Allgemeine Merkmale sind:
a) ein prüfendes Subjekt
b) ein geprüft werdendes Objekt
c) eine an diesem Objekt geprüfte Eigenschaft, Fähigkeit oder Kenntnis
d) das Prüfungsgeschehen
e) das Element der relativen Unklarheit des Ergebnisses vor der Prüfung
f) das Prüfungsergebnis
g) die Konsequenzen aus dem Ergebnis
sowie nicht zwingend:
h) Die Bedeutung der Prüfung und der Konsequenzen
i) Der Prüfungszweck (kein Muss: Es lässt sich zum Beispiel vorstellen, dass ein Sturm die Standfestigkeit eines Hauses prüft, wobei er keine Absicht damit verbindet)
Die Etymologie des Wortes (lat. probare, prüfen und probieren) zeigt die ursächliche Bedeutung des Wortes an: Der Mensch prüft, um Sicherheit über einen bestimmten Sachverhalt zu erlangen. So prüft der Bergsteiger das Seil, das er zum Aufstieg benutzen will, oder der Schwimmer die Wassertemperatur. (Je nach Grad der Unsicherheit und des Gefahrenpotenzials der Materie wird er sich dabei nach den Aussagen anderer richten).
Wer prüft will also sichergehen.
Die Alternative zum Prüfen wäre das ausreichende Vertrauen.
Die Frage nach der Legitimation von Schul- und Examensprüfungen könnte vor diesem Hintergrund also folgendermaßen logisch erklärt werden: Die Gesellschaft prüft, um über die Befähigung des Prüflings zur angemessenen Ausführung seiner beruflichen Rolle Gewissheit zu erlangen. Damit ist gewährleistet, dass etwa ein Arzt über das nötige Fachwissen zur Behandlung seiner Patienten verfügt. Der Prüfling beweist durch das Bestehen der Prüfung seine Eignung auch im Beruf später bestehen zu können.
Die Rolle des Prüfers beschreibt STENGEL (S. 287) folgendermaßen: „Ein wichtiges Kriterium des Prüfers ist, dass er ein legitimierter Vertreter eines bestimmten Teils der menschlichen Gesellschaft ist. Er vertritt eine bestimmte Forderung der Gesellschaft und muss darauf achten, dass der Prüfling sie erfüllt. Er ist mit der Zuteilung der Prüfungsprämie und der Strafe betraut.“
Dieser Teil ist laut STENGEL identisch mit der Schicht, die die herrschende Kultur repräsentiert und zu verteidigen hat.
Diese Sicht legt nahe, dass der Prüfungsgegenstand identisch mit den wichtigsten praktischen Anforderungen des betreffenden Berufsfelds ist. Aus ihr heraus würde die Beförderung aus ausreichendem Vertrauen eine Alternative darstellen. (So kann ein Prüfer, der schon vorher von der Leistungsfähigkeit des Prüflings überzeugt ist, guten Gewissens die Prüfung zu einem symbolischen Akt, der pro forma erledigt wird, degradieren, oder sogar, sofern das in seiner Macht steht, komplett auf sie verzichten.)
Dies erscheint jedoch schon allein aus der Gefahr der Subjektivität der Prüfer und der Kapazitäten als nicht allgemein praktikabel.
Bei näherer Betrachtung der Form und Praxis von Prüfungen, ihrer Durchführung und Auswirkungen auf den Prüfling fällt jedoch eine Anzahl Ungereimtheiten auf: Warum wird so vieles geprüft, was in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der späteren Tätigkeit des Prüflings steht? Warum wird so vieles, was später dabei dringend benötigt wird, nicht geprüft? Wie ist es möglich, dass die Prüfung so unterschiedlich gehandhabt werden kann? Und warum finden viele nach den genannten Kriterien äußerst sinnvolle Prüfungen nicht statt? (STENGEL führt hier das Beispiel eines Arztes an, der seinen Beruf 50 Jahre lang ausüben kann, ohne in dieser Zeit auf Kenntnis der einschneidenden Veränderungen und Fortschritte in seinem Fachbereich überprüft zu werden.) (STENGEL, S. 288)
Es scheint bei näherer Beschäftigung mit der Materie fast so, als bezöge die Prüfung ihre Berechtigung aus ihrer Rolle als zu meisternde Schwierigkeit allein, und das sowohl für den Prüfling als auch für die Gesellschaft (und ihren Repräsentanten, den Prüfern), als Test der Fähigkeit, eine Schwierigkeit zu meistern und als Quelle der (Selbst-)Sicherheit und Identitätsfindung. Damit würde die Überprüfung des Fachwissens nur noch zu einer nebensächlichen Begleiterscheinung ganz anderer Motive der Gesellschaft.
Es liegt also nahe, dass andere Faktoren als die genannten, logisch nachvollziehbaren Gründe die Festsetzung und Gestaltung der Prüfungsnormen bestimmen.
Zum besseren Verständnis dieser Vorgänge verweist STENGEL (S. 289 ff.) auf die Prüfungsriten primitiver Völker, wie sie von REIK in „Das Ritual“ beschrieben wurden. Hier müssen die Jünglinge des Stammes oft grausame Rituale über sich ergehen lassen, um am Ende in den Kreis der Männer aufgenommen zu werden. Sinn dieser Prozedur ist angeblich die Erprobung des kriegerischen Geistes. Die Männer des Stammes zeigen dabei eine Mischung aus sadistischen Folter- und zärtlichen Schutzhandlungen. Von einer Gruppe der Männer werden die Jünglinge geschlagen, von einer anderen geschützt. Der Charakter der Kastration tritt in der im Rahmen der Pubertätsriten stattfindenden Beschneidung deutlich zu Tage. STENGEL zitiert dazu REIK: „Wir dürfen uns nicht scheuen, diese raffinierten Quälereien als das anzusehen, was sie wirklich sind: als grausame und feindselige Handlungen der Männer gegen die jungen Leute.“ und kommt zu folgendem Schluss: „Die Pubertätsriten sind der Ausdruck des ewigen Kampfes zwischen den Generationen der Söhne und der Väter. Feindseligkeit und Freundschaft sind in ihnen vertreten, also Ausdruck des Zusammenwirkens des Hasses der Väter gegen die Söhne, die gekommen sind, sie zu verdrängen und zu ersetzen, und der werbenden Liebe der Väter zu den Söhnen, mit denen sich die Väter identifizieren und in denen sie sich fortzusetzen hoffen.“
An diesen Prüfungsriten der Primitiven lässt sich einiges an Parallelen zu unserer heutigen Prüfungspraxis festmachen: Die Zugehörigkeit des Prüfers zur Vater- und die des Prüflings zur Jünglingsgeneration, deren Modifizierung, wenn sie in seltenen Fällen auftritt, als unnatürlich empfunden wird und der offizielle Verzicht auf „Auffrischungs“-Prüfungen, auch wenn diese logisch notwendig erscheinen mögen; die fehlende Rechtfertigung des Prüfungsgegenstands aus dem vorgegebenen Prüfungszweck; die in der Gesamtheit der Prüfer zu beobachtende Ambivalenz in der Einstellung den Prüflingen gegenüber (manche Prüfer geben hier den quälenden, andere den schützenden Part); die Art der Feierlichkeiten nach Abschluss der Prüfungen; Begriffe wie „Reifeprüfung“, „geschunden werden“ (das Schinden, das Abziehen der Haut, was in den Riten der Primitiven eine große Rolle spielte), „bestehen“ oder „durchkommen“.
Auch in den Symptomen, in denen sich die Angst vor Prüfungen in unseren Kulturkreisen widerspiegeln kann, lässt sich eine Nähe vermuten. MOELLER (S.311) listet hier nach einer amerikanischen Studie folgende auf: Herzklopfen, schnellerer Herzschlag, erregte und ängstlich Stimmung, Gefühl der Anspannung, Konzentrationsunfähigkeit, Angst, zu wenig Zeit zu haben, Zittern, vegetativer Erregungszustand, vermehrtes Schwitzen, pessimistische Einstellung, Gedankenblock, Appetitlosigkeit, Gefühl der Minderwertigkeit, Verlust des geistigen Überblicks, Neigung zu Zweifeln, motorische Unruhe, unruhiger Schlaf, leichte Vergesslichkeit, Gefühl, die eigenen Fähigkeiten zu verlieren, Verkrampfung, Schlaflosigkeit, automatisches Denken, leeres und flaues Gefühl im Magen, tieferes Atmen, Kopfschmerzen, Unbehagen, Gefühl der Einsamkeit und Einzelgängertum.
STENGEL beruft sich weiterhin auf FREUD, dem er die Entdeckung des Gesetzes von der Verwandtschaft zwischen primitivem und neurotischem (irrationalem) Verhalten zuschreibt und bemerkt: „Je höher die Zivilisation, je gesünder die beiden Menschen sind, die den Prüfungsvorgang gestalten, um so geringer werden die Spuren sein, die der uralte Kampf der Generationen im Prüfungsgeschehen hinterlässt. Je neurotischer sie sind, um so mehr Irrationales, Primitives wird im Prüfungsvorgang aufscheinen.“ (S. 293)
Auch in unserer heutigen Kultur könnte man gewisse nicht offizielle Prüfungen mit den Grundgedanken der primitiven Völker in Verbindung bringen. Beispiele hierfür wären z. B. Prüfungen der Trinkfestigkeit als allgemein vertrautes Ritual, das jedoch auf mehr oder weniger freiwilliger Basis beruht oder die an Matrosen vollzogene „Äquatortaufe“, bei der der Betroffene heftiger Ertrinkensangst ausgesetzt wird. Dabei ist eine Verweigerung ebenso wenig denkbar wie etwa das Einleiten rechtlicher Schritte.
Kennzeichnend ist hier die Aufnahme in einen mehr oder weniger festen Kreis, dessen Mitglieder, die als Prüfer fungieren, dieselbe Prüfung im Normalfall ebenfalls abgelegt haben.
Wenn wir die Motive der Prüfer hier einmal näher betrachten, sind dabei folgende, aus dem „Wohl“ der Gruppe heraus zu rechtfertigende und nicht zu rechtfertigende, denkbar: (zu rechtfertigen) Auslese, Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls, näheres Kennenlernen des „Charakters“ des Prüflings durch Betrachtung seiner Reaktionen in Krisensituationen sowie, (nicht zu rechtfertigen) Sadismus, Selbsterhöhung durch Erniedrigung anderer, Festigung und Demonstration der eigenen Machtposition, rekapitulierbare Demütigung (man hat etwas in der Hand gegen den Prüfling, um ihn gegebenenfalls kleinzuhalten), durch „Erlösung von den Qualen der Prüfung“ erlangte anhaltende Dankbarkeit, Test des Prüflings auf Unterwerfungswilligkeit und eventuelle Gefährlichkeit und Verarbeitung der eigenen Prüfungserfahrungen (nach dem Motto: Die sollen durchmachen, was ich durchgemacht habe!).
Je geringer die...