichtes Erschrecken, überschießende Reaktion auf geringfügigen Ärger und Schlafstörungen. Bereits Kardiner und Spiegel beobachteten diese Symptome bei Kriegsveteranen des Ersten Weltkrieges und erklärten sie als Folge der chronischen Erregung des vegetativen Nervensystems. Studien bestätigen, wie unter Punkt 2.1.4 dargestellt, daß die psychophysiologischen Veränderungen bei posttraumatischen Belastungsstörungen weitreichend und langanhaltend sind. Traumatische Ereignisse verändern offenkundig das menschliche Nervensystem tiefgreifend (Traumatisierte reagieren extrem schreckhaft auf unerwartete und vor allem spezifische Reize, die mit dem traumatischen Ereignis in Verbindung stehen. Sie leiden unter allgemeinen Angstsymptomen und es fehlt ihnen das normale Grundniveau wacher, aber entspannter Aufmerksamkeit).
Auch Fischer (1998, S. 37) bezieht sich auf die Untersuchungen von Kardiner,
der von der traumatischen Neurose als einer „Physioneurose"“sprach (für ihn
eine Form des Anpassungs- und Bewältigungsversuches). Er wies daraufhin,
„daß es wichtig sei, den Sinn hinter den Symptomen zu entdecken, um die Folgeerscheinungen zu verstehen.“
Intrusionen sind für Traumatisierte sich plötzlich aufdrängende Erinnerungen, in denen das ursprüngliche Ereignis mit aller emotionaler Gewalt wiederkehrt und sie es so erleben, als ob es gerade geschähe. Angestoßen durch meist visuelle Abläufe (alte Filme von traumatischen Erfahrungen) oder oft auch akustische, olfaktorische oder kinästhetisch-sensorische Erinnerungsfragmente befinden sich die Menschen urplötzlich in dissoziativen Zuständen, den „flash backs“ von Depersonalisation
und Derealisation, sie stehen sozusagen neben sich.
Über die Besonderheiten der traumatischen Erinnerungen führt Herman aus
(1993, S. 59):
„Anders als die gewöhnlichen Erinnerungen von erwachsenen Menschen sind
sie nicht als verbale, lineare Erzählung gespeichert, die Teil einer fortlaufenden Lebensgeschichte wird ... Verbale, zusammenhängende Erzählungen fehlen bei traumatischen Erinnerungen; statt dessen sind sie in Form intensiver Gefühle
und deutlicher Bilder gespeichert.“
Das Wort „Konstriktion“ wird im Duden medizinisch als
a) Zusammenziehung (von einem Muskel)
b) das Abbinden von Blutgefäßen
erklärt und bezeichnet in der symbolischen Übersetzung (vor Angst erstarrt sein,
das Blut stockt vor Angst) die Erstarrung und Versteinerung des Opfers in der traumatischen Situation. Wo in der realen Situation keine Möglichkeit der Flucht besteht, flieht der Betroffene durch eine Veränderung des Bewußtseinszustands.
Herman (1993, S. 66) beschreibt diese Bewußtseinsveränderungen:
„Eine unausweichliche Gefahrensituation löst manchmal nicht nur Angst und Wut aus, sondern paradoxerweise auch eine distanzierte Ruhe, mit der Angst, Wut und Schmerz verschwinden. Die Ereignisse dringen zwar weiter ins Bewußtsein, aber scheinbar losgelöst von ihrer üblichen Bedeutung. Die Wahrnehmung ist möglicherweise eingeschränkt oder verzerrt, das Schmerzempfinden kann teilweise verlorengehen, bestimmte Sinneseindrücke werden nicht mehr registriert. Das Zeitgefühl kann verändert sein, oft wird das Ereignis wie in Zeitlupe erlebt, und die Erfahrung scheint für den Betroffenen in keinem Zusammenhang zur gewöhnlichen Realität zu stehen. Vielleicht kommt es dem Opfer so vor, als wäre es von dem Ereignis gar nicht selbst betroffen, als stünde es außerhalb seines Körpers und schaute nur zu, als wäre die Erfahrung ein schlechter Traum, aus dem es bald erwacht. Die Wahrnehmungsveränderungen gehen mit Gleichgültigkeit, emotionaler Distanz und völliger Passivität einher, das Opfer gibt jede Initiative und Kampfbereitschaft auf.“
Vergewaltigungsopfer beschreiben dieses Gefühl der Distanziertheit oft so,
daß sie ihren Körper verließen und dem Geschehen von außen zuschauten.
Diese Bewußtseinszustände werden mit der hypnotischen Trance verglichen,
die im Falle der Traumatisierung allerdings unkontrolliert und gewöhnlich
ohne bewußte Entscheidung eintritt.
Der konstriktive Prozeß hält traumatische Erinnerungen vom normalen
Bewußtsein fern. Dadurch besteht die Auflösung des Zusammenhangs zwischen Ereignis und Bedeutung und die verzerrte Realitätswahrnehmung fort.
Gefühle von großer Distanziertheit, Lähmung und Nichtzugehörigkeit beherrschen die innere Leere von Traumatisierten.
Die konstriktiven Symptome sind ein (unbewußter) Versuch, sich vor den übermächtigen Gefühlen zu schützen und bedingen doch gleichzeitig, den Auswirkungen des traumatischen Ereignisses verhaftet zu bleiben.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf zwei Filme aufmerksam machen,
die diese Prozesse szenisch außerordentlich gut dargestellt haben:
1. „Der Soldat James Ryan“ von Steven Spielberg
Der Moment, in dem die amerikanischen Landungstruppen an der französischen Küste auflaufen und im (nicht erwarteten) Gewehrfeuer an den Strand laufen – dargestellt im Zeitlupentempo und bruchstückhafter szenischer Einblendung entsetzlichster Kriegsbilder (getötete und schwerstverletzte Menschen) - macht durch die Art der filmischen Darstellung aus meiner Sicht sehr deutlich, wie ein Mensch auf allen Ebenen seines Seins von einem solchen Trauma überwältigt
wird und zeigt gerade auch in diesen Bild- und Tonfetzen, wie die Wahrnehmung überschwemmt wird und es in der Folge zu dissozierten Erinnerungsfragmenten kommen kann.
2. „Fearless – Jenseits der Angst“
Der Film handelt von Überlebenden eines Flugzeugabsturzes...