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E-Book

Praxis des Mentalisierens

Mit einem Vorwort von Anthony W. Bateman

AutorHolger Kirsch, Josef Brockmann, Svenja Taubner
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl295 Seiten
ISBN9783608109689
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis37,99 EUR
Dieses Grundlagenbuch schildert die Vorgehensweise in der ambulanten Therapie. Die Basics der Behandlung werden ebenso erklärt wie Diagnostik, Rahmenbedingungen und Interventionsmöglichkeiten. Anhand von ausführlichen Fallbeispielen erläutern die Autoren, wie das Mentalisieren als Behandlungskonzept in der Praxis umgesetzt werden kann. Dabei werden Kommunikationssequenzen aus Therapieverläufen wiedergegeben. Die Fallbeispiele beziehen sich u. a. auf • die Arbeit mit depressiven Patienten, • strukturell wenig integrierte Patienten, die zum Beispiel zu intensiven emotionalen Stressreaktionen neigen, • die Therapie von Traumafolgestörungen, • die Besonderheiten der Behandlung von Jugendlichen. Die lebendige Beschreibung der Sequenzen und Fallbeispiele schlägt die Brücke zwischen Theorie und Praxis und zeigt, wie Mentalisieren in der eigenen Praxis angewandt werden kann. • Berücksichtigt Fonagys Weiterentwicklung des Mentalisierungskonzeptes • Enthält Fallbeispiele zu den wichtigsten Störungsbildern • Enthält wörtliche Wiedergabe von Kommunikationssequenzen Dieses Buch richtet sich an: - Alle, die in der ambulanten Psychotherapie praktisch mit diesem neuen Verfahren arbeiten

Josef Brockmann, Dr. phil., ist Psychoanalytiker, Lehranalytiker und seit 1988 niedergelassen als Psychotherapeut und Psychoanalytiker in Frankfurt. Seit 2008 Fortbildung in Mentalisierungsbasierter Therapie am Anna-Freud-Institut London bei Bateman und Fonagy.

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Leseprobe

Kapitel 1


Das Mentalisierungskonzept


1.1 Was heißt mentalisieren?


Mentalisierung meint die Fähigkeit, Gedanken, Gefühle, Absichten – also die innere psychische Welt – bei sich und anderen wahrzunehmen und zu differenzieren. Wir mentalisieren explizit, wenn wir uns bewusst werden und in Worte fassen, was in uns selbst oder in einem anderen Menschen vorgeht. Implizit mentalisierend interpretieren wir automatisch das Verhalten von uns und anderen. Dabei gelingt es uns von Situation zu Situation besser oder schlechter, die inneren Welten einzuschätzen.2

Die Fähigkeit zu mentalisieren hängt nicht nur von der aktuellen Beziehung zu der anderen Person und vom Stresspegel ab, auch können es Menschen unterschiedlich gut. Das Erkennen des mimischen Ausdrucks von Emotionen hat dabei eine wichtige Bedeutung für die Verständigung. Insbesondere in wichtigen Beziehungen vermittelt Mentalisieren Sicherheit, die Gefühlslage und Motive des anderen einigermaßen einschätzen zu können. Da wir die innere Welt unserer Mitmenschen immer nur annäherungsweise und ungenau erfassen können, entstehen manchmal Missverständnisse. Je schlechter wir die Welt unserer Mitmenschen (und unsere eigene) erfassen können und je weniger wir um unsere Fehlinterpretationen wissen, umso häufiger entstehen Missverständnisse. Auf der Basis falscher Annahmen zu reagieren erzeugt Konfusion. Sich missverstanden zu fühlen erzeugt wiederum heftige Gefühle, die zu Rückzug, kontrollierendem Verhalten oder Zurückweisung führen können.

Gelingendes Mentalisieren zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: Genauigkeit und Einfallsreichtum. Genau mentalisieren heißt, die anderen so zu sehen, wie sie sind und ebenso sich selbst so zu sehen, wie man ist. Wir müssen uns in den anderen hineinversetzen, die Welt mit seinen Augen sehen, dazu braucht es Phantasie. Aber das ist eine unsichere Sache. Zum Beispiel dann, wenn man sehr selbstkritisch ist, mag man fälschlicherweise annehmen, dass der andere es einem selbst gegenüber auch ist. Mentalisieren ist dann gelungen, wenn die Phantasie mit der Realität verbunden bleibt. Der Reichtum des Mentalisierens bezieht sich auf die Anerkennung und Herausarbeitung verschiedener Perspektiven. Wenn eine Aussage im Ton der Gewissheit getroffen wird, wie etwa: »Dieser Patient ist narzisstisch«, ist das Mentalisieren meist am Ende.

Mentalisieren versetzt uns in die Lage, uns von impulsivem, zerstörerischem oder selbstzerstörerischem Verhalten distanzieren zu können, zu reflektieren anstatt zu handeln – z. B. die Wut zu spüren, sie wahrzunehmen, sie zu beobachten und nicht gleich »draufzuhauen«. Im Sprachgebrauch des mentalisierungsbasierten Therapieansatzes nennt sich dieses Vorgehen »den Pausenknopf drücken«. Den Pausenknopf zu drücken ist dann hilfreich, wenn Konflikte durch heftige Affekte nicht mehr verstanden und nicht mehr mentalisiert werden können.

  • Mentalisieren ist eine kognitive und emotionale Leistung, die intersubjektiv erworben wird. Das Kind erkennt sich nicht aus sich selbst heraus, sondern nur durch den anderen.

  • Die Fähigkeit zu mentalisieren ist weitgehend vorbewusst oder implizit, sie ist eine psychische Leistung, die dem eigenen Verhalten und dem anderer einen Sinn gibt. Sie ermöglicht Denken als Probehandeln sowie Impulskontrolle und Affektregulation.

  • Die Fähigkeit zu mentalisieren entwickelt sich in der Kindheit bis zur Adoleszenz. Die Entwicklung ist abhängig von der Qualität der Beziehungserfahrungen, der Bindung und dem affektiven Austausch mit den ersten Bezugspersonen (Köhler 2004).

Wie macht sich gelingendes Mentalisieren bemerkbar?

Eine mentalisierende Person weiß, dass die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen andere beeinflussen und umgekehrt. Interessierte Offenheit und eine Haltung des Nicht-Wissens kennzeichnen gelingende Mentalisierung, d. h. jemand ist an den Gedanken und Gefühlen der anderen interessiert und respektiert deren Perspektiven. Er oder sie ist sich bewusst, dass das eigene Verständnis mithilfe der anderen erweitert und bereichert werden kann. Perspektivenübernahme, ebenfalls ein Zeichen einer mentalisierenden Haltung, ist gekennzeichnet durch die Annahme, dass ein Phänomen oder ein Prozess von verschiedenen Personen unterschiedlich gesehen werden kann und dass dies von den jeweils eigenen Erfahrungen abhängt (Asen & Fonagy 2015).

Gelingendes Mentalisieren vermittelt Sinn und Bedeutung in Beziehungen; es ermöglicht Nähe, sich verstanden fühlen und liebevollen Humor. Die Gedanken und Gefühle der anderen werden berücksichtigt und respektiert und es ermöglicht ein Verständnis dafür, dass Verhalten immer motiviert ist und nicht etwas ist, was einem einfach so geschieht (Fearon et al. 2009).

Mentalisieren gilt als eine Fähigkeit, die uns oft dann fehlt, wenn wir sie am meisten brauchen (bei Müdigkeit, Zeitnot, Schmerzen oder äußeren Belastungen). Des Weiteren können Bindung, Stress, Misshandlung, Missbrauch, traumatische Ereignisse und psychische Störungen die Mentalisierungsfähigkeit beeinträchtigen (Haslam-Hopwood et al. 2009). Ebenso beeinflusst die Mentalisierungsfähigkeit des Gegenübers die eigene Mentalisierungsfähigkeit. Diese ist also nicht alleine eine intrapsychische Fähigkeit oder eine Persönlichkeitsmerkmal, sie ist ebenso ein interaktionelles Merkmal (Luyten et al. 2015a).

1.2 Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit


1.2.1 Bindung

Die entwicklungspsychologischen Grundlagen des Mentalisierungskonzepts von Fonagy und Kollegen sind eng verbunden mit den Erkenntnissen Bowlbys, der Bindungsmuster und ihre Bedeutung für die weitere Entwicklung erforschte (Bowlby 1969, 1973). Eine Überarbeitung der Bindungstheorie, so wie sie Fonagy, Target und Kollegen unternahmen, führt jedoch zu komplexeren Annahmen über die Entwicklung des Selbst und der inneren Repräsentanzen. Sie schließt Phantasien, Motive und Emotionen explizit mit ein und nähert sich so den klinischen psychoanalytischen Konzepten an. Unter dem Blickwinkel des Mentalisierungskonzepts wird Bindung nicht nur als angeborenes Verhaltenssystem betrachtet, sondern dient als Rahmen der Entwicklung eines inneren Repräsentationssystems, welches für die Entwicklung des Selbst, für die Regulierung von Affekten sowie für das Gelingen von sozialen Beziehungen wesentlich ist (Taubner 2008b: 93).

Fonagy (2003) fasst zentrale Merkmale der Bindungstheorie zusammen. Auf der Grundlage der Beobachtung des realen Verhaltens von Säuglingen und Bezugspersonen ist ein von allen anderen Trieben und Bedürfnissen unabhängiges Bindungsbedürfnis anzunehmen, dessen Schicksal für die psychische Entwicklung von zentraler Bedeutung ist.

Die Bindungsstrategien, die sich ein Kind aneignet, geben Hinweise auf die Qualität der Aufmerksamkeit, die dessen Betreuungspersonen seinen mentalen Zuständen gewidmet hat (Fonagy et al. 2015: 31). Von der Fähigkeit der Mutter zur Selbstreflexion hängt es ab, ob sich das Kind als Person mit Absichten, Gefühlen und Wünschen erleben kann. Diese Fähigkeit wird durch elterliche Phantasien, die sich auf das Kind beziehen sowie durch Belastungen und Stress beeinflusst. Ärger, Sorgen (z. B. Partnerschaftsprobleme oder prekäre Lebenslagen) stellen eine Art Filter dar, der die Wahrnehmung und Interpretation kindlicher Signale verzerrt. Die Kompetenz zur Selbstreflexion wirkt als Resilienz-Faktor und verhindert die intergenerationelle Weitergabe von unsicherer Bindung, z. B. durch die Art und Häufigkeit der Erwähnung innerer Befindlichkeiten (Mertens 2012).

Zu den Ergebnissen der Bindungsforschung gehört, dass eine standardisierte Beobachtungstechnik, der »Fremde-Situation-Test«, bereits zwischen dem 12. und 18. Lebensmonat Rückschlüsse auf die Qualität der Erfahrungen des Kindes mit seinen Bezugspersonen erlaubt (Ainsworth et al. 1978).3 Abhängig von den Beziehungserfahrungen mit den wichtigsten Bezugspersonen entwickeln sich ab dem siebten Lebensmonat spezifische Bindungsmuster. Ist das Verhalten der ...

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