Das Bildungsverständnis der Projektarbeit
1.1 Die Idee vom Lernort Kita
»Kindliche Erkenntnis ist nicht das kalkulierte Produkt pädagogischen Bemühens,
sondern entsteht im selbsttätigen Flirt mit der Welt.«
Anette Dreier
Immer mehr Kinder verbringen einen größeren Teil ihres Tages in der Kita – mit den dort arbeitenden pädagogischen Fachkräften und den anderen Kindern. Die Kita ist zu einem der wichtigsten Erfahrungs- und Lernorte neben der Familie geworden. Und weil das Erfahrungslernen eine so immense Bedeutung in den ersten Lebensjahren hat, sollte es nicht dem Zufall überlassen bleiben, welche Erfahrungen die Kinder machen. Lernorte können so gestaltet werden, dass sie das Interesse der Kinder ebenso wecken, wie es auch Impulse der Erwachsenen tun. An jeder Ecke der Kita, im Innen- und im Außenbereich, lassen sich Erfahrungen sammeln. Neben dem Elternhaus ist die Kita der Ort, an dem erste Angebote für die Kinder bereitgestellt werden, wo sie Neues und Interessantes entdecken können, ihnen Vielfalt begegnet und sie sich in Ruhe mit den Dingen auseinandersetzen können, die sie interessieren. In der Auseinandersetzung mit den Dingen gewinnen sie an Kompetenz. Der Erfahrungsgewinn steht in einem großen Zusammenhang mit dem Raum- und Materialangebot, das den Kindern zur Verfügung steht.
Das Interesse und die Bedürfnisse der Kinder stehen nicht im Widerspruch zu den Erwartungen der meisten Erwachsenen. Auch sie wünschen sich, dass Kinder Bildung erhalten, ihre Kompetenzen erweitern und ihr späteres Leben fit, kompetent und weitgehend autonom in den Griff bekommen können. Die Kita ist zu dem Ort geworden, an dem Kinder zusammen mit dem fachlich versierten und professionell agierenden Team wichtige Lernerfahrungen machen können. In einer Welt der rasanten gesellschaftlichen, technischen, medialen und wirtschaftlichen Veränderungen werden Wissen und Bildung zum Schlüsselfaktor für eine erfolgreiche Teilhabe. Eltern sind nicht immer in der Lage, Kindern einen anregenden Entwicklungsrahmen zu bieten. Die Institution Kita hat sich deswegen im Laufe der Jahre von der reinen Betreuungs- und »Unterhaltungsinstitution« zur ersten Bildungseinrichtung entwickelt: Die Kita ist ein Ort, an dem Kinder sich selbst bilden und nachhaltige Lernerfahrungen machen können.
Wissen wird dabei nicht als eine Ansammlung von Informationen verstanden, die quasi auf Knopfdruck und ohne Sinnzusammenhang abgefragt werden können. Das zu erwerbende Wissen muss nicht nur das Interesse der Kinder berühren, sondern auch einen Bezug zu ihrer Lebenswelt und zum Hier und Jetzt haben. Nur wer den Sinn dessen versteht, was er lernt, begreift auch und kann das Wissen auf andere Bereiche übertragen. Andreas Müller zitiert in seinem Buch »Nachhaltiges Lernen« den Stoßseufzer mancher Eltern: »Mein Kind lernt nur das, was es will.« Logisch, was denn sonst? Wer also Lernmotivation erzeugen möchte, muss sich genau anschauen, mit wem er es zu tun hat. Pädagogische Fachkräfte haben die Aufgabe, die Kinder zu beobachten, sie zu verstehen und ihre Bedürfnisse und Interessen wahrzunehmen. Interesse entsteht nicht, weil in erwachsenen Köpfen eine Idee entstanden ist, die – wie mit einem Trichter – in kindliche Köpfe transportiert wird. Interesse entsteht durch das Leben an sich. Leben bedeutet erleben und erfahren – und das mit allen Sinnen. Das (subjektive) Interesse der Kinder an bestimmten Aspekten ihres Lebens muss allerdings entdeckt und der Lernweg durch Ermutigung, Bestätigung, tragende Beziehung, intelligente und anregende Raumgestaltung und Materialbereitstellung geebnet werden. All das ist im Rahmen von Projektarbeit in besonderer Weise möglich, setzt aber voraus, dass pädagogische Fachkräfte
- ein humanistisches Bild vom Kind haben und es nicht als defizitäres Wesen begreifen,
- ihre Rolle neu definieren und sich selbst nicht als allwissend begreifen, sondern als Mit-Lerner, Wegbegleiter und Moderator,
- einer inklusiven Pädagogik den Vorrang geben, die auf Vielfalt und Partizipation aufbaut,
- auf Ganzheitlichkeit setzten,
- unsere Antwortkultur durch eine Fragenkultur ersetzen.
1.2 Zum Begriff Projektarbeit
In der »Kita zum Gutshof« dreht sich drei Tage lang alles um das gesunde Frühstück. Die Kinder entwerfen einen Speiseplan, sie kaufen ein und bereiten das Essen zu. In einer anderen Kita ist jeden Mittwoch von 9 bis 12 Uhr Projektzeit. In jedem Raum findet ein anderes Projekt statt. Nach einem halben Jahr werden die Projektthemen, die von den Kindern kommen oder den Erwachsenen initiiert werden, gewechselt.
Lena beschäftigt sich schon seit vier Wochen mit den vielen kleinen Krabbeltieren an der Hauswand und unter den Steinplatten im Garten. Sie verfolgt und zeichnet Ameisenstraßen, betrachtet Fotobildbände und Bestimmungsbücher. Manchmal erzählt sie auch im Morgenkreis von ihren Beobachtungen. Und die »Schlosspark-Kinder« widmen sich schon in der fünften Woche dem spannenden Thema Zirkus.
In manchen Kitas werden Kurzprojekte für die Gruppe, in einigen über mehrere Wochen andauernde und gruppenübergreifende Projekte und in wieder anderen Projekttage und viele weitere, unterschiedlichste Varianten durchgeführt. Allen Projekten ist jedoch gemeinsam: Die Kinder bearbeiten weitgehend selbsttätig ein Thema und beleuchten es von möglichst vielen Seiten. Das Projekt entspringt den Interessen und Bedürfnissen der Kinder. Und die Rolle der Erzieherin ist nicht mehr die der Bestimmerin, sondern sie wird zur Begleiterin oder – wie Tassilo Knauf sagt – zur »Assistentin der Kinder«.
Projekt – eine Begriffsbestimmung
Ein Projekt stellt den gemeinsam von Erziehenden, Kindern, Eltern und Experten unternommenen Versuch dar, Leben, Lernen und Arbeiten zu verbinden. In Projekten findet über einen längeren Zeitraum eine Auseinandersetzung mit einem Thema statt, an der verschiedene Gruppen gleichberechtigt beteiligt sind. Dabei ist nicht in erster Linie das Produkt, also das Handlungsergebnis, das angestrebt wird, von Bedeutung, sondern der Weg, wie man dahin gelangt. Ausgangspunkt von Projekten ist in aller Regel eine Thematik, die die Beteiligten besonders beschäftigt (Knauer & Brandt 1999).
Doch wird der Begriff der Projektarbeit heute geradezu inflationär gebraucht. Sobald pädagogische Fachkräfte ein Thema mehr als oberflächlich behandeln, sich von ausschließlich jahreszeitlicher Programmgestaltung lösen, wird die Tätigkeit als Projektarbeit deklariert. Doch: Eine umfassende Beschäftigung mit einem Thema stellt nach meiner Ansicht nicht gleich ein Projekt dar.
Nun ist Projektarbeit kein geschützter Begriff, und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es unterschiedliche Vorstellungen von dem gibt, was unter einem Projekt zu verstehen ist. Ein Projekt ist aber auf keinen Fall ein neudeutscher Begriff für das, was man früher »Beschäftigung« nannte. In Anlehnung an den US-amerikanischen Pädagogen John Dewey, der ein Gramm Erfahrung besser als eine Tonne Theorie einschätzt, bezeichnen wir heute mit Projektarbeit eine Lernform, die auf Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Kooperation, Erleben, Situationsbezug, Inklusion, gesellschaftlicher Relevanz und dem Interesse der Beteiligten basiert. Projekte heben sich von der Beschäftigung folgendermaßen ab:
- Projekte entstehen durch den Handlungsbedarf der Beteiligten. Hier stellt sich die Frage, wie dieser Handlungsbedarf festgestellt wird, wie sich Kinder äußern und wie pädagogische Fachkräfte den angemeldeten Bedarf gruppenspezifisch umsetzen.
- Projekte sind immer demokratisch. Sie zielen auf Partizipation ab und setzen stets kooperative und solidarische Arbeitsformen voraus. Das hat Konsequenzen für die Vorplanung, die Zusammenarbeit im Team und die Beteiligung der Kinder am Planungs- und Durchführungsprozess.
- Projekte sind zeitlich befristet. Sie verfolgen einen umfassenden Zielkatalog und sind in mehrere Arbeitsschritte zu untergliedern. Die logischen Arbeitsschritte lauten: Analyse der Situation, situationsangemessene Planung, Durchführung, Reflexion, Präsentation.
- Projekte fördern nachhaltige Entwicklung. Diese hat zum Ziel, die Lebensbedingungen der Kinder zu sichern und zu verbessern. Das geschieht durch die Entfaltung wesentlicher »Human Resources« wie Intelligenz, Kreativität und Fantasie, Kooperations-, Konflikt- und Kritikfähigkeit, Fähigkeit zu verantwortlicher Entscheidungsfindung in komplexen und risikoreichen Situationen.
- Projekte ermöglichen eine inklusive Pädagogik. Im Rahmen der Projektarbeit können sich alle Kinder aktiv beteiligen, unabhängig von ihrer Entwicklung und ihrer Leistungsfähigkeit. Ihrer Individualität wird Rechnung getragen, kein Kind wird ausgegrenzt. Alle Kinder erhalten die gleiche Wertschätzung und den gleichen Anteil am Projektgeschehen.
- Projekte fördern »Soft Skills« (Schlüsselqualifikationen, Kompetenzen). Sie sind besonders geeignet, um geradezu spielerisch und selbsttätig »Soft Skills« einzuüben. Dazu gehören: Soziale Kompetenz wie Empathie, Teamfähigkeit, Konfliktlösungskompetenz, interkulturelle Kompetenz, Kommunikative Kompetenz, Selbst-Kompetenz, Sachkompetenz.
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