1. Yoga
Wenn Sie unter den Folgen eines Traumas leiden, suchen Sie vielleicht schon lange Wege, wie Sie sich im Alltag besser entspannen sowie Ihre Gefühle und Körperreaktionen kontrollieren können. Sie möchten also bereits den Beginn eines Erregungszustands bemerken und eingreifen können, bevor Sie sich überwältigt fühlen. Yoga kann helfen, diese Ziele zu erreichen, da sich die Yogis seit jeher mit den Zusammenhängen zwischen Atmung, Körperhaltungen und inneren Befindlichkeiten auseinandergesetzt haben. Sie wussten, dass Gedanken und Worte alleine nicht helfen, Zustände hoher Erregung zu dämpfen. Durch intensives Beobachten und Erforschen lernten sie, dass unser körperlicher Ausdruck unsere Stimmungslage beeinflusst, und sie entwickelten Haltungen und Atemübungen, die einen gezielten Einsatz dieses Wissens ermöglichen. Indem sie über die Biologie unseres Körpers reflektierten, sie erforschten und positiv zu beeinflussen suchten, entwickelten sie probate Mittel zur Affektregulierung. Die alten Yogis wurden zu echten Meistern, Körper und Atem zur Beruhigung des Geists und der Emotionen einzusetzen, um immer wieder ins Hier und Jetzt zu kommen. Auf den folgenden Seiten lade ich Sie ein, die Konzepte, Werkzeuge und Ziele von Yoga kennenzulernen.
Was ist Yoga? Sucht man nach dem Wortstamm, findet man Begriffe wie „verbinden“, „zusammenfügen“, „vereinigen“. Was soll miteinander verbunden werden? Aus spiritueller Perspektive drückt der Begriff die Verbindung des individuellen mit dem universellen Bewusstsein aus. Sehen wir es eher praktisch, so bringt Yoga unseren Körper, unseren Geist und unsere Emotionen ins Gleichgewicht. Yoga unterstützt gemäß des obigen Sutras die Ausgewogenheit aller körperlichen Funktionen und Vorgänge und wirkt sich, bei regelmäßiger Übung, ausgleichend auf mentale, körperliche und emotionale Bereiche aus.
Die mehr als 2000 Jahre alte Geschichte des Yoga kennt eine Vielfalt an Yogalehrweisen. Die einen bevorzugen körperliches, andere geistiges Üben. Wieder andere sind eher religiös gefärbt oder betonen das Üben in unseren alltäglichen Handlungen. Alle Richtungen jedoch verfolgen dasselbe Ziel, die Bewusstheit der Menschen zu fördern (Wolz-Gottwald 2013).
1.1 Ein kurzer Ausflug in die Yogaphilosophie
Wollen wir noch ein wenig genauer wissen, was Yoga ist, empfiehlt es sich, den bekanntesten Grundlagentext zurate zu ziehen, der Patanjali (2010) zugeschrieben wird. Dort wird Yoga wie folgt definiert: „citta vritti nirodhah“, was übersetzt heißt: „Yoga ist jener innere Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen.“ Der Schlüssel zu innerer Ruhe und Gelassenheit ist Achtsamkeit oder achtsames Gewahrsein, das uns erlaubt, unsere Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Gewohnheiten und Einstellungen zu erkennen. Stetes Üben von Innehalten und Beobachten führt allmählich zu einem Gefühl geistiger und körperlicher Präsenz. Das reine Beobachten dessen, was in uns vorgeht, ohne dem inneren Diktat zu unterliegen, darauf zu reagieren, verleiht uns ein Gefühl der Selbstwirksamkeit.
Untersuchen wir nun, was die einzelnen Begriffe des Sutras bedeuten. Citta kann man am besten mit „Geist“ übersetzen. Er geht über den Begriff des Verstands hinaus. Gemeint ist jener Bereich unserer Wahrnehmungen, Erinnerungen, Gedanken, Gefühle und inneren Bilder, der von unseren Erlebnissen geprägt und strukturiert wurde und wird. Unser Geist, das wissen wir aus Erfahrung, ist von Natur aus alles andere als ruhig. Unsere Gedanken lassen sich von äußeren wie inneren Reizen leicht ablenken und sind ständig in Bewegung oder im Grübeln verfangen. Eingefahrene, sich wiederholende Gedankenmuster führen, weil wir sie selten hinterfragen, zu Starrheit im Denken und Verhalten. Geschieht etwas, das nicht in diese mentalen Muster passt, ist unser Geist sofort wieder unruhig (vgl. Trökes & Knothe 2014, Siegel 2007, Wolz-Gottwald 2013).
Vritti heißt so viel wie „wählen, vorziehen“. Damit gibt uns Patanjali gleich eine Begründung für das Vagabundieren unseres unruhigen Geistes. Um wählen zu können, müssen wir zunächst eine Bewertung vornehmen, was der Natur unseres Gehirns entspricht. Es bewertet die einströmenden Reize, prüft, ob sie eine Bedeutung für uns haben, und wenn ja, teilt es sie in unangenehm oder angenehm, bedrohlich oder sicher ein. Diese Wertungen beruhen auf unseren unbewussten bewussten Prägungen, im Yoga Samskaras genannt. Trökes schreibt hierzu: „Es sind Erinnerungen, die uns einen derart tiefen oder andauernden Ein-Druck gemacht haben, dass sie uns dadurch im wahrsten Sinne des Wortes prägen konnten, sodass wir zu dem wurden, die oder der wir sind“ (Trökes & Knothe 2014, S. 50). Unsere Samskaras oder Prägungen bestimmen unser Weltbild, unsere Gedanken, aber auch unsere Körperhaltung, unsere Körpersprache und unser Verhalten.
Mit citta vritti ist also unser unruhiges, von Prägungen gesteuertes Alltagsbewusstsein gemeint, das viel Leid in unserem Leben verursacht. Yoga weist uns Wege, auf denen es uns durch stetiges Üben von achtsamem, nicht wertendem Gewahrsein gelingt, uns von unseren Prägungen zu lösen. Wolz-Gottwald schreibt hierzu: „Die Wahrnehmung der Samskaras fördert ihre Auflösung, sodass der Yogi weiter in tiefere Schichten des Geistes vorzudringen vermag“ (2013, S. 116).
Yoga als Weg der Befreiung bietet uns Übungen, die uns helfen, zur Ruhe zu kommen, sodass wir durch eine nicht wertende Achtsamkeitspraxis unsere Prägungen erkennen und uns allmählich von unseren eingefahrenen Mustern lösen können. Nirodhah bedeutet zur Ruhe kommen von allem Tun, Denken und Vorstellen – ein beobachtendes, nicht wertendes Gewahrsein. Das Sutra am Anfang des Kapitels beschreibt diesen Prozess: „Das Zur-Ruhe-Kommen der seelisch-geistigen Vorgänge erlangt man durch ‚Übung‘ und ‚Loslösung‘. Die intensive Bemühung um diesen Ruhezustand ist die Übung.“
1.2 Yoga heute
War Yoga ursprünglich ein spiritueller Weg, nur wenigen auserwählten Männern vorbehalten, steht es heute allen offen. Überall auf der Welt praktizieren Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen Yoga: um gesund zu bleiben, den Körper zu trainieren, fit und beweglich zu sein, Stress abzubauen und Entspannungstechniken zu lernen. Wenngleich die spirituelle Entfaltung und Bewusstseinserweiterung das höchste Ziel und zentrale Thema im Yoga bleiben: Die Yogaübungen sind wertvoll und nutzbringend, egal, welche Ziele der Übende verfolgt. Die gesundheitlichen Segnungen des Yoga sind vielfach wissenschaftlich untersucht und beschrieben worden. Allem voran harmonisieren die Übungen nachweislich das Nerven- und Hormondrüsensystem, welches wiederum direkt alle anderen Systeme des Körpers beeinflusst (vgl. Saraswati 2001).
Forscher haben in zahlreichen Studien nachgewiesen, dass Yoga positive Wirkungen auf viele körperliche und geistige Bereiche hat (Khalsa & Stauth 2004). Darunter finden wir positiven Einfluss auf:
- die individuelle Gemütsverfassung,
- den Blutdruck,
- das Atemsystem,
- das Dämpfen von Übererregung,
- die Konzentration.
Die stimmungsaufhellende Wirkung von Yoga könnte darauf zurückzuführen sein, dass Atemübungen (Pranayama) und andere Achtsamkeitstechniken es den Praktizierenden erleichtern, ihre negativen Gedanken zu identifizieren, sie auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen und sie zu korrigieren (Segal, Williams & Teasdale 2012). Seine beruhigende Wirkung könnte mit der gesteigerten Ausschüttung eines Neurotransmitters5, der Gamma-Amino-Buttersäure (GABA), zusammenhängen. Forscher konnten zeigen, dass auch bei Ungeübten wahre Wellen des beruhigenden Stoffs freigesetzt wurden (Streeter 2007). Dass die Wirkung nicht allein auf der Bewegung beruht, belegte dasselbe Forscherteam drei Jahre später in einem Vergleich von Yoga mit Walking. Zwar zeigte auch die Walkinggruppe eine erhöhte Ausschüttung von GABA, doch lag die der Yogagruppe bei Weitem höher. Des Weiteren schult Yoga die Fähigkeit der Selbstberuhigung, wie es viele andere körperorientierte Ansätze, die mit Muskelspannung und -entspannung, Rhythmik, Tanz oder Meditation arbeiten, auch tun. Ihnen gegenüber hat Yoga jedoch einen großen Vorteil aufzuweisen: Es vereint Atmung, Achtsamkeit, Meditation und rhythmische Bewegung.
Die beruhigende und stimmungsaufhellende Wirkung bringt große Vorteile für das tägliche Leben und die Stressbewältigung. Yoga kann dem Übenden helfen, in belastenden Alltagssituationen mittels eines gezielten Einsatzes von Übungen Ruhe und Abstand zu finden. In der Therapie erleichtert die Fähigkeit der Selbstbeobachtung und Selbstberuhigung das Durcharbeiten von Traumaerinnerungen. Sind Therapeut und Patient mit hilfreichen Maßnahmen vertraut, ist eine Traumatherapie weniger belastend. Forscher konnten bestätigen, dass eine Kombination aus Yoga und Traumatherapie diesen Nutzen bietet (Descilo 2010, Franzblau 2006, Gerbarg 2008).
Yoga ist jedoch nicht gleich Yoga. Es werden viele verschiedene Richtungen praktiziert. Ich möchte Ihnen hier die bekanntesten vorstellen:
Hatha Yoga basiert auf Atemübungen und Körperhaltungen unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade. Letztere werden bewusst eingenommen, gehalten und wieder aufgelöst. Das Innehalten zischen den Übungen hilft dem Übenden (auch „Adept“ genannt), die jeweiligen Wirkungen zu beobachten. Der Lehrer plant die Auswahl der Übungen und damit den Schwerpunkt einer Stunde.
Ashtanga Yoga fußt auf dem Hatha-Yoga-System. Anders als im Hatha Yoga werden festgelegte...