1 Ausgangspunkte der Verständigung
Dialogähnliches Verhalten und Ansätze der Verständigung spielen in der Entwicklung der Menschen eine wichtige Rolle. Nach Hinweisen auf naturgeschichtliche und entwicklungspsychologische Ausgangspunkte der gegenseitigen Verständigung wird die Verständigung auch im Rahmen der Entwicklung des Kommunikationsbegriffs betrachtet.
1.1 Phylogenetische Ausgangspunkte
Dialogähnliche Vorgänge oder Vorformen des Dialoges spielen bereits in der Tierwelt eine Rolle und dies nicht nur bei Säugetieren, sondern beispielsweise auch bei Vögeln. So konnte Spitz (1988) zeigen, dass bei der Prägung von Entenküken eine ausschließliche Stimulation durch den Lockruf der Entenmutter auf Dauer nicht genügte, die Folgereaktion der Küken auszulösen. Erst als zusätzlich ins Modell der Entenmutter ein Mechanismus eingebaut wurde, der auf den Pieplaut der Küken antworten konnte, gelang es, diese so weit zu stimulieren, dass sie der Entenmutter zuverlässig und dauerhaft nachfolgten.
Kann man im geschilderten Verhalten bereits eine Vorform des Dialoges sehen? Zum dialogischen Verhalten gehört neben ansprechendem Verhalten auch antwortendes Verhalten (Respondence). Lineare Reiz-Reaktions-Verhältnisse werden zu Verhaltensweisen, deren Ergebnisse zu einer neuen Voraussetzung des Verhaltens werden. Mit der Rückkoppelung entstehen frei zirkulierende Informationen, die als solche erst eine Verständigung über Bedürfnisse oder über lebensbedrohliche Situationen ermöglichen (vgl. u.a. Schurig, 1975).
Nach Holzkamp (1983) erscheinen zwar die für das dialogische Verhalten relevanten Voraussetzungen wie Wahrnehmung von Bedeutung, Sensibilität, Emotionalität und Orientierung schon früh in der Naturgeschiche. Doch erst mit der Herausbildung artspezifischer Lernfähigkeit ergibt sich die Fähigkeit zur Veränderung und Differenzierung. Jeder einzelne Organismus kann sich nun verändern. Diese Modifikation geht nicht in den weiteren Erbgang ein. Nur die Modifikabilität als solche gehört fortan zum festen Bestand der Naturgeschichte. »Genetisch vorbereitet ist nichts so sehr wie die differenzierende Entfaltungsmöglichkeit durch individuelles Lernen und soziale Tradition (...)« (Markl, 2005, 27).
Die Modifikabilität ermöglicht nicht nur eine je individuelle Lerngeschichte (siehe Kapitel 1.2), sondern auch die Freiräume und die Beweglichkeit, welche für wechselseitige soziale Beziehungen notwendig sind. Beispielsweise können beim sexuellen Kontakt von Krebsen artspezifisch festgelegte Kommunikationsformen so differenziert werden, dass bestimmte Tiere sich aufeinander so gut abstimmen können, dass es zu einem längerfristigen Zusammenleben derselben kommt. Durch diese »Partnerschaften« ergeben sich für Jungtiere sog. Schutzräume, die Spielverhalten und andauerndes Üben in Hinblick auf einen Ernstfall ermöglichen.
Im Schutzraum beeinflusst das Verhalten des Muttertieres das Verhalten ihrer Nachkommen und insbesondere auch deren späteres Verhalten als Muttertier. Das folgende Experiment kann verdeutlichen, dass der unmittelbare soziale Kontakt maßgebend ist und nicht die genetische Ausstattung der leiblichen Mutter. Bei Rattenmüttern wurde sofort nach der Geburt ein Teil der weiblichen Nachkommen so vertauscht, dass eine »gute« Mutter zur Hälfte ihre eigenen, zur anderen Hälfte die Jungen einer »schlechten« Mutter aufzog. Ergebnis: Aus allen diesen sorgfältig aufgezogenen Jungen wurden schließlich Mütter, die ihre Nachkommen später ebenfalls sorgfältig aufzogen. Umgekehrt erwiesen sich alle weiblichen Jungen, die einer Mutter zugeteilt wurden, welche ihre Nachkommen vernachlässigte, später ebenfalls als »schlechte Mütter« (Hüther, 2001).
In den Schutzräumen entwickeln sich die spezifisch sozialen Voraussetzungen des dialogischen Verhaltens. Dieses Verhalten ist in die Zukunft hinein offen und birgt damit auch Risiken in sich. Da es individualisierte Anpassung an wechselnde Umweltgegebenheiten ermöglicht, hat es sich naturgeschichtlich betrachtet gleichwohl als vorteilhaft erwiesen.
Nach Hüther (2004b) sorgen Familien- und Sippenverbände für die effiziente Abschirmung der Nachkommenschaft gegenüber Einflüssen aus der Außenwelt, welche die Ausreifung des Gehirns der Jungtiere stören könnten, sowie auch für optimale neurobiologische Entwicklungsbedingungen innerhalb des jeweiligen Verbandes. Der mit der Entwicklung der Wirbeltiere gegebene Selektionsdruck zu einer weniger strengen genetischen Determination der im Gehirn angelegten neuronalen Verschaltungen wurde erst mit der Menschwerdung voll wirksam, so dass schließlich auch die im Laufe des Lebens gemachten Erfahrungen strukturell verankert werden konnten.
Bei der elterlichen Fürsorge, der Werbung sowie bei anderen Verhaltensweisen der Tiere spielen Gebärden oder Gesten eine wichtige Rolle. Darwin (1874) nahm noch an, dass Gebärden im Wesentlichen Ausdruck von Emotionen sind. Diesem ausdruckspsychologischen Ansatz widersprach Mead (1980), der annahm, dass die Funktion der Gebärden in der Herstellung und Sicherung der Sozialität der jeweiligen Gattungen besteht. Gesten sind Stimuli, die bestimmte Reaktionen bei anderen Individuen artgleicher Gattungen hervorrufen.
Mead (1980) verdeutlichte die Bedeutung der Gesten am Beispiel des Kampfes zweier Hunde. Aus den Gesten eines ersten Hundes, der einem zweiten Hund den Angriff anzeigt, entwickelt sich eine Abfolge von Gesten, die einen interaktiven Charakter hat. Die Gebärde des ersten Hundes wird zu einem Stimulus für den zweiten Hund, seine Position zu ändern und in der Folge wird die Änderung der Position des zweiten Hundes für den ersten Hund zu einem Stimulus, sich neu zu positionieren.
Bei der Entwicklung komplexerer Interaktionen ist die Lautgeste, die Empfänger und Sender beeinflusst, besonders relevant. Die Lautgeste ist eine sog. selbstwahrnehmbare Geste. Die in sich reziprok angelegte Verhaltensweise ebnet den Weg zum gegenseitigen Verständnis und damit zum spezifisch menschlichen Dialog. Sie veranlasst den Sender, im Empfänger sowie in sich selbst tendenziell gleiche Reaktionen auszulösen. Ermöglicht werden sie durch sog. Spiegelneuronen, die bei eigenen motorischen Handlungen sowie bei der Wahrnehmung der gleichen Handlungen bei Artgenossen aktiviert werden (Markl, 2005).
1.2 Ontogenetische Ausgangspunkte
Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind wird häufig als Grundform der menschlichen Verständigung betrachtet. Von Anfang an finden auf einer körpernahen Ebene wechselseitige Regulationen zwischen Mutter und Säugling statt. Es ist nicht so, dass der Säugling nur empfängt – er ist auch aktiv an der Interaktion beteiligt (Dornes, 1993).
Die Entdeckung der Interaktion zwischen Mutter und Kind führte zu einer Reihe revolutionärer Forschungsarbeiten, in deren Zentrum die Koexistenz von Mutter und Kind stand und insbesondere die Co-respondence des Kindes näher untersucht wurde (Rahm et al., 1993). Diese Untersuchungen führten auch in der Psychoanalyse zu einer neuen Sichtweise, da einige Vorstellungen über die frühe Mutter-Kind-Interaktion teilweise in Frage gestellt wurden. Insbesondere die Annahme eines primären Autismus erwies sich als unzutreffend (vgl. u.a. Mahler, Pine & Bergman, 1990).
Der Austausch der Signale folgt einem Rhythmus, den der Säugling entsprechend seiner Aufnahmefähigkeit vorgibt und nach dem sich die Mutter richtet. Säuglinge nehmen ebenfalls die Kommunikation mit der Mutter auf, indem sie deren Stimme und Gesichtsausdruck spiegeln. Durch Hautkontakt vermittelte, mimische und stimmliche Signale werden rhythmisch zwischen Mutter und Säugling hin- und zurückgesandt. Es handelt sich um einen kreisförmigen Austausch, der in der Fachsprache auch als Cycle of Interaction bezeichnet wird (Bauer, 2002).
Mutter und Kind agieren nicht als zwei isolierte Individuen, die vereinzelte Signale austauschen, sondern sie stimmen sich aufeinander ein. So zeigen mikrokinetische Videoanalysen, dass sich Säuglinge schon kurze Zeit nach der Geburt in einem präzisen Synchronismus zur Artikulationsstruktur der Sprache der Erwachsenen bewegen (Condon & Sander, 1974).
Das wechselseitige Verstehen und Aufeinander-Eingehen zwischen Mutter und Säugling kann auch als gegenseitiges Spiegeln bezeichnet werden. Das Gehirn beinhaltet Nervenzell-Netzwerke, die dazu geeignet sind, bei anderen Personen wahrgenommene Signale in der Weise abzuspeichern, dass sie von der wahrnehmenden Person nacherlebt und wiedergegeben werden. Die Nervenzellen dieses Systems werden als »Spiegel-Nervenzellen« bzw. »Spiegel-Neuronen« bezeichnet (Rizzolatti, 1996). Nach Bauer (2002) bilden sie die neurobiologische Basis für das seit Jahrzehnten intensiv untersuchte Lernen am Modell (Bandura, 1962). Im limbischen System gibt es Spiegel-Neuronen für Gefühle, was als Voraussetzung für die Entwicklung der Empathie betrachtet wird (Hutchison, 1999).
Säuglinge schreien häufig. Eine Aufgabe ihrer Bezugspersonen besteht darin, herauszufinden, was dieses Schreien bedeutet und entsprechend zu antworten. Die Eltern können das Schreien ihrer Kinder auf verschiedene Arten verstehen. Schreien ist interpretierbar als Hunger, Durst, Unwohlsein, Kontaktwunsch, Schmerz oder auch nur als Druck (z.B. Druck, der durch eine Windelfalte entsteht).
Der Säugling kann sich nach einer fürsorglichen Maßnahme beruhigen oder weiter schreien, wenn nicht angemessen auf seine Bedürfnisse reagiert wurde. Bekommt er...