Chronischer Schmerz im Kontext von ICD: Eine Kodierungshilfe
Neben den konzeptuellen und pathophysiologischen Überlegungen zur Genese und Aufrechterhaltung chronischer Schmerzsyndrome stellt sich auf der anderen Seite die ganz pragmatische Frage, wie chronische Schmerzstörungen im klinischen Alltag zu kodieren sind. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden ein kurzer Überblick über die unterschiedlichen Möglichkeiten gegeben werden, wie chronische Schmerzen im Klinikalltag angemessen verschlüsselt werden können. Denn obwohl für das Phänomen »Schmerz« in den Kodierrichtlinien der internationalen Klassifikation für Krankheiten (ICD-10, International Classification of Diseases) ein spezifischer Kriterienkatalog formuliert worden ist (siehe Kapitel 18 des ICD-10, »Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die andernorts nicht klassifiziert sind«), können darin die psychosomatischen Aspekte chronischer Schmerzsyndrome oftmals nur unzureichend abgebildet werden.
Gerade das Wesen psychosomatischer Schmerzsyndrome, nicht notwendigerweise mit einer nozizeptiven Wahrnehmung einherzugehen, sowie die Tatsache, dass nahezu jede Schmerzempfindung unter dem ständigen Einfluss nicht-nozizeptiver, insbesondere psychosozialer Faktoren steht, ist in der aktuellen Version der international gültigen Krankheitsklassifikation nicht angemessen berücksichtigt. Während sich rein somatisch bedingte Schmerzen in der Regel gut und inhaltlich konsistent durch die ICD abdecken lassen, ist dies für psychosomatische Schmerzsyndrome oftmals nicht möglich. Sie sind meist schwer operationalisierbar und es fehlen valide neurobiologische Testparameter, anhand derer sich eindeutige Positivkriterien formulieren lassen. Umgekehrt finden sich in der aktuellen Version des diagnostischen und statistischen Leitfadens psychischer Störungen (DSM-IV, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 4th edition), dem Standardwerk zur Erfassung psychischer Krankheitsbilder, zwar umfassende Vorgaben zur Klassifikation psychischer Störungsbilder, welche mit körperlichen Symptomen einhergehen, die Komplexität psychosomatischer Schmerzsyndrome bleibt in der Regel jedoch unberücksichtigt. In Anbetracht dieser Situation verwundert es nicht, dass für die aktuellen und geplanten Neuauflagen einige substantielle Veränderungen vorgeschlagen worden sind. Im Folgenden soll kurz auf die unterschiedlichen Schmerzdiagnosen im ICD-10 eingegangen werden, um im Anschluss ein Ausblick auf die vorgeschlagenen Klassifikationssysteme im ICD-11 zu geben.
Psychosomatische Schmerzsyndrome im Rahmen von ICD-10
Die aktuellen Klassifikationsempfehlungen zur Kodierung von Schmerz im ICD-10 empfehlen, wenn ». . . ein Patient speziell zur Schmerzbehandlung aufgenommen« wird und wenn »ausschließlich der Schmerz behandelt wird, der Kode für die Lokalisation des Schmerzes als Hauptdiagnose anzugeben ist«. Allein die Schmerzlokalisation als Hauptdiagnose zu kodieren ist jedoch nicht nur problematisch, da mehr als 75 Prozent der Patienten mehr als eine Schmerzregion angeben, sondern auch weil dies der Heterogenität der unterschiedlichen psychosomatischen Schmerzsyndrome in vielerlei Hinsicht nicht gerecht wird. Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, sich ein wenig differenzierter mit den unterschiedlichen im ICD-10 beschriebenen Krankheitsbildern auseinanderzusetzen, bei denen das Phänomen »Schmerz« als ein zentrales Element angesehen werden kann (Nilges & Rief, 2010; Tabelle 4):
Schmerzsyndrome ohne Krankheitswert
Vorneweg ist zu betonen, dass Schmerz ein allgegenwärtiges Symptom darstellt und als e physiologisches Signal nicht zwingend krankhaft ist. So erfüllen mehr als zwei Drittel aller Leistungssportler die Kriterien für eine chronische Schmerzstörung, meist ohne dass dies zu einer relevanten Einschränkung im Alltag führen würde. Viele Schmerzsyndrome sind zwar unangenehm, erreichen jedoch keinen relevanten Beeinträchtigungsgrad, der eine medizinische Diagnose mit Krankheitswert rechtfertigen würde. In solchen Fällen sollte von einer Kodierung abgesehen werden.
Isoliert somatisch-nozizeptiv bedingte Schmerzsyndrome
Angenommen, es liegt ein Schmerzsyndrom mit chronisch somatischem Trigger vor (beispielsweise eine nicht kontrollierte rheumatoide Arthritis oder eine chronische Osteomyelitis) und es sind keine relevanten psychosozialen Faktoren feststellbar. In solchen Fällen wird empfohlen, das Schmerzsyndrom unter der entsprechenden somatischen Erkrankung einzuordnen.
Gleichzeitig sei jedoch auch angemerkt, dass jeder chronische Schmerzzustand per se zu substantiellen Veränderungen in der zentralnervösen Prozessierung nozizeptiver Informationen führt, mit nachhaltigem Einfluss auf die kognitiven, affektiven und behavioralen Elemente der Schmerzverarbeitung.
Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41)
Im Jahr 2009 wurde in der deutschen Ausgabe des ICD-10 erstmals die Diagnose »Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren« (F45.41) eingeführt, um dem komplexen Wechselspiel zwischen somatischen, psychischen und sozialen Faktoren besser gerecht werden zu können. Eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren liegt vor, wenn seit mindestens sechs Monaten Schmerzen in einer oder mehreren Körperregionen bestehen, die ihren Ausgangspunkt in einem physiologischen Prozess oder einer körperlichen Störung haben. Der Schmerz verursacht in bedeutsamer Weise Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. Psychosoziale Faktoren spielen eine wichtige Rolle für Schweregrad, Exazerbation oder Aufrechterhaltung der Schmerzen, sind jedoch nicht ursächlich für deren Beginn, anders als bei der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (F45.40), auf die weiter unten näher eingegangen werden soll. In der Praxis ist diese Unterscheidung jedoch häufig schwierig zu treffen, sodass die Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren in der Regel dann vergeben wird, wenn den Schmerzen trotz hoher psychischer Überlagerung auch eine relevante somatische Komponente zugeschrieben werden kann.
Nilges und Rief (Nilges & Rief, 2010) empfehlen vor diesem Hintergrund, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren insbesondere dann zu diagnostizieren, wenn ein ursprünglich auslösender somatischer Faktor (zum Beispiel ein Herpes zoster, ein Bandscheibenvorfall mit passender Schmerzlokalisation oder eine manifeste Arthrose) aufgrund von Anamnese und Untersuchungen eindeutig identifiziert und diagnostiziert werden kann und wenn mindestens zwei aufrechterhaltende psychische Faktoren vorliegen. Hierzu zählen unter anderem:
Maladaptive Verhaltensmuster: Dies beinhaltet sowohl dysfunktionale Vermeidungsverhaltensweisen als auch Durchhaltestrategien. Übermäßiges Vermeidungsverhalten, beispielsweise aufgrund starker schmerzbezogener Ängste und einer daraus resultierenden körperlichen Dekonditionierung mit Schon- und Fehlhaltungen, kann genauso relevant zur Aufrechterhaltung chronischer Schmerzzustände beitragen wie dysfunktionale Durchhaltestrategien mit Überschreiten der eigenen körperlichen und mentalen Belastbarkeit und daraus resultierenden Überlastungsreaktionen (Hasenbring, 1993) des Bewegungsapparates und muskulären Verspannungen.
Dysfunktionale Kognitionen: Maladaptive Kognitionen in Form von gedanklicher Einengung auf das Schmerzerleben, Katastrophisieren von Körperempfindungen und Krankheitsfolgen, Grübeln und gedankliche Einengung auf schmerzassoziierte Inhalte und rigide Attribution der Ursachen auf somatische Faktoren können ebenfalls zu einer relevanten negativen Beeinflussung des Schmerzerlebens führen.
Emotionaler Distress:19 Ausgeprägte emotionale Belastungen, wie beispielsweise Verzweiflung oder Demoralisierung, ...