2. Schulrichtungen der Psychoanalyse
Trotz aller Appelle an ihre Geschlossenheit und trotz aller Unterstellungen, daß die Freudianer noch immer statt wissenschaftlicher Forschung lediglich Gartenzäune um ihren Meister errichtet und sich gegenüber jeglicher Kritik abgeschottet hätten: Die Psychoanalyse gibt es schon lange nicht mehr. Das, was heutzutage als Psychoanalyse bezeichnet wird, ist eine manchmal friedliche, manchmal streitbare Koexistenz von verschiedenen Theorie- und Schulrichtungen wie z.B. die ichpsychologische, die objektbeziehungstheoretische, die selbstpsychologische, die interpersonelle, die Lacanianische, feministische, Kleinianische Richtung, die post-ichpsychologische, die an der Kleinkindforschung orientierte oder diejenige Psychoanalyse, die als kritische Sozialwissenschaft und auch als Tiefenhermeneutik bekannt geworden und hauptsächlich mit dem Namen von Alfred Lorenzer verbunden ist. Jede dieser Richtungen unterscheidet sich hinsichtlich bestimmter Überzeugungen, z.B. was die Auffassung bezüglich der Natur des Menschen, des impliziten oder expliziten Gesellschaftsbildes, des Einflusses der Sozialisation, des Verhältnisses von bewußten zu unbewußten seelischen Vorgängen und Inhalten und bezüglich vieler behandlungstechnischer Modalitäten anbelangt; und doch lassen sich diese zum Teil sehr unterschiedlichen Vorstellungen immer noch als psychoanalytisch verstehen und z.B. nicht als behavioristisch, kognitiv, systemtheoretisch, rogerianisch. Psychoanalyse spricht heutzutage also mit vielen Zungen.
Noch zu Freuds Zeiten trotzte die Psychoanalyse allen Kräften, die eine allzu große Veränderung des begrifflichen Grundgerüsts vornehmen wollten; ihre Theorie umgab eine dicke Mauer, und wer in diese Festung hinein wollte, mußte ein Codewort benützen, das von Freud festgelegt worden war: Psychoanalytiker darf sich nur nennen, wer an die Macht der Psychosexualität, an das Unbewußte, die Übertragung und den Ödipuskomplex glaubt. Alle abtrünnigen Söhne und Töchter, die, wie etwa Carl Gustav Jung, sich weigerten, sämtliche psychischen Probleme auf einen Sexualtrieb zurückzuführen, oder wie Alfred Adler andere Prioritäten setzten und im Machttrieb die Haupttriebfeder des Menschen erblickten, wurden aus der psychoanalytischen Gemeinschaft ausgeschlossen.
Aber noch vor dem Tod Freuds begannen innerhalb des eigenen Lagers intensive Auseinandersetzungen. Melanie Klein und Anna Freud z.B. befehdeten sich heftig in London; Sandor Ferenczi betonte gegenüber seinem Meister Freud die traumatisierenden Auswirkungen elterlicher Erziehungshandlungen. Imre Hermann postulierte den Primat eines Bindungstriebs gegenüber der Psychosexualität. Heutzutage hat man sich hingegen daran gewöhnt, daß es die Psychoanalyse nicht mehr gibt. Es existiert vielmehr ein psychoanalytischer Theorienpluralismus, eine kreative Phase theoretischer Weiterentwicklung, geprägt von den Charakteristika der jeweiligen Forscher, aber auch von den nationalen und kulturellen Eigentümlichkeiten. Gleichzeitig wächst nunmehr der Wunsch nach der Bestimmung des common ground, nach einer differenzierten Feststellung der Gemeinsamkeiten, aber auch der Unterschiede der jeweiligen Schulrichtungen. Und bemerkenswert ist ganz gewiß auch, daß nicht alles, was Freud vor 70, 80, 90 oder noch mehr Jahren gedacht und geschrieben hat, gänzlich überholt ist. Sicherlich läßt sich so manche Hypothese heutzutage so gut wie überhaupt nicht mehr aufrechterhalten, aber andere Entwürfe von Freud enthalten erstaunlich moderne Auffassungen und Problemstellungen, die auch von heutigen Forschern nicht besser ausgearbeitet und untersucht werden könnten. Freud hat viele richtige Fragen gestellt, und manche seiner Fragen harren bis zum heutigen Tag einer exakten Beantwortung.
Auch wenn sich die Psychoanalyse schon seit geraumer Zeit in verschiedene Richtungen entwickelt hat, die sich in unterschiedlichem Ausmaß von einigen grundlegenden Annahmen Freuds unterscheiden, so haben doch alle ihren Ausgangspunkt in Freuds Denken und teilen gewisse Grundüberzeugungen. Was aber läßt es gerechtfertigt erscheinen, diese insgesamt doch sehr unterschiedlichen Schulrichtungen noch als psychoanalytisch zu bezeichnen? Mehr oder weniger sind alle der Einstellung verpflichtet, daß es ein dynamisches Unbewußtes gibt, das einen wirksamen Einfluß auf unser bewußtes Erleben und Verhalten ausübt. Alle Theoretiker stimmen ferner darin überein, daß die ersten Lebensjahre, insbesondere die Erfahrungen mit Eltern, Geschwistern und anderen Bezugspersonen von großer Bedeutung für die spätere Entwicklung sind, daß Kinder verschiedene Phasen oder Stufen durchlaufen und dabei eine immer komplexer werdende psychische Struktur ausbilden. Schließlich teilen alle unterschiedlichen Theoretiker die Überzeugung, daß man anhand des Studiums von Träumen, Fehlleistungen, Übertragungsphänomenen und anderen normalpsychologischen und psychopathologischen Erscheinungen Zugang zu der unbewußten Dynamik eines Menschen erhält.
Die Diversität psychoanalytischer Konzepte und Theorieansätze läßt es als obsolet erscheinen, wenn diese ohne Angabe ihres jeweiligen Theoriehintergrundes in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit verhandelt werden; ebenfalls kann es nur noch als unwissenschaftlich gelten, wenn eine einzige psychoanalytische Theorie das Gewicht der Bewährung der Psychoanalyse als ganzer tragen soll. „Welche Schulrichtung meinen Sie, wenn Sie vom Konzept X oder der Theorie Y sprechen?“, wäre heutzutage die angemessene Formulierung, wenn ein Diskutant die Feststellung trifft, daß z.B. eine bestimmte psychoanalytische Auffassung von Entwicklung nicht mehr zeitgemäß sei.
Trieb- und Strukturtheorie
Die von Freud (1856–1939) entwickelte Richtung wird als Trieb- und Strukturtheorie bezeichnet. Kennzeichnend für diese Theorie ist die Annahme von Triebimpulsen, Libido und Todestrieb als der letzte von Freud aufgestellte Triebdualismus, oder von Libido und Aggression in der Version von Heinz Hartmann, die als Motor allen Handelns gelten können. Schon das Kind muß allerdings auf die Verwirklichung solcher sexuellen und aggressiven Impulse verzichten lernen, die nicht mit den Moralvorstellungen der Eltern übereinstimmen. Häufig gelingt dieser Verzicht jedoch nicht, und aufgrund von Angst wegen der von den Eltern zu erwartenden Strafe kommt es zu einer Verdrängung. Untergründig wuchern die verdrängten Triebimpulse jedoch weiter und geben Anlaß zu Phantasiebildungen, in denen der ursprüngliche Triebimpuls mehr oder weniger gut kaschiert ist. Die elterlichen Forderungen und Gebote werden vom heranwachsenden Kind allmählich verinnerlicht: Über-Ich und Ich-Ideal entstehen als Strukturen der Psyche und regulieren die Triebimpulse. Die unbewußten Phantasien sind aber nach wie vor in unterschiedlichem Umfang wirkmächtig; sie färben zu einem großen Teil die Wahrnehmung und das Handeln. Ist der Aufforderungscharakter äußerer Realitätsmerkmale stark genug, kann es zu einem Durchbruch verdrängter Triebwünsche kommen, die dann in einem Symptom gebunden werden. Dieses stellt dann eine Kompromißbildung aus dem verdrängten Triebwunsch und dem Über-Ich-Verbot dar.
Entsprechend Freuds Anthropologie ist der Mensch ein durch und durch konfliktträchtiges Wesen. In unzähligen Situationen des Alltags prallen kindlicher Triebwunsch und elterliche Erziehungshandlung aufeinander. Menschliche Natur und Gesellschaft in Form der erziehenden Eltern oder anderer Sozialisationsagenten und Normen stehen sich somit relativ unversöhnlich gegenüber; Aufgabe der Sozialisation und der Kulturarbeit ist es, den Menschen kulturfähig zu machen, der als „polymorph perverses“, habenwollendes, aggressives und seine Wünsche mit Nachdruck durchsetzendes Geschöpf auf die Welt kommt. Aber Freud plädierte keineswegs nur für die Repression und Sublimierung der kindlichen Leidenschaften: Seine Kulturkritik galt solchen Institutionen (wie z.B. Kirche und Militär), die vom Menschen ein Übermaß an Unterdrückung und Verdrängung verlangen. Soll psychisches Elend weniger massenhaft auftreten, müssen diese Institutionen triebfreundlicher werden. Aber selbst dann bliebe immer noch genügend Konfliktstoff für neurotische Fehlentwicklungen.
Freud verhielt sich somit trotz eines verhaltenen Fortschrittsdenkens skeptisch gegenüber allen Heilsideologien, die sich vom Wegfall gesellschaftlicher Ungleichverteilungen das konfliktfreie Paradies auf Erden versprechen. Aus der Sicht einer ideologiekritischen Psychoanalyse, deren Keime Freud selbst gesetzt hat, blieb er in seiner Analyse der Selbstverdinglichungen des Menschen dabei freilich auf halbem Wege stecken; ihm gelang es nicht, die Verschleierung und Rationalisierung von Machtverhältnissen, die sich als naturnotwendig ausgeben, mit der gleichen ideologiekritischen Schärfe zu analysieren, wie ihm dies für die individualpsychologischen Verhältnisse möglich war.
Ich-Psychologie
Die Ich-Psychologie erwuchs aus Freuds Alterswerk, wurde stark beeinflußt durch die Ideen von Anna Freud (1895–1982), die sie 1936 in Das Ich und die Abwehrmechanismen begründete und erfuhr ihre...