(Ein Beitrag von Jule Dräger)
Der erste Schrei eines Neugeborenen wurde früher sehnlichst erwartet, weil man glaubte, die kindlichen Lungen würden sich nur so zur vollständigen Aktivitätsaufnahme entfalten. Mit zunehmender Sensibilisierung für den Säugling in Praxis und Forschung wurde Schreien jedoch negativ assoziiert. Schreien wird inzwischen als Zeichen des Unwohlseins und eines unerfüllten Bedürfnisses verstanden. Viel Schreien stärkt nicht die Lungen, sondern kann die Interaktion von Bezugsperson und Säugling beeinträchtigen. (Bensel& Haug-Schnabel, 1997)
Man unterscheidet in der Sozialpädiatrie (Carey, 1989; Straßburg, 1990) zwischen vier verschiedenen Klassifikationen von Schreien im Säuglingsalter:
- primär physiologisches Schreien, verursacht durch Schmerz, Hunger, erschreckenden Lärm, Folgen des Geburtsvorgangs, wechselnde Witterung und anderes
- primär pathologisches Schreien aufgrund schwerer ZNS-Erkrankungen oder Chromosomenanomalien, wie das "Katzenschrei"-Syndrom zum Beispiel
- sekundär (exzessives) Schreien aufgrund von vorübergehenden Erkrankungen
- primär exzessives Schreien, was auch chronische Unruhe genannt wird
Wir beziehen uns hier auf die zuletzt genannte Form des Schreiens bei Säuglingen.
Um „normale" von Schreibabys zu unterscheiden hat Wessel (Bensel& Haug, 1997) die „Regel der Dreien" aufgestellt, demzufolge ein Schreibaby mindestens drei Stunden am Tag, an mindestens drei Tagen der Woche, mehr als drei Wochen lang schreit. Diese häufig zitierte Regel scheint jedoch auch auf Widerspruch zu stoßen. Lehtonen zum Beispiel fand in der Literatur 27 verschiedene Defintionen exzessiven Schreiens. (Bensel& Haug-Schnabel, 1997)
Der Unterschied zwischen normalem und exzessiven Schreien ist recht willkürlich quantitativ bestimmt. Bislang konnte nicht belegt werden, daß es sich hier um einen qualitativen Unterschied handelt.
Nach Barr (1993) wird Schreien pathologisch
- aufgrund der Schreidauer
- wenn Schreien die Möglichkeit zur Interaktion verhindert und somit ein Risiko für den Bindungsprozeß und spätere Entwicklung darstellt
- wenn Therapie nötig ist, um Schlaf-, Verdauungs- und Erfahrungsdefizite zu verbessern beziehungsweise Verschlechterung zu vermeiden
- wenn Erwachsene einer bestimmten Kultur die Schreisituationen als nicht mehr tolerierbar bezeichnen.
Die unterschiedlichen Erfassungsmethoden wie Fragebogen, Tagebuchaufzeichnungen und Tonbandprotokolle, sowie die unterschiedlichen Erhebungszeiträume, Grenzwerte und kulturellen Besonderheiten erschweren eine zuverlässige Angabe über die Häufigkeitsverteilung des Scheibabysyndroms. Bensel& Haug-Schnabel (1997, S.721 ff) schließen aufgrund von internationalen Schreistudien auf eine Inzidenz von etwa 20% innerhalb der ersten drei Lebensmonate.
Vermutlich schreien die Säuglinge in traditionalen Gesellschaften wie bei den Eipo in Neu-Guinea, den !Kung in Südafrika und den Pygmäen im Kongo weniger. Belegt ist dies jedoch bislang nicht. Eine Studie über koreanische Säuglinge berichtet über keinen einzigen Fall exzessiven Schreiens und über generell weniger Schreien und Quengeln als in westlichen Ländern (Lee, 1994). Die Mütter reagieren nach eigenen Berichten fast immer auf die negativen Vokalisationen ihrer Babys und sorgen für viel Körperkontakt mit ihnen. Der präventive Aspekt des Körperkontakts in Bezug auf das Schreien ist hier nicht bewiesen worden, wird jedoch auch von anderen Autoren vermutet (siehe Kap.2.6.4.5).
Schreien ist das bei weitem häufigste Problem bei Säuglingen unter drei Monaten, was Eltern motiviert, ein klinisches Setting aufzusuchen (Stern, 1998, S.92). Nach Bensel& Haug-Schnabel (1997) ist es auch die häufigste Klage, die Eltern mit Neugeborenen beim Kinderarzt vorbringen.
Exessives Schreien trifft genau die unangenehmste Frequenz für das menschliche Ohr und ist nicht zuletzt deshalb ein großer Streßfaktor für die Betreuungspersonen. Für Eltern bedeutet der chronisch unruhige Säugling häufig
- eine Beunruhigung über den Gesundheits- und Ernährungszustand des Kindes
- eine massive nächtliche Ruhestörung
- eine starke Verunsicherung ihrer elterlichen Kompetenzen
- eine oft große Enttäuschung, da der Säugling nicht ihren Wunschvorstellungen entspricht
- Panik und Verzweiflung über die Folgeprobleme in Familie und Partnerschaft
Ein Baby, das sich durch nichts beruhigen läßt, löst in der Regel bei den Bezugspersonen zunehmend Erregung aus. Diese kann plötzlich in schwer kontrolliertbare, ohnmächtige Wut mit aggressiven Phantasien oder Fluchtgedanken umschlagen. Die Bezugsperson macht sich in Folge dessen häufig Selbstvorwürfe und hat Angst, ihr Kind nicht genug zu lieben. Der Widerstreit von Gefühlen, die durch exzessives Schreien heraufbeschworen werden, kann latente neurotische Konflikte in Bezug auf die Partnerschaft, die Beziehung zu den eigenen Eltern oder die eigene Rollenidentität aktualisieren und akute Krisen auslösen. (Papousek, 1995, S.11)
Direkt nach der Geburt ist es für alle Säuglinge typisch, daß die Schreimenge von Tag zu Tag stark variiert. Die Unruhezustände bleiben bis zum 5. Monat relativ stabil und nehmen dann bis zum Ende des ersten Lebensjahrs allgemein ab. Bei unauffälligen Säuglingen wurde in den ersten drei Monaten eine durchschnittliche Schreidauer von 1-2 Stunden registriert, bei Schreibabys dagegen 4-5 Stunden. Der Startzeitpunkt des exzessiven Schreiens wird meist in der zweiten Lebenswoche gesehen (Hewson& Menahem, 1987).
Bei „normalen" sowie „Schreibabys" sind die bevorzugten Unruhezeiten nach 17 Uhr. Neben dem Schreihöhepunkt ab 17 Uhr wurde eine weitere verstärkte Schreimenge in der sechsten Woche beobachtet (Bensel& Haug-Schnabel, 1997, S.727). Da diese Schreigipfel auch in traditionalen Gesellschaften wie bei den !Kung und den Manali zu finden sind, geht man davon aus, daß dieser Schreiverlauf universal ist und ohne externe Einflüsse entsteht.
Die angeborene Fähigkeit zu schreien ist ein biologisches Signal und dient dem Säugling als Alarmsignal zu seiner Existenzsicherung. Die Unruhezustände und das Schreien können jedoch auch chronisch werden. Diese Chronifizierung beginnt zumeist in der zweiten Lebenswoche (Hewson, Oberkaid& Menahem, 1987; Wessel et al., 1954) und wird nach dem dritten Lebensmonat zunehmend weniger. Mit Ende des ersten Lebensjahrs hat die chronische Unruhe einen stabilen Niedrigstand erreicht. Zwar gibt es auch ältere Säuglinge, die exzessiv schreien, aber nach dem dritten Lebensmonat nimmt das Schreien eine andere Qualität an. Eltern beklagen sich nicht mehr über die Schreidauer, sondern über den Kontext, in dem das Schreien auftritt. Der Begriff exzessiver Schreier soll nach Meinung der Autoren aus diesem Grund auf die ersten drei Monate beschränkt bleiben.
Da die Therapeutin Diederichs diese begriffliche Einteilung nicht vornimmt, werden wir im Folgenden auch bei älteren Säuglingen von exzessiven Schreiern sprechen.
Auffallend ist, daß die meisten Schreier nachts eine Schreipause von etwa acht Stunden einhalten (Bensel& Haug-Schnabel,1997, S.726). Außerdem setzen die Schreiphasen auffallend häufig sofort oder kurz nach den Stillzeiten ein. Wegen dieser Auffälligkeiten stellen die Autoren in Frage, ob es sich bei den Schreiern um eine eigene Kategorie von Säuglingen handele.
Bevor näher auf die Ursachen für exzessives Schreien eingegangen werden soll, stelle ich kurz die Faktoren dar, die keine Mitwirkung am exzessiven Schreien zu haben scheinen:
- sozioökonomischer Status der Familie (Lehtonen, 1994)
- Ausbildungsstand der Eltern (Lehtonen, 1994)
- Vorerfahrungen der Mutter (Lehtonen, 1994)
- Schwangerschafts- und Entbindungskomplikationen sowie Frühgeburten (Lehtonen, 1994)
- Geschlecht des Säuglings (Lehtonen, 1994)
- Unterschied zwischen brust- bzw. flaschengestillten Babys (Barr et al., 1991)
Zu dieser sicherlich noch verlängerbaren Liste möchte ich anmerken, daß hier jeweils monokausal nach Ursachen geforscht wurde. (Siehe Exkurs S.38) Betrachtet man einzelne hier aufgeführte Ursachen im Gesamtzusammenhang der Situation einer Familie, könnten sie...